An der Mane*
Die Pappel vor meinem Hause
hat hoch ihre Arme gestreckt,
und hat mir zur Abendstunde
so manchen Gedanken geweckt.
Mein Häuschen steht still an der Mane,
mein Bruder lebt fern im Altai,
die älteste Schwester Marianne
an der Grenze der Mongolei.
Ich hab einen guten Kameraden,
mit dem ich die Schulbank gedrückt.
Er hat mir ein Brief vom Urale –
den ersten seit Jahren – geschickt.
In Karaganda in den Schachten
mein Onkel schon lange verweilt.
In Omsk, in Akmolinsk, in Frunse
sind drei meiner Tanten zerstreut.
Bekomm ich sie nochmals zu sehen?
Wer weiß es? Wohl kaum. Es ist weit.
Warum können wir in der Heimat
nicht weilen, wie andere Leut?
So sitz ich im Schatten der Pappel
und denk in den Abend hinein.
Zwar leb ich nicht schlecht an der Mane,
doch ist es nicht so, wie daheim.
Dominik Hollmann
*Mane, Nebenfluss des Jenisseij


Dominik Hollmann wäre im August dieses Jahres 120 Jahre alt geworden. Geboren ist er an einem anderen Fluss: an der Wolga in der Stadt Kamyschin. Viele seiner Gedichte entstanden in der Verbannung in Sibirien, er hat sich Zeit seines Lebens für die Wiederherstellung der deutschen Republik an der Wolga eingesetzt. Als Lehrer und Literat hat er trotz Zensur und zeitweiligem Schreibverbot die Kultur und das Schrifttum der Deutschen in der Sowjetunion gefördert. Er starb 1990 in seiner Heimatstadt Kamyschin, wohin er am Ende seines Lebens doch noch gezogen ist.
Das Gedicht stammt aus seinem Buch Ich schenk dir, Heimat, meine Lieder, das demnächst eine Neuauflage erfährt.
Ich schenk dir, Heimat, meine Lieder, Gedichte, Dominik Hollmann. Kamyschin, 1998. – 192 Seiten