
Eine Ukrainerin gewinnt den European Song Contest 2016. Vor dem russischen Favoriten. Doch nicht das allein besitzt für mich Brisanz, sondern vor allem, dass sie mit einem Lied namens „1944“ auf die Bühne geht, das die Vertreibung der Krim-Tataren durch Stalin thematisiert – und damit den ersten Preis macht.
Ohne übertriebene Lightshow, ohne halbnackte Tänzer. Sie tritt in einem schlichten blauen Hosenkleid auf und bewegt sich mit eindringlichen Gesten. (Die Lichteffekte waren schon stark, aber sie haben sie nicht in den Hintergrund gedrängt oder eine schwache Performance übertüncht, so meine ich das.)
Statt Liebesschnulzen und rockigen Egoshooter-Songs kommt 2016 die vertonte Aufarbeitung einer stalinistischen Deportation auf den ersten Platz. Gekonnt und ohne Gejammer vorgetragen, wenn auch nicht ohne Pathos und mit Tränen in den Augenwinkeln. Mich berührt das, wohl auch weil meine eigene Familie väterlicherseits 1941 genau aus dieser Region vor Stalin geflohen ist und später ebenfalls deportiert wurde. Es ist ein universelles Thema. Leider. Und auch noch heute immer aktueller denn je. Gleich die ersten Zeilen haben mich gepackt und auch die tatarischen Spracheinsprengsel gehen mir nah, auch wenn ich davon nichts verstanden habe und die Melodie sowieso. War sie authentisch? Ich glaube ja. Geht das Thema auch mit weniger Pathos? Ich glaube nein.
Es ist wohl generell untersagt, politische Inhalte in diesem Zusammenhang zu bringen. Aber da Jamala die Geschichte ihrer Urgroßmutter verarbeitet hat, persönlich und ohne zu deutliche politische Bezüge, entspricht das Lied den Regeln des ESC, auch wenn es von Anfang an umstritten diskutiert wurde.
Direkte Bezüge zu aktuellen politischen Vorkommnissen sind in dem Text wohl nicht zu finden.
Der Spiegel online schreibt heute: Doch in so aufgeheizten Zeiten in Europa kann der ESC unmöglich unpolitisch sein.
Wir dürfen auf den nächsten Contest in Kiew gespannt sein. Mal sehen, wie viele politische Inhalte sich zwischen Pailletten und Popklänge quetschen lassen. Unaufgearbeitete Themen gibt es genug.
Bemerkenswert ist die Tatsache, dass die beiden Länder, Ukraine und Russland sich dieses Jahr nicht abgestraft haben: die Ukraine gab dem russischen Kandidaten die ganze Punktzahl, das russische Publikum, anders als die russische Jury übrigens, dieser nicht sehr leichten Darbietung immerhin 10.
Ebenfalls bemerkenswert: die Sängerin wird Ukrainerin genannt. Das finde ich auch gut. Keiner sagt: Kirgisin mit Krim-tatarischen Wurzeln. Oder Tatarin mit ukrainischen Wurzeln. Denn Susana Jamaladinova ist Anfang der achtziger in Kirgisien zur Welt gekommen und ist mit ihrer Familie erst nach dem Ende der Sowjetunion auf die Krim zurückgekehrt. Oder noch schlimmer: Ukrainerin mit Migrationshintergrund. Das wäre falsch und ein Hohn sondergleichen. Denn Hey, waren die Tataren nicht noch vor den slawischen Völkern auf der Krim?
Schade, jetzt wünschte ich, ich wäre gestern doch bis zum Schluss aufgeblieben. Heute morgen bin ich aus allen Wolken gefallen, als ich davon erfahren habe und hab gleich beschlossen, damit meine längere Pause vom Blog zu brechen.
Lustig, die ersten Kommentare im Netz: Boykotiert den nächsten Song Contest!!! Das ist keine Show, das ist Politspektakel!
Oh, glaub mir lieber Albert Zweistein, jetzt erst recht!!! Armenien hätte da auch noch ein Liedchen zu singen, und Polen, und Lettland und Litauen und ach, alle haben sie doch ihre Gespenster, die an der Türschwelle kratzen.
Jamala polarisiert mit ihrem Song. Mensch. Was will man mehr? Das Lied an sich hat die Gegner musikalisch nicht überzeugt? Naja, gibt schlimmeres oder? Und sie wittern proamerikanische und Putin-feindliche Propaganda? Uuups. Dann haben sie sich wohl mit der Geschichte der Krim nicht so ganz auseinandergesetzt. Aber auf Wildwuchs-Leser*innen-Kommentare aus dem w.w.w. darf man eh nichts geben.
Millionen Anrufer und Anruferinnen haben gewählt und diesmal bin ich mit dieser Wahl einverstanden.