MADONNA
Kapelle irgendwo im tiefen bayern an der
grenze zu österreich. salzburg. madonna
der straßen, das gebet eingerahmt an der
wand. porträts drunter: drüber: gefallen in
russland 1916/17. joseph, johannes. 1943.
paul, sepp. soldaten und gefreiter der ersten
kompanie. was haben sie verloren in den
untiefen russlands, im schlund des roten
drachen der bolschewiken? hatten sie ein
gefallen an dem land von puschkin, tolstoi,
elisabeth II? was haben sie da verloren außer
leben, vaterhaus, muttererde: für den kaiser &
den engel aus dem abaddon*? ich bin halbes
jahrhundert danach in deutschland gelandet,
in der nähe der madonna der straßen, was
hat mir gefallen in deutschland, dem land
von heinrich kleist & andreas gryphius? ich
frage mich: was habe ich hier verloren: die
heimat, die sprache, die vorfahren, die mir
die vorfahrt nahmen? was habe ich hier
gefunden als verlorener sohn? ja, ich lebe &
leibe, mal beseelt, mal entgeistert. werde ich
jemals vermisst? ich hätte die madonnina
fragen können, ich habe geschwiegen. sie
auch. nur das gebet an der wand bleibt – ein
gedicht oder das gedicht buchstabiert das gebet
& wird handgemalt von roberto ferruzzi für
die gefallenen: kinder der straßen & engeln.
Andreas Peters
(*abbadon = Apokalypse: Abgrund)