Bisher sind die Russlanddeutschen politisch kaum aufgefallen. Dieses Jahr wurden einige von ihnen in Demos aktiv. Mir sind die Sprüche aufgefallen, die sie vor sich her tragen und ich möchte sie näher betrachten. Leben ohne Angst! Wir wollen Sicherheit! oder Schützt unsere Frauen und Kinder! – wo kommen diese Sätze her?

Auf einem der Transparente während einer Demo von Russlandeutschen im Januar stand: LEBEN OHNE ANGST
Leben ohne Angst – also das ist es, was sie wollen. Unbewiesene Behauptung meinerseits: die Ängste, die diese Menschen plagen, kommen aus ganz tiefen Schichten. Und haben wenig mit einer reellen Bedrohung durch Flüchtlinge zu tun.
Politische Unzufriedenheit, ja, aber wieso gehen die Russlanddeutschen gerade bei der (vermeintlichen) sexuellen Bedrohung auf die Straße?
Sabine Arnold von der evangelischen Sinnstiftung aus Nürnberg (einer Seelsorgeeinrichtung extra für Russlanddeutsche) hat neulich im Radiointerview kluge Dinge gesagt, unter anderem, dass Aussiedler aus einer inneren Lebensunsicherheit, verursacht durch die eigene Migration, nach äußerer Sicherheit rufen.
Stimmt.
Es ist wohl auch so, dass eine Minderheit sich bedroht fühlt, wenn eine neue Minderheit ins Land kommt.
Stimmt auch.
Und die Menschen wurden von einseitiger Berichterstattung aufgewiegelt.
Auch das ist wahr.
Ich gehe noch weiter und behaupte: die Emotionen, die da hoch kochen, gehen auch auf lang vergessene und vergrabene Traumata zurück, die in den Familien schwelen und so nach außen treten. Leider wird dieser Aspekt nicht so recht berücksichtigt.
Warum?
Vielleicht, weil die Akteure ihn selbst ganz weit von sich weisen würden? Ich höre es förmlich.
Wir, traumatisiert? Durch die Vergewaltigungen unserer Großmütter und Urgroßmütter? Geh mir weg mit diesem Psychoscheiß.
Dann sich lieber den Vorwurf von Rassismus gefallen lassen.
Halten wir fest:
In jeder russlanddeutschen Familie gab es in der Vergangenheit Opfer von Vergewaltigungen. Wir brauchen nur zwei Generationen zurück zu schauen.
Als zivile Kriegsgefangene haben besonders Frauen und Mädchen die Wut und Willkür der Siegermacht erfahren.
Sie waren den Übergriffen schutzlos ausgeliefert und bis heute wird nicht öffentlich darüber gesprochen. Die Vorfälle wurden über Jahrzehnte hinweg verschwiegen. Zum Teil sogar in den Familien selbst nicht weitergetragen. Zumindest nicht offen. Verdeckt hat sich dieses kollektive Trauma in die Seelen gesenkt und tritt bei solchen Gelegenheiten wie Schlacke nach außen.
Aber das ist nur meine Meinung, mein Verdacht. Als bloggerin darf ich ja ich sagen, ich, ich, was ich denke, was ich vermute. Bin nicht an stichhaltige Beweise gebunden. Und diese Momente lassen sich auch nicht beweisen, wenn es keine weiteren soziologischen oder psychologischen Studien zu diesem Thema gibt.
Auf einem anderen Transparent steht: WIR LEBEN IN EINEM LAND, WO DIE MONSTER FREI SIND.
Wohl war. Doch es sind die Monster aus den Tiefen der Seele. Wenn wir auf sie hören, werden sie uns sogar etwas mitteilen. Und das ist nicht im esoterischen Sinn gemeint – à la Ghostwhisperer oder Geisterséance. Ich glaube, dass diese Sätze nicht von ungefähr auftauchen, sondern mit den kollektiven Erfahrungen zu tun haben, die diese Bevölkerungsgruppe gemacht hat. Oder ihre Ahnen. Aber ich wiederhole mich. Ich kann mich nicht oft genug wiederholen.
‚Bisher sind Russlanddeutsche als Gruppe politisch nicht in Erscheinung getreten‘, sagte neulich Jannis Panagiotidis Juniorprofessor für ‚Russlanddeutsche Migration und Integration‘ in Osnabrück in einem Interview mit der ZEIT. Und in einem anderen Interview meinte er zu den Demos: ‚Dort lief durchaus ein Querschnitt der Comunity mit. Nicht nur junge Hitzköpfe.‘
Unauffällig – auffällig, so auch das Motto der Pressekonferenz der Landsmannschaft der Deutschen aus Russland am 4. Februar in Berlin zum Fall Lisa.
In Deckung bleiben, war die Strategie bisher, aus historisch bekannten Gründen.
Doch wenn ein neuralgischer Punkt berührt wird, wie diese Vergewaltigungsstory, die sich als unwahr entpuppt, dann gerät plötzlich was in Bewegung. Übrigens hat die polizeiliche Aufklärung der Geschichte um Lisa Was auf das Grundproblem keine Auswirkung. Die Verunsicherung sitzt viel tiefer. Das Verschweigen und Vertuschen der Gewalt gegen deutsche Frauen in Russland, damals, viel früher, greift viel weiter. Wie ein Wurzelwerk. Wir sehen nur den Baum. Und können nicht verstehen, wieso seine Blätter sich zusammenkrümmen.
Warum stürzen sich die Aussiedler (nicht alle, aber eine wahrnehmbare und von den Medien wahrgenommene Gruppe) genau auf dieses Thema?
Auslöser:
Sexuelle Gewalt gegen ein Mädchen, unser Mädchen.
Und die angebliche Vertuschung durch die Staatsmacht.
(Nicht nur ich, auch:)
Die Vergangenheit neigt dazu, sich zu wiederholen.
Die Vergangenheit neigt dazu, sich zu wiederholen.
Die Vergangenheit neigt dazu, sich zu wiederholen.
Die Vergangenheit neigt dazu, sich zu wiederholen.
Die Vergangenheit neigt dazu, sich zu wiederholen.
Die Vergangenheit neigt dazu, sich zu wiederholen.
Die Vergangenheit neigt dazu, sich zu wiederholen.
Die Vergangenheit neigt dazu, sich zu wiederholen.
Die Vergangenheit neigt dazu, sich zu wiederholen.
Die Vergangenheit neigt dazu, sich zu wiederholen.
Die Vergangenheit…
Und das, was sich wiederholt, sind Muster.
Muster, die sich ergeben und die alte Wunden aufreißen. Bilder, die hängenbleiben:
a) Erwachsene Männer vergewaltigen ein wehrloses Mädchen.
b) Eine Frau soll halb nackt durch die Straßen flüchten. (Ausspruch eines Anwalts, der das unserer Bundeskanzlerin wünscht.)
c) Kinder, die abgegriffen und von Fremden mitgenommen werden.
d) Reelle oder empfundene Willkür des Staates: falsche Berichterstattung, Vertuschung, ungerechte Behandlung.
Die Verletzungen aus der Vergangenheit treten durch diese Muster zutage, klopfen an die Tür, wollen angeschaut werden. Monster im Kopf.
Gehen aber leider im rassistischen Hetzgeschrei unter. Schade eigentlich.
Worauf gründen diese Bilder? Wo kommen diese Traumata her? Die jüngsten Massen-Deportationen an Russlanddeutschen begannen 1941. Verfolgungen gab es schon Jahrzehnte vorher. Aber auch die massiven sexuellen Übergriffe? Wann waren sie am stärksten? Wohl eher nach dem Krieg, nach 1945? Als die Angehörigen der Verlierernation den Siegern schutzlos ausgeliefert waren. Wann hörte das wieder auf? Ende der Fünfziger? Vielleicht.
Schuld und Sühne, das bei Dostojewskij eigentlich Verbrechen und Strafe heißt. Die Schuld, das Unrecht dieser Jahre ist nicht gesühnt, ist nicht getilgt, wurde noch nicht einmal zur Kenntnis genommen. Die Geister bleiben unruhig.
Wenn wir genauer hinsehen, hinter das Offensichtliche, taucht zwischen den Demonstranten das Gesicht der wütenden Frau auf, die verletzt an Körper und Würde zur Furie wird, mit aller Macht aus dem Dunkel des Unbewussten. Sie schreit nach Vergeltung. Benebelt die Sinne.
Ihr ist es egal, gegen wen sich die Wut richtet. Sie sieht nicht, ob Unschuldige getroffen werden.
Was können Flüchtlinge dafür?
Nichts.
Aber auch dieser ganze Komplex der Flucht holt alte Bilder und alte Ängste herauf. Und – Russlanddeutsche haben definitiv ihre Erfahrungen mit Flucht gemacht. Ihre Hausaufgaben, wie es so schön heißt. Mit Propaganda übrigens auch, müsste man meinen.
Und zusammen ergeben die alten Bilder, die die neuen Bilder überlagern einen gefährlichen Molotov-Cocktail. Kein Wunder, dass die Lage so eskaliert ist. Dass alle Akteure so vehement auftreten.
Was können wir tun?
Darauf warten, dass von offizieller Seite eine Geste der Versöhnung, der Sühne kommt? Nein. Nicht unter den gegebenen politischen Umständen. Nicht mit einem neuen kalten Krieg, den beide Seiten beschwören.
Wir können den Schleier des Vergessens niederreißen, die alten Wunden betrachten, der Opfer gedenken und hoffen, dass ihre Seelen endlich Frieden finden.
Wie?
In einem persönlichen Ritual?
Mit einer Geschichte? Einem Film? Mit gemalten Bildern? Einem Song?
Oder mit einem Denkmal, das die Opfer ehrt. Ganz öffentlich.
Auf den Fall einer angeblichen Vergewaltigung kommen unzählige wirklich verübter Gewalttaten. Es gibt Denkmäler für Kriegsopfer, für Opfer von sexueller Gewalt bisher aber nicht. Oder?