Als Jewgenij Samjatin, der Autor des dystopischen Romans „Wir“ 1930 aus der UdSSR nach Paris flieht, vermerkt er in sein Tagebuch, dass er nur zwei Bücher mithabe: Helene Molochowetz und Puschkin. Puschkin kennen wir. Aber wer ist diese Elena oder Helene Molochowetz und was macht ihr Werk so besonders?
Nun. Vielleicht hilf dieses Zitat weiter:
Die erste bekannte schriftliche Erwähnung eines Rinderfilet Stroganoff (als Gowjadina po-strogonowski) erfolgte durch Jelena Molochowetz in der 1871er Ausgabe ihres russischen Kochbuchs Podarok molodym chosajkam („Geschenk für junge Hausfrauen“). Dort ist das Gericht als eine Art Ragout mit einer auch Schmand enthaltenden Senfsauce beschrieben. Es lässt sich wohl nicht mehr feststellen, wer das Rezept wann erdacht hat.
Der in St. Petersburg tätige Küchenchef Charles Brière stellte das Boeuf Stroganoff 1891 bei einem Kochwettbewerb in Paris vor. In der Folge wurde es zu einem Klassiker der internationalen gehobenen Gastronomie. Zur Bekanntheit in der breiteren deutschen Öffentlichkeit auch abseits der gehobenen Gourmandise trugen Clemens Wilmenrod und Johannes Mario Simmel (durch die Beschreibung im Roman „Es muß nicht immer Kaviar sein“) bei.
So gefunden im Lexikon deutscher Frauen der Feder.
Wir wissen, wie Helene Molochowetz aussah. Ungefähr so:

Geboren wird sie 1831 als Elena Iwanowna Burman in Archangelsk, früh verwaist, absolviert sie mit 17 das Smolnij Institut in St. Petersburg, eine bekannte Schule für höhere Töchter. Kurz darauf heiratet sie den Architekten Franz Franzewitsch Molochowetz, bleibt Zeit ihres Lebens bekennende Protestantin und Monarchistin, wird Mutter von zehn Kindern (acht von ihnen sollen noch vor ihr sterben) und Autorin des wohl bekanntesten Kochbuches der russischen Küche.
Naja, als sie älter ist, verfasst sie noch dubiose Broschüren zu national-spiritistisch-religiösen Themen. Aber die gehen aus irgendeinem Grund irgendwie unter. Sie stirbt unter unbekannten Umständen in den Wirren der Revolution in St. Petersburg. Verarmt. Vermutungen gehen sogar soweit, dass die Herausgeberin und Verfasserin des bekannten Kochbuches verhungert sei.
Trauriges Kapitel. Doch zurück zum Buch an sich. Ein dicker Schinken von satten 700 Seiten. (Verzeiht meine billigen Metaphern, kann mich nicht zurückhalten) 1861 erstmalig herausgebracht. Da war sie dreißig, lebte mit ihrer Familie noch in Kursk, später zieht sie nach St. Petersburg. Das Geschenk enthält fünf Register aus 800 Mittagen, von bis. Vom einfachen Armer Ritter bis delikaten Wildgerichten. Plus 2000 Angaben der Zubereitung verschiedener Wirtschaftsvorräte, also Haltbarmachung von Lebensmitteln. Unter anderem beschreibt sie Beispiele französischer und russischer Küche aber auch deutsche Gerichte. Wie konnte eine junge Frau, die mit 17 die Mädchenschule verließ, um zu heiraten innerhalb von 13 Jahren so eine Sammlung anlegen? Nebst Kinderkriegen? Wie konnte sie mit knapp dreißig genug Kocherfahrung ansammeln, um diesen Wälzer herauszubringen, protestantisch sparsam, sättigend. Rubelgenau.

Die erste deutsche Ausgabe übersetzt sie 1877 kurzerhand selbst. Was für eine Powerfrau, möchte ich denken. Heute kostet ein antiquarisches Exemplar des deutschen „Geschenks“ mehrere hundert Euro.

Oder hat sie das Buch am Ende nicht ganz allein geschafft? Zumindest nicht mehrere hundert verschiedene Gerichte selbst in ihrer Laborküche erprobt. Aber das werden wir vermutlich nie erfahren. Andererseits, es gibt solche Leute. Mit viel Sitzfleisch und Sinn für methodisches Arbeiten. Was ich mir allerdings eher vorstellen kann, ist, dass irgendeine Tante, irgendeine oder mehrere Köchinnen sie dabei unterstützt haben. Vielleicht sogar die Großmutter Burmann, die Mutter ihres Vaters, die sie nach dem Tod der Eltern unter ihre Fittiche genommen hat. Doch das sind nur Spekulationen meines überhitzten Gemütes. Vielleicht gab es da ein Familienrezeptbuch, auf das ihre methodische Arbeit fußte?
Und selbst wenn, trotz allem hat diese Frau eine großartige Leistung vollbracht und eine Spur in Russland hinterlassen. Als eine der wenigen Deutschen.
Bei den Nachspeisen ist mir ein Nachtisch aufgefallen, der modern klingt, Gefrorenes Tutti Frutti. Mich hat nur gewundert, wozu die 6 Kilo Salz gebraucht werden, ist ja schießlich eine Nachspeise. Aber ja, gestoßenes Eis und Salz benutzt die junge Hausfrau zum Haltbarmachen bis die erlauchten Gäste kommen und das Eis genießen, das in Schalen aus gefrorenem Wasser liegt. Das habe ich soweit kapiert, aber: Wo kriege ich heute Pomeranzenwasser her?

Wie dem auch sei, dieses Kochbuch war lange Zeit der Renner bei den jungen und weniger jungen russischen Hausfrauen. Im sowjetischen Russland galt das „Geschenk“ als Höhepunkt kulinarischer Dekadenz, doch nach dem Zerfall der Sowjetunion 1986 wird das Kochbuch in Russland wieder gedruckt. In St. Petersburg haben fünf Frauen sogar ein Restaurant eröffnet, das wohl Molochowetz oder Molochowetz‘ Traum heißt und ausschließlich Speisen aus dem „Geschenk für die junge Hausfrau“ anbietet.


In Abschluss ihres Vorwortes schreibt Elena Molochowetz:
“ Um sich davon zu überzeugen, daß die von mir angegebenen Portionen für 6 Personen hinreichend sind, ersuche ich jede Hausfrau zur Probe 3-4 Speisen zu wählen und sie in ihrer Gegenwart zubereiten zu lassen. Wenn ein kleines Mittag- oder Abendessen veranstaltet werden soll, kann man nach diesem Buche mit Rücksicht auf die Preise des betreffenden Wohnortes die Kosten annähernd vorausbestimmen.“
Und ich dachte, ich soll jetzt selbst an den Herd! Ok. Das wären pro Mahl 1-2 Silberrubel. Doch eine letzte Frage bleibt: Wo krieg ich nun das vermaledeite Pomeranzenwasser her? Habe nachgeschaut: Es ist schlicht Bitterorangen-Likör.
Übrigens wird Kaviar doch erwähnt. Und zwar u.a. auf Seite 359 im Zusammenhang mit den russischen Pfannkuchen Nr. 862:
Man reicht ganz frische geschmolzene Butter, saure Sahne und Caviar dazu.
Beim durchscrollen dieser Speisenzusammenstellungen (ich habe das Buch als PDF vorliegen, nicht als antikes Prachtstück) kann ich gut verstehen, dass der oben genannte Schriftsteller das dicke Buch mit ins Exil geschleppt hat. Denn geben uns nicht Gerichte der Kindheit und andere kulinarische Gewohnheiten auch sowas wie ein Heimatgefühl?
