…sondern steh einfach auf und lauf los! Der russische Beitrag zum diesjährigen ESC stammt von Manizha und heißt „russian woman“. Es ist schon erstaunlich, dass das russische Imperium so eine Gesandte auf eine europäische Bühne entlässt. Die Sängerin ist die Tochter einer alleinerziehenden Mutter, die als Flüchtling aus Tadschikistan nach Moskau kam. Sie ist Feministin und setzt sich in einer eher homophoben Gesellschaft für die Belange von LGBTQ Menschen ein. Ihre Selbstverständlichkeit, den Begriff der der russischen Frau von dem traditionellen und nationalistischen Bild zu lösen, dürfte nicht allen politischen Kräften in Russland gefallen haben. Zumindest den konservativen, nationalen und homophoben nicht.
Möglicherweise will die Regierung im Kreml sich liberaler und weltoffener gebärden als sie ist. Oder sie halten den Contest für unwichtig und die Botschaft, die von ihm ausgeht für harmlos.
Die Journalistin Katja Garmasch schreibt dazu auf ihrem FB-Account: Schon im Vorfeld gab es Unmengen Unmut in klassischen und digitalen Medien – die Tadschikin sei nicht russisch genug um über russische Frauen zu singen, ihre Stimme nicht gut genug, ganz geschweige von diesem Äußeren, ihre feministische Lyrics gehen gegen alle russische Werte, und die Musik gegen alle russische Harmonien. Es gab sogar eine Klage von Veteranen-Verein (und die sind in Russland heilig) und ich dachte schon: Nie wird diese Frau nach Rotterdam schaffen! Und doch, steht nun diese unrussische unschöne Frau in unfraulichem Outfit auf der ESC Bühne, singt darüber, dass die Frauen auf die Erwartungen der Gesellschaft scheißen sollen und lässt auch noch im Hintergrund ein Chor von Journalistinnen, Bürgerrechtlerinnen, Unternehmerinnen und anderen regierungskritischen Frauen, gegen den Chauvinismus ansingen so, dass man denkt: Moment mal, war das mit Putin abgesprochen?! Sie wird doch gleich von der Bühne abgeführt!
Das offizielle Video polarisiert: hat heute über 300.000 Likes, und fast 180.000 Dislikes.
Der Veteranen-Verein konnte sich diesmal wohl nicht durchsetzen, Manizha wurde nominiert und nach Rotterdam geschickt.
Sie tritt zunächst in traditionell wirkenden, kaftanähnlichen Gewändern auf, wirft sie bald ab, darunter kommt ein Jumpsuit in Rot zum Vorschein – nicht gerade Glamour, keine Pailletten, nichts Figurbetontes, und gerade deshalb so stark. Das Outfit erinnert eher an eine Arbeiterinnenkluft, Klamotten mit denen frau malochen geht und sicher nicht in die Chefetagen und wenn, dann als Mitarbeiterin einer Reinigungsfirma. So wie das Kostüm ist auch die musikalische Kombi aus Hiphop und einem traditionell klingenden Chorus, ein Mix aus Tradition und Moderne. Mit einer klaren Botschaft. Hier ein Clip des Auftritts am 18. Mai in Rotterdam. Die Lautsprache-Übersetzerin scheint offensichtlich genauso viel Spaß zu haben: https://youtu.be/Cn38A8iUTxc
Alles an dem Auftritt ist stimmig, ein Statement, alles ein Spiel mit wechselnden Paradigmen. Ein kraftvoller und empowernder Song über „rashn women“, mit der Botschaft, lass dir nichts sagen, hab keine Angst, bitte nicht, sondern geh einfach deinen Weg.
Worauf wartest du: Steh auf und geh los! Die Liedzeile ist wohl einer der Sprüche ihrer Mutter gewesen, die auch die Managerin von Manizha ist.
In einem Interview sagt die Interpretin, ob sie gewinnt oder nicht, ist nicht wichtig, die Botschaft findet auch so ihren Weg. Es würde mich nicht wundern, wenn es Manizha und ihr Team in die TopTen des European Song Contestes schafft.
Viele Personen, viele Dialoge, viele Szenenwechsel auf nur 112 Seiten. „Eine Seuche in der Stadt“ ist kein Roman und keine Erzählung als solche, sondern war ursprünglich als filmisches Skript konzipiert, das Ludmilla Ulitzkaja für ein Drehbuchseminar eingereicht hatte, um daran teilzunehmen. Und zwar 1978. Sie wurde abgelehnt.
Situiert ist die Geschichte, die auf einer wirklichen Begebenheit beruht, im Jahre 1939. Rudolf Iwanowitsch Meyer, ein Arzt, der an einem Medikament gegen die Pest forscht, infiziert sich am Erreger. Da er mit dem Zug zu einer wissenschaftlichen Konferenz nach Moskau reist, um dort einen Vortrag zu halten, bringt er den Pesterreger in die Metropole.
Es könnte zu einem schlimmen Ausbruch kommen. Könnte. Wir dürfen nicht vergessen, im Vorkriegsjahr herrscht in der Sowjetunion noch immer ein despotisches Regime, die Zeit des Terrors ist noch nicht vorbei. Der Apparat des Sicherheitsdienstes läuft wie geschmiert und – Spoiler – das Schlimmste kann durch die Effizienz des NKWD gerade noch verhindert werden.
Noch 1978 scheint diese Story so explosiv zu sein, dass sie nicht publik gemacht werden kann. Daher die Ablehnung des Drehbuchs. Es landet in der Schublade, um von der Autorin jetzt, in der Zeit der weltweiten Pandemie, hervorgeholt und veröffentlicht zu werden. Ich muss nicht erwähnen, dass öffentlich niemals etwas über diese Gefahr ruchbar geworden ist. Und die Autorin hat nur über eine Freundin darüber erfahren, deren Verwandter unmittelbar daran beteiligt gewesen ist.
Die Pest mit Cholera bekämpfen. Gibt es nicht so einen Ausdruck? In dieser Geschichte geschieht genau das, ein gefährlicher Erreger wird durch die Mechanismen eines noch gefährlicheren Systems unschädlich gemacht.
So schreibt die Autorin denn auch in dem Nachwort zu dem Band: „Das ist das Subtile an der geschilderten Situation: Die Pest zu Zeiten der politischen ‚Pest‘„.
Klar, denke ich, in Zeiten von Epidemien und Ausbrüchen von hochansteckenden Krankheiten, ist so ein despotisches Regime einfach das bessere Modell. Erregungsherde ausfindig machen, abholen, auch um drei Uhr Nachts, isolieren, wenn nötig unschädlich machen – und das schnell und effizient. Das sind die Kernkompetenzen von Geheimdiensten, die im Dienst von Diktatoren stehen.
Schwarzer Rabe, lange vor 1939, aber so sahen die aus.
Dennoch wäre mir unser System lieber, trotz allem. Auch das Herumgeeiere, dass alle Bundesländer ihren eigenen Schuh fahren, das Kreuz und Quer der Maßnahmen, also nicht so sehr quer, mehr so der Zick-Zack-Kurs der Maßnahmen. Stümperhaft im Vergleich zu so einem stalinistisch effizienten Apparat. Denn so ein Erreger ist irgendwann vorbei. Naja, der Stalinismus irgendwann auch, aber eher nach mehr als einem Sommer. Oder zwei.
Und noch so ein Gedanke: all diejenigen, die schreien, wir leben in einer Diktatur, wünschen sich genau das. Ich spüre da eine Sehnsucht nach autoritärem Durchgreifen. Sie wollen in Wirklichkeit sowas wie damals 1939 in Moskau, dass einer kommt, handelt und alles ist wieder gut. Das ist jetzt kein Fakt, nur so eine Meinung, sogar nur so eine Ahnung. Vielleicht sind gerade nicht diejenigen frei, die so sehr auf Freiheiten pochen? Sondern die anderen, die aus freien Stücken auf absehbare Zeit auf einige ihrer Freiheiten verzichten können, wie auf die, nach Feierabend in der Kneipe ein Bier zu trinken oder ins Kino zu gehen.
Apropos Wünsche. Ich wünsche mir keine Diktatur, sondern dass dieses Drehbuch von einem fachkundigen Regisseur, oder einer Regisseurin verfilmt wird. Wie wäre es mit der kongenialen Agnieszka Holland? Ich kann mir gut vorstellen, dass sie das absurde Szenario, in dem im minutentakt Pseudo-Verhaftungen erfolgen, filmisch gut umsetzen kann. Und vielleicht sogar die Atmo eines Moskaus in der Vorkriegszeit einfangen und die handelnden und erduldenden Personen authentisch zeichenen kann. Dann können wir uns – wenn es wieder möglich ist – gemütlich mit ner Tüte Popcorn in einem dunklen, vollen, geschlossenen, schlecht belüfteten Kinosaal zurücklehnen und genüsslich betrachten, wie so ein fieser, kleiner Erreger in kürzester Zeit unschädlich gemacht wird. Dank den Häschern des NKWD.
Ljudmilla Ulitzkaja Eine Seuche in der Stadt Hanser Verlag, 2021 ISBN 978-3-446-26966-8, Preis: 16,00 €
Was assoziieren wir, wenn wir über Sibirien sprechen? Schnee? Gulags? Weite? Transsib? Ja. Jain. Es gibt da noch etwas, das mir in Zukunft unauslöschlich in den Sinn kommen wird, wenn es um Sibirien geht: Tasten, die auf ein Holzbrett gemalt sind, Körper von Klavieren, durch die Unkraut wuchert, mit Wasserflecken verunzierte Deckel von Konzertflügeln, Pianinos, Klavichorde und Pianos. Und der Klang klassischer Musik.
Die britische Journalistin Sophy Roberts reist im Auftrag einer mongolischen Spitzenmusikerin mehrere Jahre lang immer wieder durch die Russische Föderation (und angrenzende Staaten), um ein passendes Instrument zu finden, ein Klavier oder ein Flügel mit Geschichte und einem besonderen Klang.
In ihrem Buch versammelt sie die Abenteuer dieser Reise und eröffnet mir zumindest eine ganz neue Perspektive, nicht nur auf das Land, sondern auch auf seine Geschichte. Auf Nebenwegen sozusagen.
Screenshot aus einem Clip von Micheal Turek
Sibirien ist schwer festzumachen, seine losen Grenzen erlauben es allen Besuchern, ihm jegliche Gestalt zu geben. […] Mein Sibirien umfasst das gesamte Territorium östlich des Uralgebirges bis hin zum Pazifik; das ist das „Sibirien“, wie es auf den kaiserlich-russischen Landkarten bis in die Sowjetzeit definiert war. Es ist eine äußerst weit gefasst Interpretation Sibiriens, die auch den Hohen Norden und den Fernen Osten Russlands und zudem Gebiete einschließt, die im 18. und 19. Jahrhundert gewonnen und wieder verloren wurden. Ich entschuldige mich deshalb im Voraus in dem Wissen, dass ich mich nicht an die modernen Verwaltungsgrenzen oder an die vorherrschende politische Korrektheit gehalten habe, wer oder was sibirisch ist. Statt dessen folge ich Anton Tschechows Erklärung: „Die sibirische Ebene beginnt, so scheint es, direkt hinter Ekaterinburg und endet der Teufel weiß wo …“ S. 14
Screenshot von einem Film von Michael Turek
Im 18. Jahrhundert kam die Begeisterung für das Klavier auf den Zarenhof, Ehefrauen von Dekabristen und polnische Verbannte brachten einige wertvolle Instrumente in die Tiefen des Landes. Die Präsenz von Musik und diesem nicht sehr mobilen, eher etwas sperrigen Instrument in Russland und Sibirien berührt die verschiedenen Etappen der russischen und sowjetischen Geschichte. Ist eng an Zaren und deren Untergang geknüpft, fördert aber auch zahllose neue Erzählstränge, Nebengeschichten und unbekannte Anekdoten zutage. Oder wussten alle vor mir, dass die chinesische Stadt Harbin in den 30ger Jahren ein sowjetisches Zentrum für Jazzmusik gewesen war?
Dieses verbale Kaleidoskop zeichnet die Lebenswege von Klavierstimmern und Musikern und Musikerinnen nach. Namen wie Steinweg, Becker, Röhrich und andere deuten auf Spuren deutscher Klavierbauer in Russland hin. Eine Ära der europäischen Musik in fernen, uns zu unrecht unzivilisiert erscheinenden Weiten. Es ist ein Reisebericht und eine Zeitreise-Skizze zugleich. Selbst wenn ich jetzt verrate, dass die Suche natürlich von einem Erfolgserlebnis gekrönt ist, lohnt sich dieser mäandernde, immer wieder auf besondere Momente hinweisende Weg ja doch. Wie gesagt, die Pianistin Odgorel Sampilnorow erhält ihr wundervolles Instrument, was nicht weniger scheint als ein Wunder, wenn man die zerstörerischen Zeit in einer Gegend betrachtet, die nicht nur Klavieren und Konzertflügeln zugesetzt hat. Und ja, Schnee, Gulags und die Transsib kommen auch darin vor.
Hier ein kleiner Vorgeschmack darauf, wie der Tripp war. In eindrucksvollen Bildern stimmungsvoll festgehalten vom, ein Film des Fotografen Michael Turek, der Roberts begleitet hat:
Nicht entgehen lassen sollte man sich auch diese Website, die nicht nur Werbung zum Buch ist, sondern weitere Filmklips und Fotos der Reise versammelt. Gleichzeitig sehr amüsant und ergreifend.
Die Reihe mit der März-Poesie ist nun um und ich kann nicht behaupten, alle berücksichtigt zu haben, es war zugegeben nicht gerecht, aber diesmal waren auch andere Leute und andere Aspekte als 2019 dabei: Konkrete Poesie und Videokunst zum Beispiel. Althergebrachtes und Neugeschöpftes. Dichterinnen und Dichter, die sonst auf keiner Agenda stehen, die nicht in den Auslagen der Schaufenster liegen, allseits gelesen, allseits sichtbar gemacht, das immerhin.
Eigentlich wollte ich in diesem Monat auch ein Odessa-Gedicht von Puschkin posten, mit dem Text: Mein Herz schlägt nicht für Putin, aber für Puschkin! Dann habe ichs sein lassen. Flachwitzgefahr. Vielleicht mache ich das im nächsten März, falls Putin dann noch an der Macht sein sollte.
Es wird immer so sein, dass einige Dichterinnen und Dichter nie eine breite Öffentlichkeit erreichen werden, unsichtbar bleiben, sich im Schatten des literarischen Betriebs tummeln. Ob es die Umstände sind, die dazu führen, dass die Verlage nicht auf sie aufmerksam werden, das fehlende Geschick, sich zu vermarkten oder reines Pech – wer weiß das schon. Es wird immer einige geben, die nicht in einer Reihe genannt werden mit Rilke, Achmatowa oder Emily Dickinson.
Und dennoch haben sie geschrieben. Und dennoch schreiben sie auch heute. Manche haben nie veröffentlicht, andere haben Bände in Kleinstauflage vorzuweisen.
Vor etwa einem Monat habe ich ein Buch vorgestellt (Teil I und Teil II), das vor 90 Jahren erschienen und bald darauf fast in Vergessenheit geraten ist. Unvorstellbar, aber es gibt auch noch Autoren, die noch nicht einmal in solchen Bänden auftauchen, weil sie keine gestandenen sowjetdeutschen Dichter der Zwischenkriegszeiten sind (soweit mir bekannt ist, gab es auch keine Frauen unter den Kolonisten, die bereits damals Werke veröffentlicht haben), weil sie nicht in das ideologische Korsett der damaligen Zeit passten. Kinder wohlhabender Leute oder religiöse Menschen. Oder einfach solche, die keine glühenden Kommunisten waren. So wie Georg Samuel Löbsack, Alexander Würz oder Johann Nikkel. Alle drei waren wohl zu wenig regime-konform. Der Letztere, Nikkel, hat Zeitlebens nie etwas veröffentlicht. Er wurde in der falschen Zeit oder in der falschen Familie geboren, denn Nikkel stammt aus einer mennonitischen Predigerfamilie aus dem Molotschnagebiet am Asowschen Meer. Von ihm sind lediglich zwei Hefte erhalten geblieben, insgesamt knapp dreihundert Seiten in feiner Sütterlinschrift geschrieben und von 1919 bis 1930 säuberlicher geführt. Kein Avantgarde, eher auf konventionelle Art gut. Er schrieb als ganz junger Mann Liebeslyrik, Geburtstagswünsche, später auch Kritik an der Entkulakisierung oder an den wetterwenderischen Dichtern des Systems.
Zum Abend
1. Sei gegrüßt du Abendstern, Wonne meines Lebens“! Bis {sic} du gleich unendlich fern, Leuchte nicht vergebens.
2. Strahle Hoffnung in das Herz, Weil es schon verzagte. Lind’re stille du den Schmerz, Dem’s die Welt versagte.
3. Mit dem milden, sanften Schein, Glitzerndem Gefunkel, Leuchte du ins Herz hinein, Meines Lebens Dunkel.
Die Nummerierung der Verse stammt vom Dichter selbst. Sie sind nichts Weltbewegendes, soweit ich es beurteilen kann, gut geschrieben, sauber gereimt, jedoch keine bahnbrechend neue Poesie oder etwas, das über alle Zeiten hinweg eine universelle Gültigkeit besessen hätte. Doch wer legt welche Maßstäbe an? Wer bestimmt, was den nagenden Zahn der Zeit überdauern oder überhaupt gedruckt werden soll? Nikkels Leben und Einstellung war einfach nicht opportun für die damalige Zeit. Und jetzt? Was geben uns seine Verse heute? Sie illustrieren seine Geschichte. Und die ist wirklich etwas Besonderes.
Anna Godde, Johannes Nikkel in der ersten Verbannung im Donbass
Johann Nikkel kommt 1902 in Gnadenfeld, einem Dorf in der Ukraine zur Welt kurz nachdem sein Vater, ein mennonitischer Prediger und Missionar, gerade nach einem schweren Schicksalsschlag aus Sumatra in seine Heimat zurückgekehrt ist. Johann erlebt die Revolution, den Bürgerkrieges (sein Bruder wird 1919 von der randalierenden Machno-Bande getötet), die Wirren der Neuen Zeit mit ihren Enteignungen, Verschleppungen und Umwälzungen.
Die Historikerin Marina Schmieder, die seine Hefte in den letzten zwei Monaten aus wissenschaftlicher Sicht untersucht hat, vermutet nicht zuletzt anhand seiner Ausdrucksweise, dass er eine gute Ausbildung genossen haben muss, vielleicht in Halberstadt. Er schrieb in deutscher Kurrentschrift (Sütterlin), kyrillischer und lateinischer Schrift und beherrschte die russische und deutsche Sprache gleichermaßen gut. Anhand eines Gedichtes von 1925 nimmt sie an, dass Johann Nikkel ebenfalls eine Predigerlaufbahn eingeschlagen hat, auf jeden Fall hat er früh geheiratet und Kinder bekommen. Rechtlos gemacht (religiös =antisowjetisch) wird die gesamte Großfamilie 1932 in den Donbass deportiert. Die Kladden nehmen sie mit.
[…]
Drum klage nicht mein Kind, Schwer, schwer ist diese Zeit. Noch stürmt ein böser Wind doch nicht in Ewigkeit.
14.03.1929
Leider wird Nikkel nicht mehr erleben, wie der böse Sturm endet. 1944 stirbt er 41-jährig an Auszehrung und Skorbut in der sogenannten Arbeitsarmee. Seine Familie lebt, von ihm getrennt, im Akmolinsker Gebiet in Kasachstan.
Auch nach dem zweiten Durchlesen der Reime merke ich, es ist keine bahnbrechende Entdeckung. Aber dennoch ein Schatz von historischem Wert. Die Gedichte sind sicher nicht schlecht, religiös gefärbt. Auch wenn sie ihn mit keinem Wort in ihrem Band erwähnen, Nikkel kennt die anderen wohl, die sowjetdeutschen Dichter Schellenberg und G. Flut und kritisiert sie beide im besonderen und die gottlose, materialistisch ausgerichtete Zeit und den Kommunismus im allgemeinen. In dem Poem „Dem Geizigen gewidmet“ ruft Nikkel seine Mitmenschen in 27 kurzen Versen auf, das Materielle aufzugeben. Versucht er ihnen vielleicht so die Enteignungen während der Entkulakisierung etwas leichter zu machen? Oder ist es reine Satire?
Siehe nicht auf Erden Reichtum – das ist hin Was du hast, muss werden Andren zum Gewinn.
[…] Aber lern verlieren Was du „Mein“ genannt Knecht und Magd regieren Heute unser Land
[…] Lege deine Hände Lasch in deinen Schoß Und du wirst am Ende Endlich – sorgenlos!
03.11.1929
Seine Dichterkollegen kriegen einiges ab, in „Dem Dichter unserer Tage“ schreibt Nikkel:
Horch Schellenberg! Wer ist dir zu verheißen (?)! Steig hochempor du junger Narr und schelle Vom hohen Berg in jede Jugendzelle Dein proletarisches Poem! Es bleichen
Die Schatten alter Kunst; o Siegeszeichen! […]
Du armer Tropf! Die Nacht verscheucht der Reime Stürme Vom goldnen Morgenrot träumt deine Kunst Doch auch dein Licht ist lauter Nebeldunst.
Nacht bleibt es. Nacht für solche Erdenwürmer, Schwing dich umsonst zum lichten Schellen-Berg Du bleibst nur was du bist – ein Ellenzwerg!
5.1.1929
Autsch, das hätte gesessen. Leider hat es damals niemand zu Gesicht bekommen. Der andere Kollege, G.Flut (bürgerlich Georg Luft), zeichnet sich in dem Band sowjetdeutscher Dichtung durch einigen antireligiösen Gedichten der folgenden Art aus: Der Noah war ein frommer Mann und wohlerprobter Saufkumpan: er soff sich oft von Sinnen; drum liess ihn Gott in einen Kahn auf weiter, breiter Wasserbahn dem Untergang entrinnen.
Und als dann Noah wieder Land und festen Grund und Boden fand, da pflanzt er wieder Reben mit seiner eignen frommen Hand und war bis an des Lebens Rand der Sauferei ergeben.
[…]
Noah ist bei Flut-Luft stets ein Säufer, liegt ja auch nahe: die Sintflut wird metaphorisch als eine Überflutung mit Alkohol betrachtet, warum auch nicht. In einem anderen Poem bietet Abraham seine Frau Sara dem Pharao als Geliebte an und der gierige König David führt Krieg um Gold und Frauen und hat einen Harem mit 700 „Metzen“. So will es die Zeit und die Ideologie. Religion ist nicht nur Verblendung, ihre Anhänger sind Heuchler und ganz ganz schlimme Mitgenossen. Und auch ihre Anhängerinnen: furchtbare Frömmlerinnen.
Dem hat unser tiefgläubiger Nikkel Folgendes zu entgegnen, an Flut gerichtet, dichtet er:
Dem Spötter
Sag mir, wer bist du Proletarier Sohn, Du Menschenkind in düstrem Sündenkleide? Du singst dein Weihnachtslied auf öder Heide Von unserem Christuskind mit Spott und Hohn.
Verstumme du Geschöpf aus Erd und Ton! Dein Lied in proletarischem Geschmeide Führt auch die Jugend nur zu größrem Leide, Raubt ihnen […] Gott und Religion.
Verstumme denn, der du voll Beben (?) Mit giftgem Maule schäumst Genosse Flut! […]
04.01.1929
Aber so ähnlich wie die Verse von Schellenberg und Flut von ihrer Ideologie geprägt sind, sind die von Nikkel voll von religiösem Eifer. Ich will ihn jetzt nicht beleidigen, aber ein Arthur Rimbeaud oder ein verkanntes Genie ist er nicht.
Der fast gleichaltrige Schellenberg überlebt Nikkel um 10 Jahre und lebt bis 1954 in Magadan, wohin es ihn „im Krieg verschlagen“ hatte. Georg Luft oder G. Flut stirbt vermutlich 1937 (oder bereits 1934?) ebenfalls kurz nach seiner „Übersiedlung“ in den Fernen Osten. Beide kamen in die Verbannung und die Arbeitsarmee. Ihre proletarische Herkunft und ihre sozialistischen Tiraden haben ihnen wenig genützt.
Durch die gesamte Sowjetzeit hindurch versteckt Nikkels Frau Anna Lodde die Hefte und verwahrt sie, obwohl sie ein gefährliches Gut darstellten, nicht nur da sie in der Sprache des Feindes geschrieben waren, sondern dazu noch religiöse und dem System kritisch gesinnte Momente enthielten. Anna blieb mit einer Tochter, die anderen drei Kinder starben sehr früh, bis zu ihrem Lebensende an ihrem letzten Verbannungsort in Kasachstan. Mitte der Neunziger Jahre des letzten Jahrhunderts übergab sie die Hefte einem Neffen, Wilhelm Warkentin, der sie nach Deutschland brachte. Just in diesen Tagen wird Warkentins Tochter Sina die beiden Hefte an einen Onkel in Kanada schicken, der die Gedichte dort in Buchform bringen will.
Johann Nikkel, erstes Heft, Seiten 88 und 89
So werden die Natur- und Liebesgedichte, die Geburtstagsgrüße und Beschreibungen des Dorflebens und auch die kritischen und angriffslustigen Verse Nikkels an die 100 Jahre nach ihrer Niederschrift doch noch publiziert. Mit etwas Glück!
Was gibt es mir? Was gibt es uns? Nicht zuletzt eine Einsicht in eine außergewöhnliche, eine fast unglaubliche Lebensgeschichte, wie sie eigentlich nur in Büchern und Filmen vorkommen kann und zugleich die typische Geschichte eines mennonitischen Kolonisten in der Ukraine ist, der wenige Jahre vor der Revolution geboren wurde. Eine Geschichte und ein Wirken, das ohne einige unermüdliche und mutige Zeitgenossinnen im Schatten geblieben wäre.
Ich danke für diese Entdeckung Wendelin Mangold, der in einer Mail auf Nikkel aufmerksam gemacht hat, Marina Schmieder und Nina Paulsen, die mir freundlicherweise ihre Materialien inkl. Fotos der Originalmanuskripte zur Verfügung gestellt haben und nicht zuletzt Frau Annelore Engel, deren Übertragung einiger Gedichte in eine für mich lesbare Schrift mir Nikkels Dichtung überhaupt zugänglich gemacht hat.
Zum Abschluss noch einige Zeilen vom Dichter selbst:
Frühlingsscheiden (1923)
Wie doch die Jahre, die Tage entfliehen, Enteilen dahin, wir merken es kaum; Wo ist der Frühling, sein Sprossen, sein Blühen, Ach, auch er ist dahin, wie ein Traum.
Sah doch noch kürzlich im Morgentauglanze, Gärten u. Wälder u. Felder im Grün; Pflückte mir duftige Blüten zum Kranze, Sah noch so manches Blümlein erblüh’n.
Stieg doch die Lerche im Morgenrotsschimmer, Trillernd hinauf, in der Lüfte Gebiet, Klang doch so süß uns beim Sternengeflimmer Abends so heimlich* der Nachtigall Lied. –
Doch es entweichet, ja alles entschwindet,
Hier auf Seite 88 hört auch das Gedicht plötzlich auf und auf der nächsten Seite fängt etwas Neues an, das vom Reim her nicht passt. Seite 89 kann also nicht die Fortsetzung von 88 sein; es fehlen Verse; die Seitenfolge stimmt offenbar nicht.
Der heutige Tag ist ja nicht nur der Tag der Poesie, sondern auch der internationale Tag der Trisomie 21. Als Andreas Peters im Sommer 2011 in einer dänischen Zeitung las, dass in Dänemark bei der jetzigen Entwicklung im Jahre 2030 das letzte Kind mit Down-Syndrom geboren werden würde, schrieb er das folgende Gedicht. Mit Sören ist übrigens der Philosoph Kierkegaard gemeint und mit Hans Christian natürlich der Märchenerzähler Andersen.
Die Sockenaufforderung findet jedes Jahr am 21. März in Verbindung mit dem Welt-Down-Syndrom-Tag statt. An diesem Tag werde zwei unterschiedliche Socken getragen, um die menschliche Einzigartigkeit zu feiern.
2030
wir schreiben das jahr 2000. es macht mir angst, kein mongölchen in unsrem kindergarten eingeschrieben. millenium jahr 2010. mir ist bange: ich habe im
schwimmbad keinen einzigen down- syndrom getroffen. 2020. angst & bange: ich habe den ganzen tag in kopenhagen kein down-kind zu gesicht
bekommen. 2030. keine angst & keine bange: das letzte hässliche entlein ist geboren. dänemark ist einem UN- bericht zufolge das glücklichste land
der welt. kein aufstand der plebejer, patrizier, der alten, jungen. kein erdbeben erschüttert das land. nur 2 leichen drehen sich im grabe um, die
von sören und die von hans christian. das trübt aber das glück des landes nicht.
Wieder eine Nachdichtung von Max Schatz, dessen eigene Sonnette ich vor kurzem hier besprochen habe. Diesmal ein Song von 1986 Die Kinder gehen fort von Michail Borsykin und der GruppeTelewisor.
Die Kinder gehen fort
Eines schmutzigen Nachts, ohne sich zu verabschieden, verlassen sie eure lächerlichen Häuser, um für immer mit eurer absurden Welt zu brechen. Ihr seid füreinander längst dahingeschieden, nun wollen sie ganz unter sich sein wie Mäuse, damit ist alles gesagt, niemand wird sich mehr rächen.
Und ein zufälliger Passant geht schneller vorbei, jemand schließt in Sorge die Fensterläden. Jemand beurteilt arrogant und flieht, und wer noch lebendig ist, denkt ans Wichtigste im Leben.
Gesichter, ihre unschuldigen, hellen Gesichter werden euer Befangen- und Betrübt-Sein nicht erfahren. Sie verlassen Richtung neue Heimat die reelle Welt, um dort von Null anzufangen, als gäbe es keine Vorfahren.
Die Kinder gehen fort, nein, da ist kein Hauch von Revolution, sie gehen einfach weg, um euch nicht zu stören. Sie wollen nur spielen „Fortnite“, lebt eure Leben zu Ende voll Maß und Ration, sie werden nie zurückkehren.
Max Schatz
Hier der unverwechselbare 80ger-Jahre Elektrosound dazu:
Das Originallied Дети уходят „Die Kinder gehen fort“ bei einem Auftritt 1988
während ich im Hauseingang vor der Treppe nach oben noch unten liege betrachte ich aus der offenen Haustür den Ausschnitt unseres Hinterhofs Himmel der Hauptstadt spiegelt sich in meinen Augen ist Smog und graue Wolkendecke der Regen läuft durch Rinnen direkt in den Hof füllt Löcher im Asphalt meiner Haut und meinen Augen der Putz der nassen Hauswände fällt langsamer als sonst ab die Risse werden tiefer und weiter nur wenige sehen sie noch man gewöhnt sich an alles neben manchen Hauseingängen stehen kleine weiße Untertassen mit Milch für die Katzen im Sommer sind es mehr jetzt im Oktober weniger viele Katzen haben den Sommer in der Hauptstadt nicht überlebt sie wissen zu viel und bekommen zu wenig Katharina Dück
aus der Anthologie „Writers in Prison“
Anna Politkowskaja
Nächsten Donnerstag am 25.3.2021 um 19 Uhr findet eine online Lesung statt, um die neue Textur Anthologie vorzustellen, bei der Katharina Dück gemeinsam mit anderen Autorinnen und Autoren ihre Gedichte lesen wird. hier der Link: www.textur250321.herrenhof-mussbach.de
Sagte er, sagte sie, sagte er, sagte sie, sagte er, sagte sie
Sagte er, sagte sie, sagte er, sagte sie, sagte er, sagte sie
Sagte er, sagte sie, sagte er, sagte sie, sagte er, sagte sie
Sagte er, sagte sie, sagte er, sagte sie, sagte er, sagte sie
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Sagte er, sagte sie, sagte er, sagte sie, sagte er, sagte sie
Sagte er, sagte sie, sagte er, sagte sie, sagte er, sagte sie
Wendelin Mangold
aus
Wendelin Mangold
HYMNE AUF DEN MENSCHEN
Konkrete Poesie und Prosa
Edita Gelsen
ISBN 9783 9445965030
Einige der poetischen Stücke in dem Buch sehen pyramidenförmig aus. Ich habe für den Beitrag etwas Quadratisches ausgewählt.
Ausschnitt aus Lucas Cranach d.Ä, Adam und Eva, 1526
wer will die drecksarbeit machen?
wer will die drecksarbeit machen und
das fallobst vom baum der erkenntnis*
einsammeln wer soll es in gläser für den
politischen winter und die zeit danach einkochen?
scharfgeschliffene eloquenz steht zurzeit
hoch im kurs die schuldigen sind
längst ausgemacht und warten an der
haltestelle die sie sich selbst gemacht haben
auf die blankpolierten schwarzen raben**
hoffen zugleich dass die ewigen reiter
nicht geweckt werden
falls ihr später (die in der endzeit lebenden) fragen
solltet wie es dazu gekommen ist müsst ihr
wissen dass es in dieser in das gewissen-
beruhigende neonlicht getauchte halbzeit mit
ihren frühlingshaft blühenden landschaften in
der taiga latente scharfmacher gab
die vor selbstzufriedenheit strotzenden großspurig
fahrenden und einspurig denkenden strippenzieher
die spendable sonne bewahrte wie immer ihre
absolute neutralität und leckte freund und feind
mit ihren alles ans licht bringenden strahlen die
wunden aus der alles wissen wollende mond
bespitzelte uns auch bis in unsere liebesnester
Artur Rosenstern
aus dem Band:
Schlafende Hunde VI, Politische Lyrik, Hrs. Thomas Bachmann,
verlag am park, Berlin 2019
ISBN-9783947094394
*nach Marcus Neuert
**so nannte das Volk in Russland die Autos des NKWD
Die Oma strickt, die Oma strickt,
gebraucht die Stricknadeln geschickt.
In ihrem Lehnstuhl vor dem Hause
da strickt sie gerne ohne Pause.
Und nebenan schnurrt voller Wonne
ein Kätzlein in der Abendsonne.
In ein Faß
fällt die Maus
Arme Maus,
kann nicht raus
Im dem Faß
ist es naß.
Denkt die Maus
„Was ist denn das?“
aus
Meister Hase ist Friseur,
Nora Pfeffer, Wladimir Beseljuk,
Alma-Ata, 1981
Kinderreime, Kinderverse, gemeinsam mit dem Illustrator Wladimir Beseljuk hat Nora Pfeffer 1981 in Kasachstan dieses Buch herausgebracht.
Leichtigkeit und fröhliche Gedichte für die Kleinsten. Nach einem solchen Leben voller Brüche und Leid. Auf diesen Widerspruch angesprochen sagte sie:
„Fröhlichkeit ist keine Flucht vor der Traurigkeit, sondern ein Sieg über sie.“
Ich bin eher mit Nossow und Nesnaika aufgewachsen. Dem weisen nichtwissenden Knirps. Bücher auf Deutsch gab es bei uns, mein Vater hatte in Moskau einen Karton Orangen und ein oder zwei Kinderbücher aus der DDR ergattert und mir vorgelesen. Aber die Kinderbücher von Nora Pfeffer kannte ich nicht. Als dieses mit dem Hasen in Kasachstan erschien, waren wir längst in der BRD und ich las eher Bücher wie „Geheimnis um..“ von Enid Blyton.
Aber sie schrieb auch ernste Gedichte. Wer mag, kann eins über Abschiede hier lesen.