Ein paar eingeritzte Buchstaben

Zwei unbeholfen eingeritzte Buchstaben auf einem Klappmesser deuten auf ein Geheimnis hin, dem die Protagonistin von Eleonora Hummels Roman „Die Fische von Berlin“ auf die Spur kommt.

Familie Schmidt lebt in Kasachstan und steht kurz vor der Ausreise nach Deutschland. Ihre jüngste Tochter Alina verbringt viel Zeit mit ihrem Großvater, mit dem sie ein besonderes Band verbindet.

„Was hast du mit dem Großvater zu tuscheln?“ fragte Großmutter mit ihrer erzieherischen Stimme.
„Wir tuscheln nicht. Er erzählt mir von seiner Jugend.“
„Von seiner Jugend gibt’s nichts zu erzählen.“

Doch Alina lässt nicht locker und erfährt nach und nach, was es mit den Fischen von Berlin auf sich hat und welches Familiengeheimnis sich hinter dem Messer verbirgt, das der Großvater stets bei sich trägt. Sie taucht tief in die Odyssee ihrer russlanddeutschen Familie ein. Dabei findet sie ein Fotoalbum auf einem Dachboden und beobachtet, wie sich ihre Schwester von einem Fastmatrosen den Kopf verdrehen lässt.

Berlin: Angler an der Friedrichsgracht. Foto: Rudolph 21.4.1949

Aufreihen von Tatsachen oder künstlerischer Ausdruck?

Eleonora Hummels Romandebüt von 2005 kommt daher wie ein autobiografischer Bericht. Aber anders als viele Bücher der Erinnerungs- und Erlebnisliteratur hat die Autorin ein Werk geschaffen, das eigenständig ist und sich über die reine Erfahrung erhebt.

In einem Interview von 1979 spricht Regisseur Andrej Tarkowskij darüber, welchen Einfluss die Kindheit auf das Leben eines schöpferischen Menschen haben kann. Dass es eine wichtige Erfahrung ist und dass eine intensive Kindheit ausreicht, um Stoff für viele Werke zu bilden. Er sagt aber auch, dass es keine Kunst sei, die Erlebnisse eins zu eins zu erzählen. Sie brauchen ein transformatorisches Moment, eine Verdichtung in der Sprache oder eine Form, die aus der erlebten Geschichte einen Film oder einen Roman macht.

Der Autorin gelingt genau das. Sie benutzt die Familienanekdoten, die sich in den Schicksalen der Deutschen aus Russland in vielen Punkten gleichen und macht etwas daraus, das über das Offensichtliche hinaus geht.

Manchmal habe ich den Eindruck, unsere Leute sind getrieben, die schweren Schicksale in Worte zu kleiden, damit die Erinnerung nicht verlorengeht. Es ist wie ein innerer Auftrag und diese Autoren und Autorinnen fangen oft mit der Geschichte der eigenen Familie an. Aus der Aneinanderreihung von echten Erlebnissen und Anekdoten entsteht dann häufig nicht mehr als eine ausführliche Familienchronik. Viele dieser Bücher wirken so, als seien sie aus einer Opferhaltung geschrieben, sie verzichten nicht auf ein gewisses Selbstmitleid oder haben einen vorwurfsvollen Ton. Was hier angeklagt wird, das Schicksal oder die ignorante Leserschaft, kann man nicht immer deuten.

Der Roman von Eleonora Hummel steht in angenehmen Konstrast zu diesen Erlebnisbiografien, die zweifelsohne ihre historische und therapeutische Berechtigung haben.

Sie schafft es, in ihrem Erstlingswerk Dinge auszusprechen, die oft schwer auszuhalten sind. Es ist schon harter Tobak, den sie wenn nicht direkt leicht, aber in einer schnörkellosen Sprache leichthin erzählt. Sie verdichtet viel und bereits hier ist ihr typischer, lakonisch-zielsicherer Stil zu spüren. Eleonora Hummel beherrscht die Kunst der Andeutungen, kann vieles ungesagt lassen oder zwischen den Zeilen verstecken. Mit Auslassungen und kühlen Untertreibungen lässt sie uns die Zeit dennoch in ihrer ganzen Härte spüren.

Hier einige Erinnerungen von Alinas Großvater in der Zeit des zweiten Weltkrieges:

Mutter erschien mir so klein und zart in ihrem schwarzen Kleid, dass ich nicht wagte, sie in den Arm zu nehmen. Wir nahmen uns nie in den Arm. Im Dorf hatte man andere Dinge zu tun. S 120

Hinter ihr stand meine Schwester, die die Frau eines Volksfeinds war. Sie legte ihr schwarzes Kopftuch zusammen, das gefaltet aussah wie die Flügel eines Raben. S120

Bevor ich zum Mobilisieren ging, gab ich Mutter die paar Münzen, die noch in meiner Hosentasche waren. „Nimm sie für eine neue Kuh“, sagte ich. Sie stand regungslos da, ich drückte ihre Hand auseinander und legte die Münzen hinein. So blieb sie stehen, die Münzen in der offenen Hand und neben ihr der kläffende Hund, den man ihr statt der Kinder gelassen hatte. S121

Von der Thematik, von der geschichtlichen Verankerung hat es ein wenig mit dem Roman „Die Köchin von Bob Dylan“ von Markus Berges gemein. Sprachlich besitzt das Buch eine ganz eigene Kraft und auch die Umsetzung unterscheidet sich. Es ist deutlich zu merken, dass da nicht eine Schriftstellerin aus der Distanz ein Thema betrachtet, das sie sorgsam in Archiven recherchiert hat oder aus Erzählungen kennt. Sie hat das sowjetische Schulsystem selbst erlebt und kennt Menschen und Gegebenheiten aus persönlicher Erfahrung.

Die Autorin pickt beispielhaft die Geschichte einer deutschen Familie aus Russland aus. Letztendlich ist es aber unser aller Geschichte. Sie hätte so zumindest sein können. Es ist ein schwerer Stoff, der leicht mit knappen, treffenden Worten ohne viele Schnörkel erzählt wird. Das nimmt ihm zwar nicht seine Tragik, ermöglicht es uns aber das Erzählte überhaupt aufzunehmen. Hin und her Getriebene Menschen. Das Schweigen der Älteren. Das alles kennen wir Deutschen aus Russland nur zur genüge. Und auch lang verschüttete Geheimnisse, die aus heiterem Himmel auftauchen, weil sich jemand plötzlich erinnert.


Eleonora Hummel

Die Fische von Berlin
Steidl Verlag, Göttingen 2005
223 Seiten, € 18.00

Eine Geschichte in drei Koffern

Ich packe meinen Koffer und lege hinein… drei Elefanten, eine Murmel, einen Sonnenschirm, die Stadt Wien, ….mit diesem Spiel vertreiben wir uns die Zeit auf langen Autofahrten.

Eigentlich hasse ich es, Koffer zu packen, mich überkommt jedes Mal eine regelrechte Panik, wenn ich es tun muss. Und doch kann die Geschichte meiner Familie anhand von drei Koffern erzählt werden. Einem Koffer mit Gewitterwolken über der Bucht von Riga, einem mit Unterhemden aus einem geplünderten Laden und einem, der randvoll gefüllt ist mit blassen Gesichtern aus Celluloid.

Der erste Koffer war ein hübsches Modell aus braunem Leder und gehörte Nina, die im letzten Krieg aus Lettland fliehen musste.

Sie packte ihren Koffer und legte hinein… ihr Tauftuch mit einigen getrockneten Tropfen aus dem Weihwasserbecken, eine Bluse zum Wechseln, einige alte Fotos. Keine drei Elefanten, und auch nicht die Stadt Wien, sondern die Ostseestadt Riga. Denn zwischen den Falten ihrer Bluse hatte sich etwas davon festgesetzt, der Geruch nach Trockenfisch und feinem Metallstaub. Die Rufe der Hafenarbeiter, das Bimmeln der Straßenbahn. Auf einer gemalten Miniatur, die sie ganz unten verstaut hatte, quollen dichte Gewitterwolken über der Bucht und der Petrikirche.

Als sie aus dem Haus trat, lag der Koffer seltsam leicht in ihrer Hand. Glatt und neu sah er aus, mit seinen glänzenden Metallecken. Nur ein einziges Buch hatte sie dabei, ein Lyrikbändchen von Rudolf Blaumann, der als Begründer der lettischen Literatur Rūdolfs Blaumanis genannt wurde.

Reisen mit leichtem Gepäck – nicht alle können das.

Irgendwann, viel später, als dieser Koffer über zwei Dutzend Bücher enthalten wird – ein Koffer voller Literatur – werden seine Flanken abgeschabt und fleckig aussehen und eine der Metallecken wird fehlen. Doch als Nina ihr Haus an der Valnu iela verlässt, ist seine Oberfläche makellos. Sie wird es schaffen, gemeinsam mit anderen, die den zahlreichen Trecks folgen. Sie wird mit ihrem kleinen Lederkoffer heil in Friedland ankommen, dem Aufnahmelager für Vertriebene aus dem Osten. Viel später wird sie sich von einem Maler in Öl porträtieren lassen, einen Buchhändler heiraten, Söhne in die Welt setzen und das braune Köfferchen mit Büchern füllen. Als Begrüßungsgeschenk für andere, die aus dem Osten anreisen. Für uns.

Doch zunächst kommt ein anderer Koffer ins Spiel. Ein blauer Pappkoffer aus der Stadt Dahme in Brandenburg.
In den letzten Tagen vor Kriegsende wurden zwei kleine Flüchtlingsjungen aus der Ukraine, einer davon mein Vater, Zeugen einer Plünderung. Eigentlich durften sie nicht aus dem Haus, wenn Bomben fielen. Die Mutter hatte es strengstens verboten. Doch die Gelegenheit war günstig und die Tiefflieger schon hinter dem Wald verschwunden. Es rauchte nur noch leicht aus den Kratern und den oberen Stockwerken.
Sie liefen über die Straße zu dem Laden mit dem zerbrochenen Schaufenster, darüber hing, halb abgerissen, das Schild „Herrenbekleidung“. Heiner, der ältere Bruder, schnappte sich einen Riesenkoffer und beide fingen an, wahllos Sachen hineinzustopfen.

Sie packten ihren Koffer und legten hinein … Hüte und Sockenhalter, Hosen und Jacken und einen ganzen Haufen gerippter Unterhemden. Was machte es schon, dass da Symbole der Wehrmacht draufgenäht waren? Die beiden Jungen achteten bloß darauf, dass keiner ihnen die Beute wegschnappte.

Kurze Zeit später haben sie die Stadt an der Dahme wieder verlassen, denn sie sollten repatriiert werden. Soldaten der Roten Armee verfrachteten die Brüder mit ihrer Mutter, zusammen mit den anderen Volksdeutschen in Züge, die in Richtung Osten fuhren. Der Vater der Familie, mein Großvater, war noch in Kriegsgefangenschaft. Erst viele Monate später würden sich ihre Wege wieder kreuzen. Irgendwo in Sibirien.

Als sie in die Waggons gestoßen wurden, dicht an dicht, klammerte sich mein fünfjähriger Vater an das blaue Gepäckstück, als ginge es um sein Leben. Er legte sich auch zum Schlafen darauf, seine Hand fest um den Griff gekrallt. Beide waren nicht länger als einen Meter – der Koffer und das Kind.

Später, in der Sondersiedlung, sollte die Beute aus dem Laden ihre Rettung werden. Ein Filzhut mit Feder, eingetauscht gegen ein halbes Dutzend Eier. Ein kariertes Jackett gegen einen Laib Brot. Und nachts saß die Mutter beim Schein der Kerosinlampe und trennte die verräterischen Aufnäher von den Hemden ab. Die abgelösten Zeichen zischten im Ofen und brannten so langsam, dass die Brüder Angst bekamen, jemand könnte sie erwischen. Doch sie hatten Glück, und nach zwei Jahren war alles in Nahrung umgewandelt, bis auf den letzten Faden. Der Koffer wurde von Behausung zu Behausung mitgeschleppt, auch als die Kommandaturaufsicht aufgehoben wurde und die Mutter starb. Als der Koffer in seine Einzelteile zerfiel, warf mein Großvater das alte Pappding einfach weg.

Der Koffer Nummer drei legte wieder dieselbe Strecke in umgekehrter Richtung zurück – von Ost nach West..

An Lenins 110. Geburtstag waren wir in Moskau zwischengelandet, um in ein Flugzeug nach Frankfurt umzusteigen. Frankfurt/BRD. Wir waren zu viert und reisten mit leichtem Gepäck. Alles andere wurde vor der Abreise veräußert, meistens verschenkt. Im Westen könnt ihr eh nichts mit diesem Barachlo, diesem sowjetischen Ramsch anfangen, hatte man uns gesagt.

So packten wir unseren Koffer und legten hinein – unser ganzes Leben. Ach was, mehrere Leben. Denn der handliche Koffer sowjetischer Fabrikation war bis zum Rand gefüllt mit Familienfotos.

Auf einem stehe ich am Schulportal mit weißer Schürze und Blumen für die Lehrerin. Ein anderes Bild zeigt meine mehlbestäubte, lachende Mutter in der Sommerküche beim Ausrollen von Teig für Manty. Auf einer fast verblassten Aufnahme sitzt Großvater auf einem Pferdekarren vor einer Baracke der Sondersiedlung. Hunderte von Babyfotos, Gruppenbildern, Hochzeiten, Geburtstagen, Beerdigungen, fast ein Jahrhundert der Fotografie. Die älteste Aufnahme ist von 1907 und zeigt drei ernste Damen vor einer gemalten Landschaft, die Taillen von breiten schwarzen Gürteln gehalten. Alle Fotos sind schwarzweiß, auch die aus der jüngeren Zeit. Viele hat mein Vater in seiner mobilen Dunkelkammer selbst vergrößert.

Die Taillen mit breiten schwarzen Gürteln gehalten.

Und ebendieser Koffer war bei der Landung in Frankfurt verschollen. Einfach weg. Es hieß, er wäre aus Versehen in Moskau geblieben und könne erst später nachgeschickt werden. So, als hätten sich die Geister derjenigen, die auf den Bildern abgelichtet waren, vom Fotokarton gelöst, weil sie noch etwas in Russland zu erledigen gehabt hätten. Vielleicht sind sie ins Mausoleum geglitten, an den Wachen vorbei zu der Leiche des Mannes, dessen Geburtstag draußen nicht mehr ganz so frenetisch wie noch vor zehn oder zwanzig Jahren abgefeiert wurde. Sie dachten auch an den mächtigen Schnurrbart des anderen, der so viele Tote auf dem Gewissen hatte und dessen eigener Tod 1953 kollektiv beweint werden musste. Diese beiden Politgiganten hatten ihnen also soviel Verdruss bereitet. Die Geister meiner Vorfahren betrachteten die Wollmäuse in den stillen Ecken des Mausoleums und brachen in ein stimmloses Gelächter aus.

Noch lieber hätte ich es gesehen, wenn sie mit dem Gepäck versehentlich in ein anderes Flugzeug gekommen wären und endlich die weite Welt gesehen hätten. Oder wenigstens Paris.

Am unserem letzten Tag im Aufnahmelager bekamen wir den Koffer fast vollständig zurück. Von den Gesichtern auf den Fotos fehlte kein einziges. Lediglich das schwere Kruzifix aus dunklem Holz, das mein Vater einst selbst geschnitzt hatte, blieb verschwunden.

Zwanzig Jahre später waren die Bilder sicher in Alben und Kisten verwahrt, doch der Koffer wurde entsorgt, als der Keller ausgeräumt werden musste.

Den anderen kleinen Lederkoffer, den aus Riga, der mit Büchern gefüllt war, hatte ich fast vergessen. Irgendwann fiel mir ein Büchlein in die Hände, auf dessen Vorsatzblatt ein Name auf kyrillisch geschrieben war. Нина. Nina.

Nina hatte den Koffer mitgebracht, als unsere gesenkten Blicke noch voller Staunen über die Wunder der westlichen Zivilisation waren und unsere Klamotten von der Sammelstelle des roten Kreuzes. Sie kam uns mit ihrem Mann besuchen und hatte die Dichter im Gepäck. Vergilbte Bändchen von längst vergessenen Romreisen im Schnee, Gedichte über weiche Auen und Märchen von kaltherzigen Riesen, die ihre Gärten lieber für sich behalten wollten.

So kam es, dass ich Orwells Science-Fiction-Roman noch vor 1984 las und mir die schillernde Attitüde eines Oscar Wilde vertrauter vorkam als das Leben der Kleinstädter, die uns umgaben. Auch russische Klassiker waren dabei. „Die toten Seelen“, „Die Brüder Karamasow“, oft angefangen und wieder beiseite gelegt. Irgendwann habe ich den Koffer mit dem notdürftig geklebtem Griff fast vollständig ausgelesen. Seite für Seite habe ich den Inhalt in Nahrung umgewandelt. So wie meine Großmutter die Wehrmachtsunterhemden in Eier und Brot.

Doch die hohe Kunst, das ganze Leben in einen Koffer zu packen, beherrsche ich immer noch nicht. Mich überkommt immer noch diese Panik, wenn ich packen muss. Meist nehme ich für drei Tage so viel mit wie andere für drei Wochen. Ob es anderen Menschen mit einem Deportations-Hintergrund auch so geht?

Ich packe meinen Koffer und lege hinein… ein geripptes Unterhemd mit dem Abzeichen eines verlorenen Krieges, eine verblasste Aufnahme mit weißgezackten Rändern, den Kieferngeruch der Rigaer Bucht, einige Zeilen aus Dorian Gray und die Vorstellung von einem schlafenden Jungen auf einem Koffer aus blauer Pappe.

Willkommen im Club oder Eine Weihnachtsgeschichte im Januar

Ich habe letztes Jahr im Januar eine Einladung zu einem Schreibwettbewerb erhalten. Das Thema war: deutsche Weihnachten in Russland. Veranstaltet vom Literaturkreis der Deutschen aus Russland e.V. und von der katholischen Seelsorge in den GUS Staaten.

… mit einem besonderem Blick auf die Wechselbeziehungen von religiösen und gesellschaftlichen Problemen und auf die Fragen nach Gott und der Weihnachtstagen im Leben eines Menschen in der heutigen modernen Gesellschaft …

Als ich ihn das erste Mal gesehen habe, den Wettbewerbstext, dachte ich, toll, da mach ich mit. Der zweite Gedanke: was soll ich dazu schreiben? Ich habe nie deutsche Weihnachten in Russland gefeiert.

Also habe ich genau das geschrieben:

Ich kann mich nicht erinnern, jemals deutsche Weihnachten in Russland erlebt zu haben. Noch nicht mal russisch orthodoxe Weihnachten. Als ich ein kleines sowjetisches Mädchen war, wurde mir gesagt, dass Leute, die in die Kirche gehen, gefährlich leben. Dass sie verachtet werden und Schwierigkeiten bekommen könnten. Welcher Art Schwierigkeiten, hat mir aber niemand genau erzählt. Meine Kernfamilie hat sich diesem Risiko jedenfalls nicht ausgesetzt. Und zuhause haben wir in guter sozialistischer Tradition am 31. Dezember eine Tanne aufgestellt, unchristliche Gedichte aufgesagt, „Die Ironie des Schicksals“ geguckt und das Väterchen Frost brachte uns unsere Geschenke. Ich weiß noch nicht mal, ob ich als Kind was von Jesus gehört habe. Vielleicht eher an Ostern, wo es dieses Brot gab und man sich zuflüstern musste, Iessus woskress, also Jesus ist auferstanden, und die Augen so aufreißen. Aber ich habe die Bedeutung der Wörter nicht verstanden, sie waren für mich eher so etwas wie eine geheime Formel. Zauberei. Gott wurde oft erwähnt, Gott musste man fürchten, denn er strafte alle, die Blasphemie betrieben. Das Wort „Kaschjunstwo“, also Blasphemie kannte ich von kleinauf. Aber ich vermute, dass die katholische Seelsorge diese Dinge eher nicht wissen will.

Mein Vater kann was zu deutschen Weihnachten in der Verbannung in Sibirien erzählen. Wie sie nach dem Krieg aus Zeitungspapier Baumschmuck gefertigt haben gemeinsam mit der Mutter. Das ist aber auch schon alles, was ich dazu habe. Und das ist noch nicht mal meins.

Andere Dinge, die mir dazu einfallen, will die katholische Seelsorge sicher auch nicht wissen.

Wie ich letztes Jahr kurz vor Weihnachten per Mail ein Foto von meinem Großvater bekommen habe, weil ich innerhalb der Familie nach Bildern gefragt hab, die ihn auch mal als jungen Mann zeigen.

Auf diesem Foto sieht er sogar sehr jung aus, fesch und stolz guckt er aus seiner Uniform.  Mit den Sig-Runen am Kragenspiel. Dass er bei der Wehrmacht war, als er für kurze Zeit während des Krieges nach Deutschland kam, wusste ich. Aber dass er auch bei der Waffen-SS gewesen ist, habe ich nicht gewusst oder hatte es all die Jahre verdrängt.

Waffen-SS. Das zumindest besagt seine Uniform. Hat keiner vor mir was gemerkt? Warum hat niemand jemals darüber gesprochen?

Weils damals eben so war? Die Zeit hart war? Du hast zu viel Phantasie, was soll er schon gemacht haben? Alle waren dabei. Sie mussten ja.

Willkommen im Club, lautete der knappe Kommentar einer deutschen Freundin.

1941 Polen 1
In solchen zu Schreibstuben umgebauten LKWs wurden Volksdeutsche eingebürgert und rekrutiert. Polen 1941

Wie habe ich damals reagiert? Panisch und manisch. Habe angefangen wie wild zu recherchieren. Habe Uniformen und Kragenspiele und Embleme auf Tellermützen verglichen. Und erst einmal festgestellt, dass er nur zum Fußvolk gehörte. Keine höheren Rangabzeichen, die unterste Kategorie. Ich habe aufgeatmet. Doch das muss ja nichts heißen.
Ich habe weiter geforscht und ein Buch im Internet gefunden, bei dem es um Volksdeutsche in der Wehrmacht ging. Leider eine Sackgasse, weil das Buch in so einem Zwischenreich zwischen Faszination für den Krieg und Faktenreichtum dämmert. Fakten über meinen Opa habe ich da leider nicht gefunden.

Ich habe mich bei einem Seminar über Täter in der Familie angemeldet und erst das konnte meine innere Aufruhr ein wenig lindern.

Über Weihnachten habe ich alle Heimatbücher (Text-Sammlungen der Landsmannschaft der Deutschen aus Russland), die bei meinen Eltern zuhause im Schrank standen, durchforstet und nach anderen Russlanddeutschen gesucht, die bei der SS waren. Es scheint allerdings kein sehr gängiges Thema zu sein. Viele Erinnerungen habe ich gelesen, viele Biografien und Memoiren. Alles Opfer. Keine Täter. Von einem Hinweis, dass jemand bei der Wehrmacht oder der SS gewesen wäre, nicht die Spur. Entweder wars wirklich unüblich und mein Opa war ein Einzelfall oder es wird nicht darüber gesprochen. Ist ja auch kein rühmliches Kapitel der Geschichte. Nur in einem Bericht über die Heimholung ins Reich war da dieser Satz, dass alle Deutschen, die mit einem der Trecks durch den Warthegau gekommen sind, im Eiltempo eingebürgert wurden und die halbwegs Kampffähigen unter ihnen eingezogen wurden, in die Wehrmacht, den Volkssturm und eben in die Waffen-SS.

Und in einem anderen Nebensatz wird erwähnt, dass Karl Stumpp, ein hoher SS-Offizier und selbst Russlanddeutscher, damit beauftragt war, die Volksdeutschen in den Ostgebieten zu zählen und statistisch zu erfassen. Vielleicht mit dem Ziel, sie als letztes Aufgebot Hitlers ins Deutsche Reich zu holen? Heimholung ins Reich. Was für ein Euphemismus. Dafür was dann geschah.

Die SS, das war die Schutzstaffel Hitlers, sie war Heinrich Himmler unterstellt und für Sonderaufträge zuständig. Diese Sonderaufträge mag ich mir nicht vorstellen. Die ganze Operation im Ostraum und in den Baltischen Ländern, in der Ukraine und in Ostpreußen stand unter ihrem Kommando. Sie waren ebenso für die Konzentrationslager zuständig. Für den Bau, die ganze Abwicklung, den Mord an Millionen.

Ein Stück meiner Welt ist letztes Jahr ins Wanken geraten. Mein Opa hat bei denen mitgemacht?

Das geht nicht. Ist undenkbar. Wir waren doch Opfer. Seit ich denken kann, heißt es, wir wurden verschleppt und ungerechtfertigt verfolgt, in Russland festgehalten bis lange nach dem Krieg. Wir haben büßen müssen für das, was wir nicht verbrochen haben. Das sind unverrückbare Sätze, mit denen ich aufgewachsen bin. Wie in Stein gemeißelt. Für die Ewigkeit.

Andere haben eine Geburtsurkunde, ich habe eine amtliche Verschleppungsurkunde. Verschleppt am soundsovielten (mein Geburtsdatum) nach Omsk. Sie hatten wohl im Auffanglager an dem Tag als wir kamen, keine Formulare für Kinder mehr und haben mir eine Verschleppungsurkunde ausgestellt. Anders kann ichs mir nicht erklären.

Aber zurück zu meinem Opa. Ich habe wenig Hoffnung, dass ich herausfinde, was wirklich geschah. Wie so viele, die im Krieg gewesen waren, wie so viele seiner Generation, hat er viel geschwiegen und wenig gesagt. Über diese Zeit. Und in Archiven ist auch nicht viel über ihn zu finden.

Wenn ich diesen Text für den Weihnachtswettbewerb wirklich abschicken würde, nach dem ich ihn auf 5 Seiten a 30 Zeilen gebracht habe, würde es heißen: Sorry, am Thema vorbei. Die Frage nach Gott kann ich auch nicht beantworten. Der 26. Januar, der Tag an dem ich die Ausschreibung erhalten habe, war zufällig der Tag, an dem Auschwitz befreit wurde. Wenn irgendwas mich an Gott zweifeln lässt, dann die Tatsache, dass es sowas wie Auschwitz überhaupt gab.

Aber ebenso undenkbar ist es, dass ein naher Verwandter von mir, mein Opa, dass er ein Rädchen in dieser Todesmaschinerie gewesen sein soll. Viel hat er nicht erzählt, aber dass er nie eine Waffe in der Hand hatte, nur Chauffeur und Kammerdiener eines Generals gewesen sei, dass er nie eine Waffe abgedrückt hat in diesen Jahren, das hat er gesagt. Ich will ihm gern glauben. Ein schwacher Trost. Das ganze deutsche Volk war einst voller Chauffeure und voll mit denen, die nichts gewusst haben. Oder nichts gewusst haben wollen. Nun gehören wir dazu. Ich bin angekommen, in der Mitte der Gesellschaft. So sarkastisch das auch klingen mag.

Ich richte nicht. Ich weiß nicht, auf welcher Seite ich gestanden hätte damals. Auf der sicheren Seite?

Mein Los ist, dass ich beides in mir trage. Das Blut der Russen trage ich in mir, die unter den Faschisten gelitten und sie ebenso grausam bekämpft haben. Die Gräueltaten, die russische Soldaten auf deutschem Boden oder die NKWD Männer gegenüber deutschen Zivilisten in Russland verübt haben, stehen denen der Nazis in nichts nach. Gut, die einen können wenigstens sagen, die anderen haben angefangen.

Und ich bin die Enkelin eines Mannes, der Teil der Waffen-SS gewesen ist. Wenn auch nur für kurze Zeit. Teil derjenigen, die damals gedacht haben, auf der richtigen Seite zu stehen. Auf der sicheren Seite. Die Guten sein. Das Böse vernichten.

Täter – Opfer. Opfer – Täter. Die Linien verschwimmen. Manchmal komm ich mir vor, als wäre ich genau dazwischen. Accidently inbetween.

Mein Großvater kam nach Kriegsende in englische Kriegsgefangenschaft und wurde an die Rote Armee ausgeliefert. Er hat in einem russischen Kriegsgefangenenlager überlebt und hat seine Familie wiedergefunden, auf wundersame Weise.
Das Foto, das unmittelbar danach von ihm aufgenommen wurde, zeigt einen Mann in Zivil, der um mindestes 10 Jahre gealtert ist. Er schaut noch immer geradeaus, aber mit einem gebrochenen Blick.

Die Scherbensammlerin

Viele der Scherben, die sie irgendwo aufgesammelt hat, haben blaue Muster auf weißem Grund. Solche mag Olga am liebsten, ostfriesisches Zwiebelmuster kommt hier oben relativ häufig vor, manchmal findet sie aber auch welche mit Blumen oder Ranken. Ein Bruchstück zeigt ein fliegendes Vogelpaar, das sich schnäbelt, darüber Baumkuppen. In diversen Kästchen, Dosen und Gläsern bewahrt sie ihre Schätze auf. Die Formen ähneln sich: flache Drei- oder Vierecke von irgendwelchen Wandfliesen, gebogene Stücke mit einer glatten Kante von Tellerrändern, mit scharfen Rändern oder amorph geformten Bruchstellen. Nur die Muster sind unterschiedlich.
Manchmal befindet sich auf der Lackoberfläche noch eine Maserung, ein Netz aus feinen Adern, das die Scherbe bedeckt und aussieht wie ein Plan, wie der Grundriss einer mittelalterlichen Stadt. Auf einem Markt hat sie mal eine Frau getroffen, die aus Porzellanbruch Ohrringe und Anhänger fertigt. Sie schleift die scharfen Kanten ab und lackiert die Oberflächen, veredelt sie anschließend mit Silber oder Gold. So wertet sie diese nutzlosen Überbleibsel auf, gibt ihnen einen Sinn, ein zweites Leben. Auch Olga will ihren Fundstücken einen neuen Sinn geben, doch welchen?

 

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Heute hat sie wieder zwei Scherben aufgelesen. Sie lagen am Rand der Baustelle von gegenüber, dort wo vor dem Krieg Häuser standen und für lange Jahre ein Industriegelände war mit Hallen und LKW-Parkplätzen. Dazwischen Brachland. In ihrer Straße gab es einst Häuser auf beiden Seiten, jetzt sind die Hausnummern lückenhaft. Nach 55 kommt lange Zeit nichts mehr und auf der gegenüberliegenden Seite gehen die geraden Zahlen bis weit über die 100. Sind diese Keramikscherben mit irgendwelchem Geröll für die Baustelle hierher gekarrt worden oder stammen sie noch aus dem Schutt der alten Hausruinen? Die ins Erdreich eingesunken sind als die Erde für die Lagerhallen planiert wurde und die jetzt durch das erneute Aufgraben wieder herauf geschwemmt wurden?

Die kleinere Scherbe zeigt drei hellblaue Flecken auf weißem Grund, vielleicht sind es abstrahierte Blätter, möglicherweise nur der Teil einer Girlande aus Tupfen. Die andere könnte das Stück einer Kachel sein und hat eine blaugefleckte Oberfläche. Königsblau. Darauf sind wolkige Gebilde zu erkennen, dicht geballt, aufgerastert in kleine Pünktchen, wie beim Druck. Olga sieht darin den Ausschnitt eines Gewitterhimmels über einem barocken Schäferidyll oder Wölkchen neben einer nicht mehr sichtbaren ostfriesischen Windmühle. Kann auch sein, dass es einfach eine abstrakte Kleckserei ist. Wer weiß das schon, denn womöglich entstehen diese Wolken, diese Küchenfliesenmotive nur in ihrer Einbildung. So ist es mit Scherben, sie zeigen immer nur einen Ausschnitt des Ganzen. Und wie es hinter ihren Rändern weitergeht, kann man mit Glück manchmal erahnen. Oft noch nicht einmal das. Das Gesamtbild, die Matrix, kriegt man meist nicht mehr zusammen.
Olga legt die beiden neuen Fundstücke in ihre Wird-mal-zu-einem-Mosaik-verbastelt-Kiste und denkt über das Zerbrechen nach. Das Trauma eines Falls, wenn etwas zu Bruch geht, in tausend Stücke zerspringt, zersplittert. Die Persönlichkeit als Tasse, in viele kleine Teile zerborsten, Stücke, die wenn sie geklebt und wieder geklebt werden, seltsamerweise nicht mehr zusammenpassen. Als erfahrene Restauratoren unseres Alltags versuchen auch wir alte Bruchstellen immer wieder neu zu kitten. Wir puzzeln herum und suchen nach dem fehlenden Stück. Auf englisch klingt es sogar besser: the missing link.

Glassplitter, glattgeschliffen vom Fluss oder den Wellen des Meeres, befinden sich zwar auch in ihrer Sammlung, aber die üben nicht so einen starken Sog auf sie aus. Aus irgendeinem Grund müssen es Geschirrbruchstücke sein. Am liebsten in Weiß. Wenn jemand, ein Psychologe oder ein anderer Zeichendeuter sich diese Vorliebe mal anschauen würde, könnte er schlussfolgern: Nun, ich sehe eine Nähe zu Frauen, eindeutig zu Küche oder Speisezimmer, aber auch Zerfall, Angst vor Zersplitterung bei gleichzeitiger Neigung, die Sollbruchstellen freizulegen. Da ist auch ein starker Wunsch, das Ganze wieder zusammenzubringen, zu kleben, zu heilen, die Bruchstellen zu kitten. Das Trauma wieder wegzumachen.

Aber es funktioniert nicht, es bleiben immer Narben übrig. Die Klebestellen und feinen Risse.
Sie hat nicht das gute Sonntagsgeschirr ihrer Großmutter geerbt. Vielleicht kommt sie daher, ihre Vorliebe für Porzellanreste. Doch durch die ganzen Vertreibungen gibt es keinen Nachlass aus geblümten Sammeltassen mit Goldrand, samt passenden Untertassen. Ihr bleiben nur die Scherbensplitter vom Geschirr anderer Leute. Das ist das einzige Erbe, welches ihr die Erde wiedergibt.

Sie sammelt Bruchstücke aus einer Vergangenheit, die sie nicht zusammenfügen kann, weil es einfach nicht genug Anhaltspunkte gibt. Ab und zu taucht eine Information auf, ein Splitter, ein Name oder ein Ereignis, dann wird das Geschehene für einen Moment lebendig. Doch es bleiben zu viele Leerstellen für ein vollständiges Bild. Und ihr Wühlen in der Vergangenheit bringt nur eine Sammlung unvollständiger Fragmente zutage.

Da ist die Großmutter, die in einem Viehwaggon unterwegs ist, irgendwo in der Weite Polens auf dem Weg in den Westen. Auf dieser Fahrt, mitten auf der Strecke, stirbt die zweijährige Tochter, weil sie sich an heißem Wasser verbrüht und keine medizinische Hilfe bekommen kann. Zumindest nicht ausreichende. Unter Schreien über mehrere Stunden ist sie gestorben. So hat es ihr der Vater erzählt, der den Tod der kleinen Schwester hautnah miterlebt hat.

Aber wann genau, wo genau, wie waren die Umstände? Konnten sie in ein Krankenhaus? Melitta, die Großmutter hat noch drei weitere Kinder geboren, nein sogar vier, aber sie soll sich jede Nacht in den Schlaf geweint haben. War es wegen ihrer kleinen Tochter? Wegen Nelly? Und so geht es mit vielen Dingen. Sie tauchen auf, mit ihren scharfen Rändern, das Muster geht weiter, und manchmal kann sie sogar erahnen wie. Aber was genau passiert ist, wer was getan oder gesagt hat, das verschließt sich, kann nur noch mit Hilfe der Phantasie rekonstruiert werden. Es gibt keine Fotos von Nelly. Sie muss um 1941 oder ’42 geboren worden sein. Und ist um 1944 gestorben. War da der dritte Sohn, der kleine Albert schon auf der Welt? Oder war die Großmutter hochschwanger mit ihm als es passiert ist? In Alberts Pass steht, dass er in Polen geboren wurde. War es vor oder nach diesem tragischen Ereignis? Die Geburt war Mitte März. Waren sie unterwegs durch einen kühlen Frühling? Wie war überhaupt das Wetter Neunzehnvierundvierzig auf der Strecke zwischen Nikolajew in der Ukraine und Dahme in Ostdeutschland? Kahle Felder? Frost nachts? Oder sangen die Vögel, um die ersten Sonnenstrahlen zu begrüßen? Sie denkt oft, sie muss sich nun endlich festlegen. Dem Frühling seine Attribute geben, die Geschichte weiterspinnen. Der Zug hält an, mitten auf der Strecke, sie wissen nicht, für ein paar Stunden oder nur wenige Minuten. Es sind viele Frauen und Kinder in den Waggons, die Männer sind entweder an der Front, oder in der Verbannung verschollen oder bereits tot.

Möglichkeit eins, eine halbe Stunde Zeit, um schnell eine Suppe zu kochen. Einen primitiven Kocher hat eine der Frauen vielleicht dabei oder sie haben sich etwas konstruiert mit einer Blechdose, auf die ein Topf gestellt wird. Jedenfalls setzen sie Wasser auf, irgendjemand hat Wasser aufgetrieben. Woher? Ist ein Dorf mit einem Brunnen in der Nähe? Die kleine Nelly ist kränkelnd an diesem Tag, das weiß Olga genau, das besagt die Familienlegende, sie hat die Grippe, Melitta hat sie die ganze Zeit auf dem Arm getragen und als der Zug hält, will sie schnell raus, um was für die Suppe zu organisieren. Einige Möhren vielleicht, die eine oder andere Kartoffel oder Rübe. Sie sind schon Monate unterwegs, sie hat das schon oft gemacht. Das kranke Kind vertraut sie einer Mitreisenden an. Ist es eine Nachbarin aus dem Dorf? Was ist mit ihr hinterher geschehen? Sie soll Nelly kurz halten. Das Wasser kocht. Melitta klettert raus. Vielleicht kann sie etwas Gemüse eintauschen, gegen Wäsche oder Schmuck, vielleicht sogar eine Porzellantasse, ein Erbstück. Der Zug fährt vorzeitig los. Ruckelt einmal, noch mal, jäh. Die Frau, die das Mädchen festhält, verliert den Halt. Nelly rutscht ihr aus den Händen, aus den Händen der Frau, die nicht ihre Mutter ist, vielleicht nur eine Zufallsbekanntschaft, eine Mitreisende, eine Mitleidende auf der Flucht. Sie fällt in das kochende Wasser. In den schattigen Senken liegt noch dreckiger Schnee, zu Eis veklumpt. Auf ein Mal hört man einen durchdringenden Schrei, er hält an, hört nicht auf. Melitta erkennt die Stimme ihrer kleinen Tochter nicht, so unmenschlich wirkt sie. Sie läuft zum Waggon zurück, lass es nicht Nelly sein, lass es nicht Nelly sein, im Rhythmus ihres klopfenden Herzens. Dann kommen sie an. Jetzt verlässt Olga die Vorstellungskraft wieder. Sie kann sich die Gefühle der Mutter beim Anblick des verbrühten Kindes nicht ausmalen. Und die Augen der beiden Brüder, die hinter der Mutter hervorschauen, die aus nächster Nähe alles mitbekommen. Als ob es nicht schon Albtraum genug wäre, in einem Viehwaggon irgendwohin zu müssen, weg von zuhause, in die Fremde, die eine neue Heimat werden soll. Was danach kommt? Die Weiterfahrt verzögert sich. Ein schrecklicher Unfall ist passiert. Wird das Kind in die nächste Siedlung geschafft, wo es zwar keinen Arzt, aber eine Hebamme gibt, ein Lager, ein Bett bei dem Bauernvolk, wo die kleine Nelly über Nacht ihren Verletzungen erliegt, wimmernd im Arm der Mutter. Keine Kraft mehr zum Schreien. Kann der Zug solange dort halten, bis sie beerdigt wird? Oder müssen sie den toten Kinderkörper Fremden überlassen, damit sie ihn nach ihren Riten beerdigen? Gute Menschen? Gibt die Großmutter die Bakelit-Brosche, die sie zur Hochzeit bekommen hat in diese guten polnischen Hände, die 1944 Mitleid haben mit einer Deutschen? Wer macht den Sarg für das unbekannte Kind? Alles Dinge, die sich auf den nicht auffindbaren Teilen befinden, im weißen Raum der Nichterinnerung. Spekulation. Selbst dann, wenn der Zug solange wartet bis die Beerdigung vorbei ist, oder sie den nächsten nehmen, das Geschehen bleibt unfassbar. Gibt es bei dieser Flucht, bei einem der letzten Trecks in den Westen überhaupt einen nächsten Zug? Eher wahrscheinlich ist, dass sie ganz schnell verscharrt wird, ohne Sarg, neben den Schienen. Mit vier Kindern ist Melitta losgefahren. Oder mit dreien und einem im Bauch. Und kommt mit nur drei Kindern an, drei Söhnen, die Tochter ist weg. Nicht mehr da. Und ist denn Zeit für Trauer in dem ratternden Waggon mit dem Stroh auf dem Boden? Wer kümmert sich in dieser Zeit um die verbliebenen Kinder? Weint die Großmutter, die damals jünger ist als Olga jetzt, noch keine Dreißig, oder steht sie zu sehr unter Schock? Weiße Flecken überall. Die Geschichte ist ein Sammelsurium von Scherben. Wer findet sie eines Tages, um sie zu verkleben und festzustellen, dass sie nicht mehr zusammenpassen. Ist Melitta in dieser Nacht als Nelly starb, in Scherben zerfallen? Hat sie sich, hat sich ihre Vorfahrin, danach Vorwürfe gemacht? Wär ich bloß nicht ausgestiegen, hätt ich meine Nelly nur nicht der anderen gegeben? Wär ich bloß dageblieben. Das altbekannte Lied, hätte, hätte Fahrradkette. Als ob wir’s im Griff hätten mit unseren kleinen Menschenhandlungen den Verlauf des Lebens zu bestimmen.
O malenkaja Nelly, Oh kleine Nelly, so heißt ein bekannter Tango aus dem Russland der Dreißiger Jahre. Hat Melitta ihre Tochter nach diesem Lied benannt? Noch so eine Scherbe. Ein zerborstenes Fragment, ein feiner Riss im Porzellan. Das verbrühte Kind. Die Fahrt mit dem Viehwaggon. Ein Bruch in der Geschichte. Eine Tangomelodie.
Wo verläuft dieser feine Riss bei ihr, der Nachfahrin? Ist es nur die Obsession für zerbrochenes Porzellan, die ihr bleibt oder geht es weiter? „Vorfahren müssen nachfahren und Nachfahren müssen vorfahren“, scherzt sie manchmal mit ihrer eigenen Tochter, wenn sie mit dem Rad unterwegs sind und diese nicht einsehen will, dass sie als Kind vorausfahren soll. Olga die Nachfahrin, kriegt jedes Mal Panik, wenn ihr Kind die leisesten Anzeichen einer Grippe zeigt. Sie kann es nicht ertragen wenn ihre Tochter krank wird. Sitzt das in den Genen? Packt sie die Angst aufgrund dieses einen Moments im Zug oder den zig anderen Augenblicken in der Chronik ihrer gebeutelten Sippe, in denen Kinder gestorben sind? Wegen einer simplen Grippe? Momente, die sich in der Seele verankert haben. Ihre ewige Furcht, etwas falsch zu machen. Dieses diffuse, unhaltbare Gefühl, dass etwas total schief läuft.

Habe ich ihr den richtigen Schal angezogen? Sind die Stiefel wasserdicht genug? Fenster auf oder Fenster zu? Als ob der kleinste Fehltritt, die geringste Abweichung vom richtigen Tun, fatale Folgen haben könnte. Lethale Folgen. Und das ist bei jeder kleinsten Entscheidung so.

Wie eine Heimsuchung. Scherben, Trümmer, Krieg, Olga bleibt immer wieder an denselben Bildern kleben. Gibt es denn keine Gegenwart? Lass doch die ollen Kamellen, das bringt doch nichts, bekommt sie oft von wohlmeinenden Menschen gesagt. Lieber nach vorne schauen. Lebe doch im Jetzt. Nur das ist wichtig.

Natürlich könnte sie sich wehren. Die Geister abschütteln, die Scherben einfach liegen lassen oder sie alle wegschmeißen. Ein für allemal. Doch sie kann es nicht. Irgendwas in ihr spult dieses Sammeln ab. Sie muss die Scherben aufheben und sie mit nach Hause nehmen. Wo sie in ihren Kästchen ruhen und darauf warten, eines Tages zu einem Mosaik zusammengefügt zu werden.

So läuft sie die Straßen entlang und sucht mit den Augen den Boden ab. Aber nur halbbewusst wie auf Autopilot. Und wenn kleine weiße Dreiecke in ihrem Sichtfeld auftauchen, schaut sie genauer hin, bückt sich, greift danach und steckt sie sich in die Jackentasche. Die mit den blauen Mustern, die mag sie am liebsten.

 

 

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