Die Ehre des Ilja Ehrenburg

Ilja ehrenburg am Schreibtisch
Ilja Ehrenburg – foto: röhnert/sz-photo/picturedesk.com

Da hab ich einen gehörigen Schrecken bekommen. Im Freitag erschien letzte Woche eine Rezension zu einem Roman des russischen Autors Ilja Ehrenburg. Das erste Buch seit langem, das von ihm in Deutschland herausgebracht wurde, obwohl dieser Vielschreiber einen ziemlichen Namen in Russland hatte.

Mir kommt der Name auch irgendwie bekannt vor.

Plötzlich weiß ich, wer das war.

War das nicht der Ehrenburg, dessen Worte während des  zweiten Weltkriegs durchs Radio schallten: Töte den Deutschen!

Und hier erscheint er als ein Autor, dessen Roman „Das bewegte Leben des Lasik Roitschwantz“ aus dem Jahr 1928 vorgestellt wird, als wäre es ein frühes Werk von Bulgakow.

Ein Ausschnitt aus einem anderen Buch von Ilja Ehrenburg mit dem Titel „Krieg“ soll angeblich als Flugblatt unter den Soldaten der roten Armee verteilt worden sein.

…Wenn du im Laufe des Tages keinen Deutschen erschlagen hast, ist das ein verlorener Tag.
Es gibt’s nichts schöneres als deutsche Leichen…heißt es da.

Angeblich. Denn dieses Buch von Ehrenburg hat es vermutlich nie gegeben. Ein Flugblatt mit dem Titel „Ubej!“ (deutsch: Töte!) , vom 24. Juli 1942 und dem obigen Zitat gab es dagegen schon. Es beginnt mit Ausschnitten aus den Briefen deutscher Soldaten in die Heimat, die den russischen Untermenschen verunglimpfen.

Es kursieren viele nicht belegte Zitate im Netz, die von Ehrenburg stammen sollen und die sich anhören wie der Aufruf zum Völkermord. Möchte ich hier nicht wiedergeben, nein wirklich nicht.

Unter diesem Gesichtspunkt ist eigentlich unfassbar, dass es in Rostock eine Ilja-Ehrenburg-Straße gibt. Heiß umstritten. Aber noch da. So als gäbe es eine Uliza Goebbelsa in Rostow am Don oder Ekaterinburg. Oder hinkt der Vergleich? Eine Gruppe von Friedenskämpfern und Antifa-Vereinigungen verteidigen diese Namensgebung jedenfalls und halten viele der ihm zugesprochenen Zitate für reine Nazipropaganda.

Aus meiner Lektüre weiß ich, dass die Nationalsozialisten Übergriffe, die zugegebermaßen brutal waren, ins Unvorstellbare aufgebauscht und angstmachende Hasspredigten in Umlauf gebracht haben, die aus Russland stammen sollten. Für sie war die Vorlage von Ehrenburg ein gefundenes Fressen. Ihnen war jedes Mittel recht, um die Rotarmisten ihrerseits zu entmenschlichten Bestien zu machen. Siehe die Berichte über das Massaker von Nemmersdorf.

Ich bin die letzte, die das gewaltsame Vorgehen der russischen Armee im Osten Deutschlands leugnet, aber in vielen Dörfern haben sich die Menschen reihenweise selbst umgebracht, bevor der Feind einrückte. Die Panik war immens, was zum großen Teil dieser entgrenzten Berichterstattung geschuldet war. Ich verweise hier auf die Lektüre des preisgekrönten Buches des polnischen Journalisten Wlodimierz Nowak „Die Nacht von Wildenhagen – zwölf deutsch-polnische Schicksale“ erschienen im Eichbornverlag 2009. Und insbesondere auf die zweite, namensgebende Geschichte daraus.

Und nun denk ich, dass das alles auch ganz anders gewesen sein kann.

Spiralen der Panikmache. Unentwirrbar verwoben. Wer hat wen benutzt für seine Propaganda? Hat sich Ehrenburg von Stalin und der ZK einspannen lassen und ist mit seinen Tiraden über alle menschlichen Grenzen gegangen? Oder wurden ihm von den Nazis Sätze zugeschrieben, die er niemals so verfasst hat? Goebbels hat Ehrenburg als Stalins Hofjuden bezeichnet. Fakt ist: Ilja Ehrenburg wurde im Zuge der Kampagne gegen die Kosmopoliten, wie das Stalin-Regime Ende der Vierziger seine antisemitische Politik umschrieben hat, selbst verhaftet und ins Gefängnis gesteckt. Nach kurzer Zeit wurde er begnadigt und hat danach seine Karriere im Schriftstellerverband fortgesetzt.

Doch dann finde ich den folgenden Vermerk auf einer russischen Biografie-Site über Ehrenburg:

’14 апреля 1945 г. в газете «Правда» появилась статья заведующего отделом пропаганды ЦК ВКП(б) Г. Александрова «Товарищ Эренбург упрощает», в которой писателя обвиняли в разжигании ненависти к немецкому народу без учета того, что в нем имеются прогрессивные элементы.‘

‚Am 14. April 1945 ist in der Zeitung Prawda ein Artikel von G. Aleksandrow von der Propaganda Abteilung ZK WKP (b) mit dem Titel ‚Der Genosse Ehrenburg vereinfacht‘ erschienen, in dem der Schriftsteller angeklagt wird, Hass auf das deutschen Volk entfacht zu haben ohne Rücksicht darauf zu nehmen, dass sich in diesem auch progressive Elemente befinden.‘

Es scheint sogar für ZK Propaganda übers Ziel geschossen zu sein. Aber in welchem Maße? Ich weiß nicht, ob er sich jemals von seinen Aussagen offiziell distanziert hat.

Erhard Sanio schreibt dagegen auf der Site Holocaust-Referenz über Ilja Ehrenburg:

Um eines klarzustellen: Der angebliche Aufruf Ehrenburgs, deutsche Frauen zu vergewaltigen, ist wahrscheinlich im November 1944 vom Reichspropagandaministerium fabriziert und in einem Tagesbefehl des AOK Nord sowie vom Stab Dönitz verbreitet worden, und zwar stets als Zitat, in indirekter Rede und als Berufung auf ein angebliches Flugblatt oder in einigen Versionen als einen angeblichen Artikel in der Prawda oder der Krasnaja Svjesda.

Und weiter schreibt Sanio:

Ehrenburg hat während des Krieges eine Reihe von Aufrufen an die Rote Armee verfasst. In einigen davon hat er in bedenklicher Form zu Hass und zum Töten der Eindringlinge aufgerufen. Darin fanden sich so wenig geschmacksfeste Formulierungen wie: “ .. Für unsere Soldaten gibt es nichts Lustigeres als deutsche Leichen ..“, wobei sich all dies aber unmissverständlich auf die eingedrungenen Soldaten bezog und nicht auf irgendwie geartete Pläne der Eroberung des Reiches. Überdies war der Aufruf „Töte“ nicht schlimmer als andere blutrünstig-patriotische Aufrufe in anderen Ländern zu ähnlichen Gelegenheiten. (…) Der Aufruf war entstanden unter dem Eindruck der ersten Wochen des deutschen Überfalls und der unglaublichen Massenmorde an sowjetischen Juden, über die Ehrenburg zusammen mit Vassilij Grossmann das (erst vor kurzem veröffentlichte) Schwarzbuch mit Zeugnissen von Augenzeugen über die Verbrechen niederschrieb.

Einfach lässt sich die Frage wohl nicht beantworten, ob er ein Hassprediger war oder fälschlicherweise dazu gemacht wurde. Er kannte Deutschland. In den zwanziger Jahren war er hier gewesen und in Paris übrigens auch und später auch in Amerika. Die Folgen, die seine Worte entfesselten, mag er selbst nicht für möglich gehalten haben. Mich hat die Rezension jedenfalls ziemlich durcheinander gebracht. Zumal ich weiß, dass auch die Deutschen, die innerhalb Russlands deportiert und in den Sklavendienst der Trudarmia gesteckt wurden unter dem Hass, den seine Worte in der Bevölkerung auslösten, gelitten haben. Obwohl Ehrenburgs Pamphlete sich immer gegen die Soldaten, die Russland überfielen gerichtet haben sollen, niemals gegen Zivilisten.

Mein Verhältnis zu Ilja Ehrenburg bleibt zwiespältig. Es heißt, im hinteren Teil des Buches wäre eine längere biografische Sequenz. Ich frage mich, wie dort Ehrenburgs Rolle in diesem Propagandafeldzug behandelt wird. Aber ich werde nicht soweit gehen, das Buch zu besorgen. Noch nicht.

Noch in den Sechzigern hat das Erscheinen von Ehrenburgs Biografie in der BRD einen Sturm der Empörung ausgelöst, schreibt der Rezensient im Freitag. Und 2016?

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