Warum so still?

Stille. Schweigen. Erinnern. Einige Zeit war es still auf diesem Blog. Andere Leute haben Projekte und Podcasts gestartet, Insta-Accounts mit Themen rund um Russlanddeutsche gefüllt. Jüngere, neue Generationen mit neuen Medien und neuen Sichtweisen. Vielleicht werde ich noch mal über all diese Erscheinungen berichten.

Auch wir haben so ein Projekt gewagt, in einigen Tagen geht der erste Beitrag online. Wir, das ist Edwin Warkentin vom Kulturreferat für RuDe in Detmold und ich. Als Autoren und Autorinnen konnten wir gewinnen: Eleonora Hummel, Felix Riefer, Artur Rosenstern, Katharina Heinrich, Christina Pauls und Viktor Funk.

Worum ging es?

Russlanddeutsche Erinnerungskultur anders aufzurollen, nicht frisch, das wäre verfehlt, aber neue Aspekte finden, andere Stimmen zu Wort kommen lassen. Zur Vielstimmigkeit beitragen.

Lange, lange haben wir nach einem Namen gesucht und einen gefunden:

Schweigeminuten


und als Unterzeile:
Beiträge zu einer vielstimmigen Erinnerungskultur

Der August ist ein besonderer Monat und das Jahr 1941 ein besonderes Jahr, denn ein Befehl von Stalin hat damals für die Deutschstämmigen in der SU alles ins Rollen gebracht. Die Verbannungswelle hat im großen Stil begonnen, später die Repatriierungen. Davor gab es schon Verhaftungen und Verbannungen, aber der 28.8.1941 bedeutet eine Kerbe, eine Zäsur.

Menschen der nachfolgenden Generationen sollten bei diesem Projekt ihre Sicht auf die Ereignisse liefern. So sind vorerst sieben Beiträge entstanden, die nach und nach ins Netz gestellt werden, als Videos auf Youtube und auch auf der Webseite des Kulturrefarats für RuDe.

Es sollten sehr persönliche Zugänge werden, sind es zum Teil auch. Ich hatte zeitweise richtige Schwierigkeiten. Nicht mit der Zusammenarbeit, nicht mit dem Entwickeln des Themas, der Themen oder der Gestaltung. Mit meinem eigenen Text. Denn ich habe mir Thema Nummer 5 Ausgesucht: die Fünfte Kolonne Hitlers. So der Arbeitstitel.
Mein Text wurde zunächst sperrig, hat mir im Magen gelegen wie ein Stein. Ich konnte ihm nicht beikommen, nicht nur weil das Thema komplex ist, sondern weil es mich zu sehr getroffen hat. Ich habe Hassattacken erlebt, Weinanfälle, auch Schweigeminuten.
Ich bin mir nicht sicher, ob ich daraus eine persönliche Sache hätte machen können. Mir fehlt noch immer die Distanz dazu. Zu gewaltig waren die Konsequenzen, zu groß waren die Opfer, die daraus erwachsen sind. Auch Zahlenmäßig 900.000 Menschen, die verschickt, in Sondersiedlungen und Arbeitscamps gezwungen wurden. Das zentrale Trauma.

Ich wollte eigentlich über meine Eindrücke schreiben, als eine Moderatorin von RT darüber frisch und frei und geplaudert hat. In dem Tenor: Ja, sie waren Spione, das wissen doch alle. Keine Opfer. Das musste Stalin ja machen. Dann: naja, aber nicht viele waren Spione.

Was denn, ja oder nein. Damals war ich schon unfähig, einen Beitrag zu verfassen, mich hatte dieser Clip wie eine Faust in die Magengrube getroffen und für Tage außer Gefecht gesetzt. Also habe ich das weggelassen.

Nun ist der Text und auch der Film abgeschlossen. Aber persönlich ist er nicht geworden. Habe einen historischen Abriss geschrieben. Habe mich innerlich distanziert. Habe Quellen gelesen. Keine Zeitzeugenberichte. Ich bin froh, dass ich es geschafft habe, ihn zu beenden.

Die Arbeit an dem Thema hat für mich in Wirklichkeit gerade erst begonnen. Denn es ist weit komplexer, viel verwickelter und greift in meine eigene Familiengeschichte. Mehr als ich in einen 10-minütigen Film habe packen können. Es bleibt: Eine Annäherung. Eine Deklaration. Eine Standpunktsbestimmung, mehr nicht.

Hat das Projekt trotz meiner Schwierigkeiten mit dem Thema Spaß gemacht? Eindeutig ja! Es war bereichernd, mit den Autoren und Autorinnen zu arbeiten, ihre Texte zu lesen, in Detmold die Clips aufzunehmen, oder die Entwicklung des Logos zu verfolgen, dessen Gestaltung eine Freundin übernommen hat.

Da ist diese Linie, die die Wortteile von einander trennt. Es liegt etwas Unaussprechliches dazwischen, eine Pause, auch im Logo.

So haben auch viele der Texte mit diesem dem Schweigen und dem Verschwiegenwerden zu tun. Sie sind unterschiedlich, aber wie durch Magie gibt es Verbindungen, Querverweise, sie alle greifen ähnliche Punkte auf. Ergänzen einander. Das zu sehen war schon bemerkenswert. Es geht nicht nur darum, wie wir Gedenken oder dass wir der Ereignisse, die dieser Gruppe, unseren Vorfahren, widerfahren sind, gedenken, sondern vor allem darum, wie sie wahrgenommen werden. Wie passen unsere persönlichen kleinen-großen Familiengeschichten in die Geschichte dieses Landes und Europas. Spannende Aspekte, angerissen, sicher noch nicht ausgeschöpft.

Hier unser Trailer, der alles zusammenfasst:
https://youtu.be/Ve6ulbVlDmk


Die Arbeit an dem Projekt „Schweigeminuten“ hat mich absorbiert. Aber auch bereichert. Ich hoffe, es ist ein Anstoß zu etwas. Einer tieferen Beschäftigung mit der Täter-Opfer-Frage meinerseits und vielleicht eine intensivere Beschäftigung mit der Geschichte der RuDe seitens der Gesellschaft.

Hinter den Kulissen


Mein Dank geht an Edwin vom Kulturreferat, an den anderen Edwin, unseren Kameramann und Regisseur, an das Museum für russlanddeutsche Kulturgeschichte für die Unterstützung, an Anja und Leo, die die Gestaltung übernommen haben, an Eduard fürs Bauen der Website und an euch, liebe Autorinnen und Autoren, die sich auf dieses Abenteuer eingelassen haben.

Seid gespannt und save the date:

Der erste Beitrag, der von der Schriftstellerin Eleonora Hummel, erscheint am 23.7. auf der Youtube-Seite des Museums und behandelt die Erzählkultur oder ihr Fehlen in vielen russlanddeutschen Familien.

Mehr Infos und die Links zu den Videos (sobald sie denn erscheinen) auf der Website des Kulturreferats:

https://www.russlanddeutsche.de/de/kulturreferat/projekte/schweigeminuten.html

Tagesgedicht 17. März – Artur Rosenstern

Ausschnitt aus Lucas Cranach d.Ä, Adam und Eva, 1526


wer will die drecksarbeit machen?

wer will die drecksarbeit machen und
das fallobst vom baum der erkenntnis*
einsammeln wer soll es in gläser für den
politischen winter und die zeit danach einkochen?

scharfgeschliffene eloquenz steht zurzeit
hoch im kurs die schuldigen sind
längst ausgemacht und warten an der
haltestelle die sie sich selbst gemacht haben
auf die blankpolierten schwarzen raben**
hoffen zugleich dass die ewigen reiter
nicht geweckt werden

falls ihr später (die in der endzeit lebenden) fragen
solltet wie es dazu gekommen ist müsst ihr
wissen dass es in dieser in das gewissen-
beruhigende neonlicht getauchte halbzeit mit
ihren frühlingshaft blühenden landschaften in
der taiga latente scharfmacher gab
die vor selbstzufriedenheit strotzenden großspurig
fahrenden und einspurig denkenden strippenzieher

die spendable sonne bewahrte wie immer ihre
absolute neutralität und leckte freund und feind
mit ihren alles ans licht bringenden strahlen die
wunden aus der alles wissen wollende mond
bespitzelte uns auch bis in unsere liebesnester

 

Artur Rosenstern

aus dem Band:
Schlafende Hunde VI, Politische Lyrik, Hrs. Thomas Bachmann,
verlag am park, Berlin 2019
ISBN-9783947094394


*nach Marcus Neuert
**so nannte das Volk in Russland die Autos des NKWD

Jeden Tag ein Gedicht – 1. März

zwischen den zeilen

lasst mich verloren aussehen als jemand der
sich im netz der gefühle verfangen hat
als jemand der umwege gegangen ist auf
der suche nach gold wahrheit und nach
essenz als jemand der auf die klugen stimmen der
anderen nicht gehört hat als jemand der vor
einer zerbröselten tonschale sitzt vor fein
zermahlenen scherben seiner selbst und
klagend seine stimme gen himmel erhebt

warum ich
wieso nicht ein anderer…

worthülsen auf die gleich wie laut sie auf
den teils moosbewachsenen beton fallen
kein echo folgt geschweige denn eine
antwort vielleicht später bei guter
führung zwischen den zeilen

Artur Rosenstern


Bis zum 21.3.  möchte ich hier jeden Tag ein Gedicht posten. Bis zum 21., weil es der Tag der Poesie ist. Jeden Tag eine andere Stimmungsskizze von Poeten und Poetinnen aus den Reihen derjenigen, die beide Länder in sich tragen: Russland und Deutschland.


Dieses Gedicht stammt aus
‚Schmerz-Wort-Tropfen‘ von Artur Rosenstern, ostbooks Verlag, 2017,
ISBN 978-3-947270-00-2


Minderdichtung? Das sitzt.

Agraridylle? Zwangsarbeiter am Weißmeerkanal
Agraridylle? Zwangsarbeiter am Weißmeerkanal

Vor einigen Wochen, als wieder Vollmond war, habe ich mich furchtbar aufregen müssen. Auf einer Tagung für russlanddeutsche Autoren und Journalisten in Schweinfurt hat ein älterer Herr, ein Prof. Dr. phil. habil. Dr. h.c. mult. referiert, der dieser Literaturgattung schon vor dreizehn Jahren schlechte Kritiken beschert und sie sogar als Minderdichtung bezeichnet hat.

Damals ist sein Aufsatz in dem Band Die andere deutsche Literatur, Istambuler Vorträge, erschienen. Und 2014  hat er seinen Text noch einmal eins zu eins im BIZ-Boten (Magazin des Institutes für ethnokulturelle Bildung, das in Moskau erscheint) publiziert, ohne ihn an die Entwicklungen der letzten Jahre anzupassen. Dort schreibt er Sätze wie:

Wenn man […] einen Blick auf die Seiten der zwischen teuer gestalteten Buchdeckeln gesammelten dichterischen Ergüsse wirft, bleibt die Erinnerung an Schillers Votivtafel über den Dilettanten nicht aus, in der es heißt:
Weil ein Vers dir gelingt in einer gebildeten Sprache,
Die für dich dichtet und denkt, glaubst du schon Dichter zu sein

Er bemerkt außerdem, in Russland hätten diese Autoren aus Angst vor Repressionen sich ‚ins Familiäre, in die Agraridylle [geflüchtet], in die der Natur und [hielten] Abenteuer eines Ferkels, das in die Jauchegrube stürzt und mithilfe von Nachbarn gerettet wird, für literaturfähig.‘

Seine Schlussfolgerung lautet:

Der russlanddeutschen Literatur ist aufgrund ihrer Subjektivität, ihrer thematischen (gefeiert wird die Agraridylle des 19. Jahrhunderts) und formalen Anachronie (bevorzugt wird gegenwärtig die Sonettform, ohne dass die Texte in dieser Form eine dialektische Struktur aufwiesen) und ihrer sprachlichen Schwächen, die zwischen einem „Küchendeutsch“ und erahnter Orientierung an den Klassikern des 18. Jahrhunderts sich hin und herwinden, der Platz einer Minderdichtung zuzuweisen.

Auch auf der Tagung steht er zu seinem Urteil, dass diese Gattung literarisch nicht überzeugend sei, dilettantisch geschrieben und rückwärtsgewandt. Allerdings lenkt er am Schluss ein, dass in den letzten Jahren wohl eine Entwicklung stattgefunden hätte, die erfreulich sei, weg von den schweren Themen.
Das hätte er im letzten Almanach des Literaturkreises bemerkt.

Am Tag darauf kam Herr Proffessor Graf von Nayhauss, so hieß der Redner, noch einmal dazu, um den rückwärtsgewandten Dilettanten kurz etwas über den Sinnhorizont des Autors und den Sinnhorizont des Lesers anhand eines Diagramms näherzubringen. Da habe ich mich vollends in den Film Club der Toten Dichter versetzt gefühlt.

Ansonsten war die Tagung super organisiert, die Autoren durften im Rathaus eine Lesung geben und es gab Seminare dazu, wie man die neuen und die alten Medien nutzt, um mehr Öffentlichkeit zu gewinnen.

Mit Abstand von fast einem Monat betrachtet, kann ich sehen, dass Herr von Nayhauss selbst nicht unbedingt alle Nuancen der Werke russlanddeutscher Autoren wahrnehmen kann, zumindest nicht die derer, die auf russisch geschrieben sind, denn er selbst beherrscht diese Sprache nur rudimentär und war bloß einige Male in Moskau oder Kasachstan. Und da er weder die russische noch die russlanddeutsche Kultur kennt, trotz seiner von ihm ins Spiel gebrachten russlanddeutschen Großmutter väterlicherseits, die 1909 nach Schlesien gezogen ist,  könnte er die den Texten immanenten Assoziationen und doppelbödigen Andeutungen sowieso nicht nachvollziehen.
Jedoch gleich allen Autoren eine mangelnde Variation im Versmaß und fehlende Wahrnehmung der Nuancen der deutschen Sprache zu bescheinigen, ist sehr pauschal und entspricht sicher nicht der Realität und auch nicht einer fundierten wissenschaftlichen Arbeitsweise.

Zurecht hat sich die Schriftstellerin und Journalistin Nelli Kossko über den Satz empört, die russlanddeutschen Autoren würden sich im eigenen Elend suhlen, und zwar im Zusammenhang mit dem Aufgreifen der Vertreibungsthematik und den Deportationen. Die Semantik dieser Worte rückt diese, ihrer Meinung nach, unverdienterweise in die Nähe eines Schweinestalls und das sei ein deutliches Vergreifen im Ton. Soviel zu Nuancen.

Der Grund für seine Wortwahl und seine Ablehnung der Thematik mag darin begründet sein, dass Nayhauss der Kriegskindergeneration angehört und selbst ein Flüchtlingskind war. Es wäre also nicht verwunderlich, dass er das explizite Schmerz-Beschreiben der Erlebnisgeneration nicht ertragen kann. Möglicherweise kann er nicht anders als alles, das auf das Leiden in dieser Zeit hinweist, abzublocken und kleinzureden.

Eine lange und wechselvolle Geschichte wird das euphemisch genannt, worauf die Deutschen in Russland zurückblicken können. Wenn Menschen, die Traumata dieses Ausmaßes erfahren haben, darüber schreiben, dann ist es nicht immer glatt und kunstvoll. Nicht jeder kann Worte für das Unaussprechliche finden. Aber wenn es geschieht, dass jemand versucht zu sprechen, worüber so viele schweigen, dann kann man doch allein das honorieren. Diese Worte haben einen ganz anderen Wert, nämlich den des Erinnerns, des Bewahrens für die künftigen Generationen und der Bewältigung. Und wenn die Sprache hakt und die Plots nicht ausgeklügelt sind, wenn stört es? Vielleicht darf man an diese Schriften nicht das Maß von hoher Literatur anlegen. Naive Malerei hat doch auch ihren Platz in der Kunstgeschichte.

Und last but not least gibt es in den letzten Jahren durchaus auch neue Stimmen, neue Autoren, die das Bild erweitern dürften. Wie zum Beispiel Eleonora Hummel, Artur Rosenstern oder Max Schatz, um nur einige wenige zu nennen. Sie sind in jungen Jahren nach Deutschland eingewandert und man kann ihnen zumindest keine mangelhafte Kenntnis der deutschen Sprache vorwerfen. Immerhin sagte Günter Grass über Hummel, sie sein die einzige weibliche Autorin in Deutschland, die er lesen mag.

Ich weiß nicht, ob es an dem Vollmond lag oder an dem, was oder wie der Literaturkritiker es gesagt hat. Es sind Sicherungen durchgebrannt. Nicht nur bei mir. Allerdings meinten viele nach diesem Bad der Gefühle, dass in der Literatur Kritik zum Geschäft gehöre und es professionell wäre, damit gelassen umzugehen. Ich kann darin leider nichts Professionelles sehen, mir kommt es höchst masochistisch vor, gerade diesen Kritiker einzuladen. Und das zu einem Treffen, wo Schreibende aus mehreren Generationen versammelt sind. Der ersten Zusammenkunft dieser Art seit 2006.

Eigentlich kann ich aus heutiger Sicht diesen ganzen Auftritt nur als Satire betrachten, zumal Herr Professor Hans-Christoph Graf v. Nayhauss nach Beendigung des offiziellen Teils zu fortgeschrittener Stunde, ein schönes Gedicht rezitiert hat, um uns triefnasigen Russlanddeutschen mal zu zeigen, wie man auf eine lustige, positive Art dichten kann. Er kennt überhaupt viele Verse alter Meister auswendig und zitiert sie sehr ausgiebig. Diesmal wars:

Ritter Prunz zu Prunzelschütz

Das war der Prunz zu Prunzelschütz:
Er saß auf seinem Rittersitz
mit Mannen und Gesinde
inmitten seiner Winde.


Die strichen, wo er ging und stand,
vom Hosenleder über´s Land
und tönten wie Gewitter-
so konnte das der Ritter.

In Augsburg einst, zu dem Turnier
bestieg er umgekehrt sein Tier
den Kopf zum Pferdeschwanze
und stürmte ohne Lanze.

Doch kurz vor dem Zusammenprall
ein Donnerschlag – ein dumpfer Fall-
Herr Prunz mit einem Furze
den Gegner bracht´ zu Sturze.


(die übrigen 8 Strophen spare ich mal aus.)


Jetzt weiß auch ich wie lustig geht, vielen Dank! Traurig finde ich allerdings, dass Herr von Nayhauss bis heute so ziemlich der einzige Kritiker ist, der sich dieser Literaturgattung überhaupt zuwendet. Weder Helmuth Karassek noch Iris Radisch haben sich je damit befasst, dabei behauptet sie von sich, es wäre ihr ein Anliegen, die osteuropäische Literatur bekannter zu machen.

Ein Gutes hat diese Debatte: ich habe mich gefragt, warum ich so wenig über die russlanddeutsche Literatur weiß. Und habe mir vorgenommen, in Zukunft mehr davon zu lesen und mir ein eigenes Urteil zu bilden. Der erste Schritt ist getan, ich habe in Schweinfurt einige Autoren persönlich kennengelernt und habe über andere, die nicht mehr Leben, viel gehört.

Einer der Anwesenden, Edmund Mater beschäftigt sich übrigens seit sechs Jahren damit, in einer vielbändigen Online-Enzyklopädie alle Deutschen aus Russland zu versammeln, die jemals etwas publiziert haben. Und zwar egal wo sie leben, egal in welcher Sprache sie schreiben oder ob es belletristische Werke oder Sachthemen sind. Hier der Link zu den bisher erfassten acht Bänden des Autorenlexikons: http://www.edarmer.de/autorenlex_de.html

Er kommt mittlerweile auf über 6000 Einträge und sein digitales Nachschlagewerk wird täglich von mehreren Tausend usern aus aller Welt angefragt und heruntergeladen. Nur in diesem Land scheint das Interesse marginal zu sein.

Die Domaine http://www.rusdeutsch-autoren.de/ ist längst erloschen, man kann sie aber vom Inhaber erwerben, für knappe 300,- Euro. Der Literaturkreis der russlanddeutschen Autoren ist seit 20 Jahren aktiv und bringt Anthologien hervor, veranstaltet Lesungen. Der Gang zur hiesigen Stadtbücherei war jedoch ernüchternd. Ich gebe ein paar Namen in die Suchmaschine ein und es kommen statt Heinrich Rahn, Heinrich von Kleist. Statt Viktor Heinz, eine Operette von Lehar und bei Max Schatz erscheint die DVD vom kleinen Hobbit (lieber Max, das sollte keine Anspielung sein!). Klassiker wie Dominik Hollmann, Nelli Däs, Ida Bender oder Theodor Kröger sind überhaupt nicht vorhanden, aber Eleonora Hummel ist im Bestand. Sogar mit zwei Romanen. Mit den Fischen von Berlin und der Venus am Fenster. Damit fang ich mal an.

Wie nennt man diesen Zustand? Unterrepräsentiert? Ich schau jedenfalls, wohin mich die Reise führt. Und – um mal eine subtil-literarische Metapher zu benutzen: der letzte Drops ist noch nicht gelutscht!

die Beste Reaktion auf eine feindliche Kritik: lächeln und vergessen. Navokov
Die Beste Reaktion auf eine feindliche Kritik –  lächeln und vergessen.  Vladimir Nabokov

Viele Blickwinkel, ein Buch

Der neue Almanach ist da. Seit zwanzig Jahren existiert der Literaturkreis der Deutschen aus Russland bereits. Und wie fast jedes Jahr erscheint auch 2015 ein Jahrbuch mit ausgesuchten Werken –  Dichtung wie Prosa. Bei der diesjährigen Buchmesse in Leipzig hat der neue Herausgeber der russland-deutschen Literaturblätter Artur Böpple den Almanach vorgestellt. Es gab einen Stand und auch eine Lesung. „Der Saal war auch recht voll, wohl wegen dem recht bekannten Politjournalisten, der an dem Tag auch gelesen hat,“ flachst der Autor. Das ist jetzt zwar kein britisches, sondern das Understatement von Leuten, die im 18.  Jahrhundert in weite Steppen ein- und 250 Jahre später wieder zurückgewandert sind, mit dem ganzen Paket, was dazwischen liegt. Denn die Autoren dieses Buches haben volle Säle verdient.

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Almanach-Vorstellung auf der Leipziger Buchmesse

Das ist schon der zweite dieser Bände, der mir vor die Brille kommt, hier sind weitere Infos auf der Seite des Literaturkreises. Doch anders als der Titel Fremde Heimat Deutschland? suggeriert, haben nicht alle Beiträge mit zwischenkulturellen Belangen, mit Geschichte und Verbannung zu tun, aber doch sehr viele. Ein Autor spricht über transgenerationale Weitergabe und ein anderer liefert einen amüsanten anthroposophischen Einblick in die Mentalität unterschiedlicher Aussiedler-Generationen. Bissig und treffend. Ich wünschte, dieser Edgar Seibel würde einen Vortrag halten über das Thema, am liebsten hier in der Gegend…

Was mir auch auffällt, es ist viel von Flüssen die Rede, die Donau kommt vor und der Dnjepr, der Rhein und die Wolga. Sie sind die Lebensadern in so manch einer Erzählung. Und natürlich tauchen Familienkonstellationen und Familiengeschichten auf, Omas – Enkel, Schwestern – Mütter. Aber warum natürlich? Nur weils Russlanddeutsche sind? Vorsicht, Vorurteil!

Einige der Texte sind ganz losgelöst von dem Thema Migration und Deportation, Leid und Unrecht. Diesmal gibt es sogar eine eigene Abteilung – hinten zwischen Nachrufen, Rezensionen und Interviews, aber noch vor den Kurzlebensläufen stehen die Integrations- und Zeitzeugenberichte. Sie haben ihren berechtigten Platz, aber sie dominieren nicht die Welt der Autoren. Es gibt Raum für anderes.

Insgesamt sind über ein Dutzend Autoren dabei, darunter welche, die vor Siebzig Jahren geboren sind und auch solche, die gerade mal Mitte zwanzig sind.

Ich bin nun mein Leben lang Aussiedlerin (seit 35 Jahren bewusst) und begreife erst jetzt so langsam, wie viele Kunst- und Theaterschaffende, wie viele Erzählerinnen, Verdichter und Sprachakrobaten es unter meinen Landsleuten gibt. Ach, ich merke einfach, wie wenig ich noch weiß, von dem Leben der Deutschen in Russland, und auch von dem der Aussiedler hier, die zehn, zwanzig Jahre nach uns gekommen sind und nicht mehr mit ganz so offenen Armen empfangen wurden.

Naja, kein Wunder, wenn man nicht in der Landsmannschaft oder im Literaturkreis organisiert ist, können Neuerscheinungen schon mal an einem vorübergehen – werden ja nicht groß besprochen, weder in der Literaturbeilage der Zeit noch in den Broschüren der großen Verlage. Oder bei meinen sonstigen Quellen für neue Bücher. Sehr zu unrecht, denn es sind gute Sachen.

Ich kann nicht alle besprechen, es ist ein schöner Strauß an Prosatexten und Lyrik entstanden und wenn ich jetzt hier jemanden hervorhebe, dann vielleicht weils zufällig die Themen betrifft, die mich umtreiben. Zum Beispiel das REQUIEM von Anna Achmatowa, das Wendelin Mangold nicht nur frei übersetzt, sondern sehr souverän nachgedichtet hat. Es geht um die Jeshowstschina, die grauenvolle Zeit von 1936 bis 1938. Beeindruckend. Ich finde auch ein Detail, das ich noch nicht kannte: die Autos, mit denen der NKWD seine Opfer abgeholt hat nannte man im Volksmund „schwarzer Rabe“ oder „schwarze Marusja“. Das passt zu einer Kurzgeschichte, an der ich gerade arbeite… Ein Geschenk, eine weitere kleine Scherbe bei meiner Spurensuche.

Ich habe etwas erfahren über Viktor Heinz, der bei meiner Suche schon mal als Autor eines Bches über Dialekte aufgetaucht war und zu dem ich jetzt konkrete Texte, Hintergründe und auch ein Bild habe. Hier ist eine akustische Kostprobe, sein Text ‚Der neue Pygmalion‘, gelesen von Carola Jürchott.

Jetzt habe ich also neues Futter, eine Liste, die ich abarbeiten kann, lauter Bücher und Lebensläufe – ich glaube es wird Zeit für eine eigene Literatur-Rubrik hier auf diesem blog…

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Fremde Heimat Deutschland?
‚Literaturblätter der Deutschen aus Russland‘ – Almanach 2014
Artur Böpple (Hg.)
Paperback, 14 x 21 cm, ca. 344 S., 14,90 €
ISBN 978-3-943583-53-3

Es ist im Anthea Verlag erschienen, hier der Kauflink bei Ama***
Und über die Seite des Literaturkreises kann man das Buch auch beziehen.

Glückliche Landung

Zum Buch „Planet Germania“ von Artur Rosenstern

Sie sind gelandet, auf dem schönen Planeten Germania. Die beiden Freunde Andrej und Murat begegnen sich in einem Sprachkurs in einer niedersächsischen Metropole, der erste ein Russlanddeutscher aus Kasachstan der zweite ein Kasache. Sie werden unzertrennlich und bewältigen gemeinsam die ersten Schritte in der neuen Welt mit all ihren Irrungen und Wirrungen.

Artur Rosenstern ist ein humorvolles Schelmenstück gelungen, bei dem die Helden unfreiwillig in scheinbar ausweglose Situationen stolpern, aber Dank ihrer unverbrüchlichen Naivität und einer Prise Glück aus jedem Fettnäpfchen heil wieder rauskommen.

Flurparties, Kaffeefahrten für Merinowolldecken und textilfreies Baden gehören ebenso zu ihren transplanetarischen Abenteuern wie der Besuch bei einem Psychotherapeuten. Ständig getrieben von dem Wunsch, es zu etwas zu bringen, sind sie am Ende um viele Erfahrungen und um so manche Erkenntnis reicher. Alle Zusammenstöße mit der neuen Wirklichkeit meistern die beiden Freunde mit einer gehörigen Portion Witz und Andrej kommt diesem gewissen Etwas in dem Spruch auf den Grund: „Hast du etwas, bist du etwas“. Und schafft es sogar am Ende ein waschechter Wessi* zu werden. In einem Keller in Königsberg/Kaliningrad wird es sogar richtig metaphysisch.

(*Die Geschichte spielt in den Neunziger Jahren, als man in DM bezahlte und sich noch Stücke aus der Berliner Mauer brach und als ganz viele Aussiedler nach Deutschland kamen.)

Der eine oder die andere wird sich beim Lesen an die Momente erinnern, wie es war, ganz frisch im neuen Land zu sein und dabei schmunzeln oder sogar auflachen, wie zum Beispiel als … Aber nein, verraten wird nichts, nur soviel, dass die Abenteuer der beiden Freunde in einem Duell der Weihnachtsmänner gipfeln. Einem blaugekleideten Ded Moros und einem von Gerhard Schröder gesendeten Weihnachtsmann im roten Gewand. Grandios. Aber jetzt verrate ich doch zu viel.

Ach, und das „Lied vom Freund“ von Wladimir Wyssotzki spielt an einer Stelle ebenfalls eine nicht unwesentliche Rolle, deshalb hier ein Link zu dem Video. Als kleine Hilfe für all jene, die nicht so gut mit diesem Singer-Songwriter vertraut sind, dass bei ihnen sofort die Melodie im Kopf erscheint, sobald der Titel erwähnt wird…

Und natürlich, nicht zu vergessen, der Link zu dem EBook von Planet Germania, voilá.

 

Das Buch wurde 2015 im Verlag „Die Bücherfüchsin“  übrigens neu aufgelegt und hat ein neues Aussehen bekommen:

cover_p_germania_1000 x 1600

Und für alle, die es lieber oldschool mögen:
Artur Rosenstern, Planet Germania, Roman
180 Seiten | 12,5 x 20 cm | broschur |

Verlag Monika Fuchs | Hildesheim 2015

ISBN 978-3-940078-40-7
11,90 EUR

http://verlag.buecherfuexin.de/planet-germania/

Wer übrigens noch mehr über den Autor wissen möchte, hier seine Website: www.artur-rosenstern.de

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