Tagesgedicht 18. März – Wendelin Mangold

Anti-Prosa

Sagte er, sagte sie, sagte er, sagte sie, sagte er, sagte sie
Sagte er, sagte sie, sagte er, sagte sie, sagte er, sagte sie
Sagte er, sagte sie, sagte er, sagte sie, sagte er, sagte sie
Sagte er, sagte sie, sagte er, sagte sie, sagte er, sagte sie
Sagte er, sagte sie, sagte er, sagte sie, sagte er, sagte sie
Sagte er, sagte sie, sagte er, sagte sie, sagte er, sagte sie
Sagte er, sagte sie, sagte er, sagte sie, sagte er, sagte sie
Sagte er, sagte sie, sagte er, sagte sie, sagte er, sagte sie
Sagte er, sagte sie, sagte er, sagte sie, sagte er, sagte sie
Sagte er, sagte sie, sagte er, sagte sie, sagte er, sagte sie
Sagte er, sagte sie, sagte er, sagte sie, sagte er, sagte sie
Sagte er, sagte sie, sagte er, sagte sie, sagte er, sagte sie

Wendelin Mangold


aus

Wendelin Mangold
HYMNE AUF DEN MENSCHEN

Konkrete Poesie und Prosa

Edita Gelsen
ISBN 9783 9445965030

Tagesgedicht vom 16. März – Nora Pfeffer

Die Oma strickt, die Oma strickt,
gebraucht die Stricknadeln geschickt.
In ihrem Lehnstuhl vor dem Hause
da strickt sie gerne ohne Pause.
Und nebenan schnurrt voller Wonne
ein Kätzlein in der Abendsonne.


In ein Faß
fällt die Maus
Arme Maus,
kann nicht raus
Im dem Faß
ist es naß.
Denkt die Maus
„Was ist denn das?“

 

aus

Meister Hase ist Friseur,
Nora Pfeffer, Wladimir Beseljuk,
Alma-Ata, 1981

Kinderreime, Kinderverse, gemeinsam mit dem Illustrator Wladimir Beseljuk hat Nora Pfeffer 1981 in Kasachstan dieses Buch herausgebracht.
Leichtigkeit und fröhliche Gedichte für die Kleinsten. Nach einem solchen Leben voller Brüche und Leid. Auf diesen Widerspruch angesprochen sagte sie:
Fröhlichkeit ist keine Flucht vor der Traurigkeit, sondern ein Sieg über sie.“

Ich bin eher mit Nossow und Nesnaika aufgewachsen. Dem weisen nichtwissenden Knirps. Bücher auf Deutsch gab es bei uns, mein Vater hatte in Moskau einen Karton Orangen und ein oder zwei Kinderbücher aus der DDR ergattert und mir vorgelesen. Aber die Kinderbücher von Nora Pfeffer kannte ich nicht. Als dieses mit dem Hasen in Kasachstan erschien, waren wir längst in der BRD und ich las eher Bücher wie „Geheimnis um..“ von Enid Blyton.

Aber sie schrieb auch ernste Gedichte. Wer mag, kann eins über Abschiede hier lesen.

Tagesgedicht 14. März – Andreas Peters

MADONNA

Kapelle irgendwo im tiefen bayern an der
grenze zu österreich. salzburg. madonna
der straßen, das gebet eingerahmt an der
wand. porträts drunter: drüber: gefallen in
russland 1916/17. joseph, johannes. 1943.
paul, sepp. soldaten und gefreiter der ersten
kompanie. was haben sie verloren in den
untiefen russlands, im schlund des roten
drachen der bolschewiken? hatten sie ein
gefallen an dem land von puschkin, tolstoi,
elisabeth II? was haben sie da verloren außer
leben, vaterhaus, muttererde: für den kaiser &
den engel aus dem abaddon*? ich bin halbes
jahrhundert danach in deutschland gelandet,
in der nähe der madonna der straßen, was
hat mir gefallen in deutschland, dem land
von heinrich kleist & andreas gryphius? ich
frage mich: was habe ich hier verloren: die
heimat, die sprache, die vorfahren, die mir
die vorfahrt nahmen? was habe ich hier
gefunden als verlorener sohn? ja, ich lebe &
leibe, mal beseelt, mal entgeistert. werde ich
jemals vermisst? ich hätte die madonnina
fragen können, ich habe geschwiegen. sie
auch. nur das gebet an der wand bleibt – ein
gedicht oder das gedicht buchstabiert das gebet
& wird handgemalt von roberto ferruzzi für
die gefallenen: kinder der straßen & engeln.

Andreas Peters

(*abbadon = Apokalypse: Abgrund)

Tagesgedicht vom 9. März – Agnes Gossen

Tsuchiya Koitsu (1870-1949), Mondnacht bei Enoshima

Erinnerungsmeer …
Schwimme zu anderen Ufern
jede Nacht wieder.

Agnes Gossen

 

aus Flügelschlag der Zeit, Agnes Gossen, BMV Verlag Robert Burau, 2018
ISBN 9783 94 7542031

Tagesgedicht 6. März – Nelly Wacker

Brücken zur Jugendzeit

Arm ist der Mensch, viel ärmer als ein Bettler,
wenn er im Alter keine Jugendfreunde hat,
wenn keine Brücke ihn verbindet
mit seinem Heimatdorf, mit seiner Heimatstadt.
Ja, arm, wenn er kein Wiedersehen feiert
mit Orten und Gefährten seiner Jugendzeit,
wenn seine Jugendfreuden er versenkte
im abgrundtiefen Brunnen der Vergessenheit.
Wie einsam und allein muß er sich fühlen,
wenn er kein lebenslanges Bündnis kennt
und die Erlebnisse wie abgetragne Schuhe
im Feuer jedes Herbstes nüchtern mitverbrennt…

 

Nelly Wacker
(* 20. Oktober 1919 in Hohenberg bei Simferopol, Krim; † 26. März 2006 in Köln)

aus:

Nelly Wacker

Es eilen die Tage …
Gedichte
Landsmannschaft der Deutschen aus Rußland, 1998

ISBN: 9783923553150

Tagesgedicht 3. März – Wendelin Mangold

Selbstbildnis

Bein
Schoßt
Auf dem Bein
Entlang
Den gebügelten
Main,
Von Schaffen-
Bis Schwitzburg.

Strahlenden
Augs,
Romantik-
Bewimpert
und belidert:
Mir ist wohl
Ausgewintert
Und ausgefliedert.

aus:

Wendelin Mangold
HYMNE AUF DEN MENSCHEN

Konkrete Poesie und Prosa

Edita Gelsen
ISBN 9783 9445965030

Tagesgedicht 1. März – Gerhard Sawatzky

Hier, um die Kraft, Dränglichkeit und Arbeiterklassen-Gesinnung zu illustrieren, ein poetisches Beispiel aus der Sammlung sowjetdeutscher Dichtung.

Schmiedefeuer und brennstoffreiche Kohle
Schmiedefeuer und brennstoffreiche Kohle

In der Schmiede

Gerhard Sawatzky

I

Schwarz und blank,
brennstoffreich
an dem Schmiedeherde
liegt die Kohle.
Jahre, Jahrelang
hat sie geruht
im tiefen Schoss
der alten Mutter Erde.

Durch Höllenhitze, Zentnerdruck
ist das schwarze Gold gediehen.
Der Kohle hat die lange Qual
erst Schaffenskraft verliehen.

II

Schaffensmutig,
ernst und kühn
voll Kraft und Hass
die beide – lang geschürt,
steht am Fluss der neuen Zeit
das Arbeitsvolk.
Zum fremden Wohl
hat ewiglang
den Hammer und die Sichel es geführt.

Lasttierqualen und Herrscherwut
haben die schlummernden Kräfte entfacht.
Zum Freiheitskämpfer ist‘s durch Pein,
zum schaffenden Menschen erwacht.

III

Schwarz und dunkel ist die Nacht,
gar mancher liegt in Ruh;
doch in der kleinen Schmiede pocht
und klingts und hämmert immerzu.

Das Kohlefeuer glüht und sprüht
und loht beim Riesenkraftentfalten
es weicht den Stahl und hilft dem Schmied
ihn nach Belieben zu gestalten.

Die Schmiede stehn im Wiederschein
der roten Glut. Die Augen strahlen,
von blosser Arme kräft‘gem Schwung
die Hämmer sausend niederfallen.

Der Amboss klingt in wildem Takt,
die Hämmer immer ems‘ger tanzen.
Aus alter Pflugschar schmiedet man
Nicht Spaten – Partisanenlanzen.

Ein Buch von 1931 – Teil II

Die kurze Blüte im ukrainischen Zentrum sowjetdeutscher Literatur.
Annelore Engel-Braunschmidt

Beim letzten Mal ging es um die Machart des Sammelbandes sowjetdeutscher Dichtung von 1931, jetzt kommt der Inhalt dran. Dabei mache ich es mir sehr einfach und lese selektiv. Die Schmiede-Verse, die Anti-Moses-Verse und die Traraa-Kommunismus-ist-prima-Verse haben zwar eine eigene Kraft und Zielgerichtetheit, wirken auf mich in ihrer drängenden Beteuerung der kommunistischen Ideologie eher befremdlich und sind sicher nicht mehr zeitgemäß. Darum kann sich die vergleichende Literatur kümmern.

Kinderzeichnung aus der Zeitschrift „Tschish“ von 1931

Mir fallen eher die anderen Texte auf, die mundartlichen und satirischen Stücke aus der Feder von Hans Bachmann zum Beispiel und die erstaunlich zeitlose Kurzprosa von Gustav Brand.
Wie er schreibt, gefällt mir (abgesehen von einem schrecklich propagandistischen Schlafepos) und ist nicht besonders bejahend, könnte sogar als defätistisch gelten. Wenn ich Stalin wäre, würde ich ein Auge auf ihn werfen, oder zwei Gestalten schicken, die sich in seine Stube setzen, rauchen, die Kippen in der Untertasse ausdrücken und dann sagen, Nun, Genosse Dichter, so kommen Sie ma mit.

Dunkle Vergangenheit
Bin erstaunt. Wo es weniger ideologisch wird, sondern menschlicher und tragischer, wird’s richtig gut. Eine der Geschichten (Der fremde Gast) fängt zwar mit dem Satz an: Sonja Perwomaiskajas Leben der letzten zwei Jahre war ein einziger Rausch von Daseins- und Lebensfreude. S. 185

Doch, wie nicht anders zu erwarten, gibt es Untiefen, die schon bald diese Freude trüben und uns in Sonjas Vergangenheit und in die Welt von verwahrlosten Kindern führen. Millionen solcher Unbeaufsichtigter (besprizornye, besprizorniki), wie sie genannt wurden, haben nach den Wirren der Revolution und Anfang der 1930er insbesondere die großen Städte der SU bevölkert. (Später, aber das war lang nach dem Erscheinen dieses Bandes, kamen Kinder von Volksfeinden und Kriegswaisen dazu.)

Der Verfasser Gustav Brand, ist ein deutscher oder österreichischer Kommunist, der in ersten WK als Kriegsgefangener nach Russland kam und geblieben ist. Ich mag vielleicht übertreiben, aber einige seiner Beobachtungen oder Kurzprosatexte sind gestochen scharf, realistisch, zwar in Richtung Kommunismus geneigt aber (bis eben auf diesen einen Ausrutscher) nicht propagandistisch-dumpf.

Randnotiz: Jugendbanden verwahrloste Kinder der 1930er

Auf einer russischen Erinnerungsseite im Netz heißt es: Die Jugend vieler sowjetischer Kinder in den 1930er Jahren war schwerlich fröhlich und sorglos zu nennen. Viele von Ihnen kannten ihre Eltern nicht oder kamen in miese Gesellschaft. In solch großen Städten wie Moskau, gab es immer eine Unmenge von obdachlosen Kindern, die das Leben auf der Straße zu Kriminellen gemacht hatte. Je nach Schwere des Verbrechens konnten damals auch Zwölfjährige mit Strafen wie Erschießen oder Lager belangt werden. Politische Verbrechen wurden auch bei Kindern als sehr schwer angesehen.

In den Wirren der Revolution, der Verhaftungen und des Krieges landen viele Kinder auf der Straße

Metzle-Supp
Etwas heiterer kommen da die Schwänke des in der Ukraine geborenen Hermann Bachmann daher. Der Schwank, wenn denn die mundartlichen Kolonischta-Geschichtla von Bachmann als solche gelten dürfen, existiert als Genre in der modernen Zeit eigentlich nicht mehr. Er hat sich verwandelt. In etwas, das von früheren oder heutigen Stand-Up-Comedians auf der Bühne gezeigt wird. Der Text darüber wie die Elekrifizierung zu den Juchtalern kam, braucht sich hinter der Satire eines Gerhard Polt oder eines Hape Kerkeling durchaus nicht zu verstecken. Natürlich übertragen auf die Zeit und den beginnenden Sozialismus. Oder hat zumindest das Potential. Bachmann hat Ende der 20er Jahre den Linguisten Viktor Schirimunski bei seinen Sprachforschungen in den deutschen Kolonien begleitet, hat ihm assistiert und hunderte Lieder aufgenommen. Er hat nicht nur die Mundart, sondern auch die Mentalität der behäbigen etwas verpeilten Bauern gut wiedergegeben, ohne sie dabei bloßzustellen. So gut, dass er es sich mit der Macht verscherzt hat. 1933 wird er verhaftet und zu zwei Jahren Zwangsarbeit in Karelien verurteilt. In den Wirren des Krieges gelingt es ihm über den Wartegau nach Deutschland zu fliehen, wo er als Übersetzer arbeitet und 1951 in einem Altenheim in Wuppertal stirbt.

1931, Steinfeld, Molotschna Kolonie. Katharina Wall mit ihrem ersten Sohn Gerhard und Schwiegermutter auf ihrem Bauernhof. Foto erhalten von Aron Wall.

Seine in der Ukraine bereits 1929 erschienenen Beobachtungen „Durch die deutschen Kolonien des Beresaner Gebietes“ werden 1974 von Joseph Schnurr herausgegeben. Bachmanns Stücke enthalten viele Beispiele der Mischmundarten der RuDe und jede Menge Entlehnungen aus dem Russischen. Was schön klingt. Beispiele:

Isch des ämol ä Elend! Hasch gmoint, ‘s werd ämol ebbes besser (un ‘s isch ah schon besser worre!),  jetzt kommt do widder ä neies Unglick! Ja, un noch was fer ois! Wie ‘s noch nie net gwäe isch: d‘ Welt werd jetzt undergeh!!
S 74

Odder, sage mer, ‘s war Kirwe. Am Vormittag hasch andächtich d‘ Predicht angehört, wenns d‘net grad drbei eingeschlofe bisch, un am Nochmittag ä bissle ghuloit [von gulat‘, russ. für spazieren gehen], wenn d‘a mässischer Mensch warsch.
S. 78

Gegr Mittag isch‘r zum Fedjke gange, was ä schehner Traktier hat, un hat dort fer finfesiewezich Kopik [Kopeiken] ‘s Mittag gesse und owe druf noch Bier trunke.
S. 90

Die Geschichte „Wie der Krischtjanvetter von Dammelsdorf einen Bericht im Rayonszentrum abstattete“ ist auf Hochdeutsch gehalten, nur mit code-switching ins Russische und mit Begriffen aus dem neuen System.

Es klingt total urgemütlich, wie Bachmann hier russische Begriffe ins altertümliche Deutsch mischt. Manches erkenne ich: Portfeller (Brieftasche = Portfel = Portefeuilles), Rayonvollzugskommitee, der Frieder ist zwei Arschine und drei Werschok hoch, was alte russische Maßeinheiten sind. Aktiwischteversammlung gefällt mir auch ausgesprochen gut. Initzjatiwe und Demonschtratzje. Das sind so Wörter, sie es bei den Kolonisten früher nicht gegeben hat und so haben sie halt solche Lateinslavismen statt Hochdeutsch benutzt. Es macht großen Spaß, das zu lesen und sich vorzustellen, wie sie damals in diesen Flecken wirklich gesprochen haben. Denn diese Welt ist ja eigentlich ausgestorben und die Sprachen oder Dialekte mit. Manches werde ich wohl nie ergründen: Was ist Metzlesupp? Kennen die eingefleischten Russlanddeutschen sicher. Ich muss dagegen googeln. Das ist wohl eine Spezialität aus dem Schwabenland und aus der Pfalz. Wurst mit Wurst mit Wurst und mit Fleisch und ein bisschen Majoran. Alles vom Schwein. Ein Volkslied oder Schlager mit dem Titel: Metzlesupp aus der Pfalz gab es wohl auch mal. Soso. Metzlesupp heißt sie wohl, weil es das traditionelle Gericht nach der Christmette war an Weihnachten. Wieder was gelernt. Bei uns zuhause gibt’s Heiligabend polnischen Salat mit Würstchen. Auch eine Tradition.

Es gibt übrigens Lexikon der RuDe Mundarten online für die, die weiter nachforschen wollen:

http://prowiki.ids-mannheim.de/bin/view/Russlanddeutsch/RechercheHessisch#

Hier finden sich auch Tonaufnahmen, nicht nur der einzelnen Wörter, und was viel spannender ist, sind die Erzählungen in hessischer, schwäbischer, pfälzischer und nordbairischer Mundart oder uff Platt.

Perlgraupen grob

Schellenberg, der dieser Sammlung als Herausgeber vorsitzt, überzeugt mich dagegen nicht. In der Sammlung sind ja unter anderem Auszüge aus seiner längeren Erzählung „Lechzendes Land“ abgedruckt. Die Kapitel heißen: Gottgefälliges Kollektiv – Voreiliges Amen – Repitition.

Kinderzeichnung aus der Zeitschrift „Tschish“ von 1931

Sie handeln von der Kollektivierung in einem deutschen Dorf in der Ukraine. Die Schreibe Schellenbergs scheint mir zu sehr angepasst, seine Figuren sind gewollt typisiert. Der böse Nöpmann mit dem Pastor im Gefolge. Und wie er die Frau des Armbauern charakterisiert, nun, heute ginge das nicht durch. Sexlüstern und tiefgläubig zu gleich. Wo gibt’s denn sowas? Andererseits, warum nicht.
Die Fronten sind also glasklar, auf der einen Seite (A): der Pfarrer, die Großbauern oder Fahrunternehmen, die bigotten, vermeintlich gottgefälligen Frauen. Auf der anderen Seite (B): die einfachen, armen Leute, die viel gelitten haben und schlau und herzensgut sind.

Die Gruppe (A) versucht aus Profitgier das beste Landstück zu kriegen und muss dafür einige der Gruppe (B) überreden, mitzumachen, als Feigenblatt fürs Kollektiv sozusagen. Die Leute aus Gruppe (B), eine arme Witwe, ein Kleinbauer, ein Knecht, werden nicht nur benutzt, sondern auch übervorteilt.

Schellenberg beschreibt detailliert und erbarmungslos. Anders als bei Bachmann kommen seine Charaktere nur dann gut weg, wenn sie die richtige sozialistische Gesinnung haben. Die anderen werden schablonenartig gezeichnet. Zum Beispiel der Pastor:
Und sie schaute auf die dicken, feuchtroten, fettigen Lippen, von denen nun Sattheit und Trost fliessen sollten.
S 145

Viele Passagen enthalten starke Adjektive, fast schon flutartige Verwendung, die Witwe wird so beschrieben:

Mutter Sophies runzlige, von der Arbeit zerquetschten Hände wickelten sich bei den letzten Worten in die blaugestreifte Schürze und zerrten zuckend daran, die Finger verkrampften sich in den fadenscheinigen Stoff; dann schlug sie die Schürze vors Gesicht und erstickte einen Schmerzensruf aus schwacher, sorgenbeklemmter Brust, der, lange Jahre unterdrückt, durch verletzendes Tasten einer groben Hand hervorbricht und in tränenlosen Schmerz heiß durch alle Fibern gellt.
S 148

Das ist Drama. Stummfilmreif. Und immer sehr stark gebeugt zu dem Traum der Arbeiter und Bauern. Winke mit ganzen Zäunen, statt mit nur einem Zaunpfahl. Aber so war die Zeit und er hat sich eingefügt.

Nach diesen Kapiteln bin ich allerdings nicht sonderlich neugierig, wie es mit der Kollektivierung vorangeht. Zu klar und eindeutig ist die Richtung. Doch auch hier, wertvolles Zeugnis aus der Vergangenheit.
Die Perspektive ist schon auch spannend, denn die meisten Nachfahren der Kolonisten, die das erlebt hatten, erzählen die Geschichte aus der Sicht der rechtschaffenen, Bauern mit viel oder auch wenig Besitz, die enteignet und von den Bolschewisten ungerecht behandelt worden sind. Ich bin so scheints die einzige Person, deren Großonkel freiwillig zu den Roten übergelaufen ist, wenn man den Legenden glauben soll.

Resumee: zwischen den drängenden kommunistischen Vorzeigegedichten (Jetzt atme ich mit voller Brust! Vorwärts, ihr Gäule! Mit Adern voll Eisen, flüssigem, warmen usw.) und antireligiösen Motiven finden sich durchaus Schätze. Gekonnt und lesenswert. Derjenige, der mit bibelfesten Versen so gegen die Kirche und die Religion wettert, Franz Bach, wurde als junger Mann übrigens wegen gotteslästerlichen Aussagen aus dem Priesterseminar ausgeschlossen, bevor er sich bereits 1919 den Bolschewisten anschloss. Nützte nichts, am 20 November 1936 wurde er verhaftet, zwei Jahre später zu acht Jahren wegen antisowjetischer Agitation verurteilt. Er starb in einem Lager 1942. Nach seinem Tode wurde er rehabilitiert.

Rohrbach, Ukraine

Heute mögen uns diese Blüten sowjetischer Dichtkunst wenig zeitgemäß erscheinen. Die Systeme haben sich geändert. Ein offenherziges Vorwärts! zum Sieg der Arbeiterklasse mittels Literatur kommt uns falsch und sogar komisch vor. Aber auch unsere Zeit wird ihre Stilblüten und nichtssagenden Ideologien hervorbringen. Wenn wir die Texte herausschälen aus ihrem Agitprop, was bleibt dann übrig? Kraft? Rhythmus? Gute Beobachtung?

Es heißt, die Blüte der fruchtbaren russlanddeutschen Literatur in der Ukraine sei sehr kurz gewesen. Sie hat auch wenige Früchte hervorgebracht aus den bekannten Gründen. Sehr wenige Bücher haben überlebt, und leider Gottes haben auch sehr wenige Literaten und Literatinnen selbst Krieg, Verbannung und Arbeitsarmee überlebt. Und manche sind uns nicht bekannt, weil sie so abtrünnige Texte geschrieben haben, dass sie es noch nicht einmal in so einen Band geschafft haben.

Ich würde mir wünschen, dass es dieses Buch und andere seiner Art bald auch ganz öffentlich zu kaufen gibt. Vielleicht nicht als Faksimile, sondern als neuen Satz. Mit weißem Papier, ohne Verunreinigungen, ohne überflüssige Rechtschreibfehler oder hüpfende Zeilen. So, dass wir uns besser auf den Inhalt konzentrieren können.



Sammlung sowjetdeutscher Dichtung. Geordnet und eingeleitet von David Schellenberg (1931), Vorwort von Annelore Engel-Braunschmidt. Reprint OLMS Presse, Hildesheim u.a. 1990

Ein Buch von 1931 – Teil I

Packpapier ist ungeduldig

Ich habe es mir schon gedacht, dass dieses Buch auch optisch und haptisch etwas hergeben würde. Daher möchte ich diesen Teil der Besprechung nur dem Papier und der Machart widmen. Rezensionen aus Deutschland, die 1936 und 1939 erschienen sind, also im Deutschen Reich, bemängeln die schlechte Qualität des Papiers und die vielen Druckfehler der Ausgabe. Die beiden Rezensenten können wohl nicht ahnen, unter welchen Bedingungen die „Sammlung sowjetdeutscher Dichtung“ im ukrainischen Charkiw wahrscheinlich gedruckt worden ist. Zu einer Zeit und an einem Ort, wo  es wahrlich einem Weltwunder glich, überhaupt an Papier zu kommen.

Sehr poröses, saugstarkes Papier. Umweltschonend und schön anzufassen

So viele Zufälle haben dazu geführt, dass dieses Buch nicht zwischen den Falten der Zeit vergessen wurde, wie es eigentlich sein Schicksal gewesen wäre. Zum Beispiel, dass vor vielen Jahrzehnten eine Slavistin aus Deutschland in einem Bücherkatalog zufällig auf einen Titel von Alexander Reimgen stößt, der im Verlag Kasachstan erschienen ist. Sie wundert sich, Kasachstan? Auf Deutsch? Sie geht dem nach und wird zu einer der wenigen deutschen Wissenschaftlerinnen, die sich überhaupt mit russlanddeutscher Literatur befassen. Viele Jahre später entdeckt sie, ebenfalls in einem Antiquariatskatalog, zufällig diesen Titel von 1931, erwirbt ihn und gibt ihn 1990 als Nachdruck im OLMS Verlag heraus. Es ist das erste Mal, dass sie mit Vorkriegsliteratur der deutschen Minderheit in Berührung kommt.

Dank Annelore Engel-Braunschmidt und ihrer Neugier existiert also ein Faksimile der „Sammlung sowjetdeutscher Dichtung“ aus dem Staatsverlag Literatur und Kunst in Charkiw. Herausgeber ist ein gewisser David Schellenberg. Auch Gerhard Sawatzky glänzt hier mit einigen Versen, seinen Roman „Wir selbst“, der auch nur über glückliche Zufälle der Nachwelt erhalten blieb, hatte er da noch nicht geschrieben.
Eine Einleitung und Kurzbiografien der Autoren vervollständigen die nachgedruckte Ausgabe von 1990. Von sieben Autoren überlebt nur einer den zweiten Weltkrieg, und das weil er zu Kriegsbeginn in den Warthegau und dann nach Wuppertal-Elberfeld fliehen kann. Die anderen Biografien enden mit Sätzen wie: Im Krieg „nach Magadan verschlagen“; „die letzten Lebensjahre liegen im Dunkeln“; gestorben 1937. Oder wie im Fall von Sawatzky, der in einem Lager umgekommen ist, enden sie einfach keine drei Jahre nach dem Druck der Sammlung.

Trotz des grimmigen Schicksals existiert dieses Beispiel sowjetdeutscher Literatur der Zwischenkriegszeit also noch. Ich konnte es mir sogar antiquarisch bestellen. Das Cover sieht avantgardistisch aus. Reduziertes Design, gekippte Schrift, sehr modern für seine Zeit. Rot und Schwarz auf einem beige anmutenden Papier.

schöne Typo, schickes Design

Ein Faksimile zeichnet aus, dass die Seiten der alten Ausgabe abfotografiert werden und nicht neu gesetzt. Das Schriftbild und auch die Schreibweise bleiben erhalten.

Einige Buchstaben, wie das o und e, tanzen durchgängig aus der Reihe.

Als Grafikerin, die ich nicht ablegen kann, gefällt mir die schlanke altertümliche Typografie, die ein wenig ausfranst, weil das Material für den Satz und die Druckmaschine sicher nicht sehr hochwertig waren. Diese Schrift verweist auf die Mode einer früheren Zeit. Ich genieße es, die Texte in einer historischen Schrift zu lesen. Der Satz hüpft so schön. Ist nicht wie mit dem Lineal gezogen. Eventuell musste gleichzeitig ein anderes Buch oder Zeitungen/Flugblätter raus und ihnen fehlten die Metallschienen, die sonst für eine gerade Linie sorgen. Aber womit haben Sie sich beholfen? Schienen aus Pappe geschnitten? Holz? Das würde das unruhige Bild vielleicht erklären.

Platzhalter, sonst unsichtbar, sind hier gut zu sehen.

Das scharfe ß fehlt vollständig, die Umlaute existieren nur in als Buchstaben. Sind aber auch nicht ausreichend vorhanden, manchmal müssen die Drucker auf ae oder ue ausweichen. Viel Improvisation war da, das sieht man. Durchgehend hüpft das kleine o nach oben und das kleine e hängt immer unterhalb der Grundlinie. Das kleine a franst oft total aus. Kann sein, dass da Schriftsätze von unterschiedlichen Schriften gemischt wurden, die eine unterschiedliche Grundlinienhöhe hatten. Die Metallschienen, also die Lückenfüller, die für das Einrücken von Zeilen verwendet werden sind teilweise sichtbar.

Die Flüchtigkeitsfehler sind sicher nicht während des Schreibens entstanden, sondern später. Gab es denn eine extra deutsche Druckerei in Charkiw? Welche Leute haben da gearbeitet? Haben sie überhaupt verstanden, was sie da setzen oder kamen ihnen die Buchstaben wie Chinesisch vor?

Diese ganzen kleinen Unvollkommenheiten stören mich nicht. Ich denke einfach, die Bedingungen waren schlecht. Seltsam, in den mundartlichen Texten hab ich keinen Fehler entdeckt. Aber würden sie mir auffallen?

Ein fast dreidimensionales Schriftbild.
Bei Licht betrachtet. Fast wie Handgeschöpft. Ist es am Ende auch.

Der Eindruck verstärkt sich noch, als ich Ende Dezember Dank der freundlichen Schenkung von Frau Engel-Braunschmidt, das Original aus den 30ern in den Händen halten darf. Das Papier ist wirklich nicht viel besser als Packpapier oder braunes Löschpapier. Sehr dünn. Eine Art Recycling-Papier noch bevor es das Wort Recycling überhaupt gab. Die Buchstaben von der anderen Buchseite scheinen durch, sind als erhabenes Relief sicht- und fühlbar. Es riecht nach Leim, nicht so wie die sowjetischen Bücher aus meiner Kindheit, aber doch ganz anders als heutige Bucherzeugnisse.

Das kann man fast schon singen. Die Buchstaben hüpfen wie Notenzeichen auf dem Papier

Die Schrift hüpft wirklich auf der Linie und es gibt viele Verunreinigungen. Ich lese die Gedichte, vieles davon klingt heute nicht mehr Zeitgemäß, ein Hohelied auf die Arbeit der Werktätigen, ein Lob des Sozialismus. Aber nicht nur. Vieles ist kraftvoll und nah an der Realität, auch das Elend kommt vor. Sicher nicht alles sehr PC aus der Sicht der damals Mächtigen.

Die mundartlichen Texte sind großartig und wirklich satirisch. Auch die dürften damals ihrem Schreiber viele Probleme bereitet haben. Doch den inhaltlichen Aspekt bespreche ich noch.

In einem Gedicht von Hans Hansmann mit dem Titel „Lächelnder Stahl“ fehlt innerhalb der ersten zehn Zeilen allein sechs Mal der Buchstabe L. Sehr auffällig und schwer nachzuvollziehen. Entweder hat da jemand zu wenige L besessen und es war ihm egal, oder es war reine Sabotage. Mein paranoides Selbst wittert hier eine L-Geheimhaltung, um diese komischen Dichter im fernen Deutschland zu diskreditieren. Was ja auch wunderbar gelungen ist. Aber auch ohne verschwörerische Sabotageakte auf Sesamstraßen-Niveau frage ich mich, unter welchen Bedingungen und mit welchem Material sie den Druck dieses Buches bewerkstelligt haben mochten, mit welchen Verzögerungen, zu welchem Preis? Immer wieder mit Pausen durch Lieferverzögerungen. Wie konnten sie in Charkiw zu der Zeit überhaupt an gutes Papier kommen, es war sicher nicht die beste Qualität, daher versuppen die Buchstaben, sind so unregelmäßig, daher die Verunreinigungen. Packpapier ist eben ungeduldig.

Ich bin sehr froh, dass durch die vielen Glücksfälle und durch das Engagement von einigen wenigen, wie einer neugierigen Slavistin zum Beispiel, dieses Buch vorm Verschwinden bewahrt werden konnte. Und ich frage mich zugleich, wie viele Bücher in den Wirren der Revolutionen, Kriege und Umwälzungen verloren gegangen oder gar nicht erst gedruckt worden sind .

Was ist Nachdruck, was Original?

Sammlung sowjetdeutscher Dichtung. Geordnet und eingeleitet von David Schellenberg (1931), Vorwort von Annelore Engel-Braunschmidt. Reprint OLMS Presse, Hildesheim u.a. 1990

 

Spruch der Woche: authentisch bitte!

Edna O’Brian

So ist es mit der Erinnerung, nach neuneinhalb Wochen gefüllt mit Leben, vielen meist online geführten Gesprächen, diversen coronabedingten Kündigungen oder kleineren Katastrophen wie platzenden Heizungskörpern, weiß ich nicht mehr, wer das genau gefragt hat. Aber bei einer Online-Diskussion im November kam die Frage nach dem Authentischen in der Literatur auf. Konkret: Können wir als diejenigen, die den Schrecken der Vergangenheit nicht selbst erlebt haben, die Erlebnisse überhaupt authentisch wiedergeben?

Authentisch. Was ist das denn überhaupt? Eins zu eins abgebildete Realität? Alles wird verkrümmt, verformt durch die Erinnerung, durch Filter, die wir haben. Kann das etwa nur die Erlebnisgeneration selbst, authentisch schreiben? Können nur diejenigen, die durch die Hölle gehen, ihre Schrecken wiedergeben? Sie weitergeben in Form von Literatur, von authentischer Literatur?

Die einzig authentische Art auf das, was der Erlebnisgeneration zugestoßen ist, zu reagieren ist, sich hinzustellen, nah an ein Mikro, ganz nah, und einen Schrei auszustoßen, der unerträglich ist, grell, durchdringend, in den Ohren wehtut. Und nicht aufhören damit, über Minuten, Stunden, Tage nicht aufhören damit, bis die Puste komplett ausgeht. Und wenn du dich heiser geschrien hast, das Mikro zu nehmen, den Mikroständer zu nehmen und damit alles kurz und klein zu hauen.

Das wäre m. A. n. ein angemessener Ausdruck für das Geschehene. Die wahre Poesie des Grauens. Jenseits der Worte. Vorbegrifflich sozusagen. Ob das dann Kunst ist, und wie das vom Publikum rezipiert werden kann, steht auf einem anderen Blatt.

Doch das habe ich nicht auf diese Frage geantwortet. Leider. Ich habe etwas gemurmelt von, die nötige Distanz haben, um zu beschreiben, dennoch betroffen sein, berührt, aufgewirbelt oder so. Schwache Leistung.

Mir ist vorhin ein Gedanke gekommen, wir, die zweiten oder dritten in der Nachfolge sind nur beschädigt, nicht komplett zerstört. Die Übergabe hat bei uns nicht alles lahmgelegt. Nur einige von uns, sollte ich dazu sagen. Es ist klar, dass sich nicht all die satten, eingelebten Bürgerinnen und Bürger russlanddeutscher Provenienz als verletzt empfinden. Oder als verletzlich. Die meisten wollen das Dunkel aus ihrem Leben raus haben. Sie wollen leben, arbeiten, Kinder kriegen, Wohneigentum anschaffen. Nicht über die schweren Zeiten nachgrübeln. Ist das nicht auch authentisch?
Integration gelungen, Versuchskaninchen im Zylinder verschwunden. Die reine Zauberei.

Um die geht es mir gerade nicht. Nicht um die gut Integrierten. Die Reüssierten, die gut Angepassten. Nicht um diejenigen die endlich das Ende der Opferdebatte fordern, sondern um diejenigen mit dem Stachel im Fleisch. Mit den unbeantworteten Fragen in der Mitte der Pupillen.

Wir tun so, als wären diejenigen die damals überlebt haben, Heldinnen und Helden. Es sind aber einfach Menschen, die systematisch zerstört wurden, deren Leben mit einem Mal zerschlagen wurde und die versucht haben, sich aus den Scherben zusammenzusetzen. Tag für Tag. Manchen ist das gelungen.
Wie gesagt, es gab nicht nur heldenhafte Überlebende. Märtyrerinnen und Märtyrer, die noch im schlimmsten Grauen ein Lächeln auf den Lippen trugen oder Worte des Trostes für ihre Nächsten. Die aus dem wenigen, das ihnen geblieben ist, das Lebensnotwendige zaubern konnten.

Diejenigen, denen es nicht gelungen ist, die depressiven Mütter, die ihre Kinder dem Schicksal überlassen haben; die cholerischen Väter, die sofort aufbrausen, die um sich schlagen. Nein, die erwähnen wir lieber nicht, als hätte es sie nicht gegeben. Schwamm drüber. Heldengeschichten erlauben keine Patzer, keine psychisch verstörten Figuren, oder wenn, dann nur auf der anderen Seite. Die Psychos sind immer nur die Bösen. Unsere Mütter, unsere Väter, unsere Omas, unsere Opas, das waren die Guten, oder etwa nicht? Niemals die Verstörten.

Wenn alles innerlich vernichtet ist, woraus willst du etwas schaffen, mit welchen Worten? Worten der Anklage? Worten des Bedauerns? Worten des Zorns? Wie willst du dich ausdrücken? Doch nur mit einem langen Schrei, einem Geheul?
Ein stummer Schrei ist es wohl geworden, denn die Erlebnisgeneration musste den Mund darüber halten, was ihr passiert ist. Über viele Jahrzehnte. Um überhaupt publiziert zu werden, mussten sie in den Komunismus-Positivistischen Kanon einstimmen.

Der Dichter Viktor Schnittke hat mal gesagt:„Von Liebe und Blumen haben die Russlanddeutschen geschrieben, damit sie nicht brüllen mussten.“

Welche innere Kraft hatten diejenigen aufbringen müssen, die sich aus Scherben zusammengesetzt und dann noch Worte gefunden haben? Die Kraft, sich von der eigenen Geschichte so zu distanzieren, um sie in eine literarische Form zu bringen?
Wenn es vorwiegend darum ging, zu überleben, ohne zu zerfallen. Nur wenige hatten genug Resilienz, um das alles halbwegs zu überstehen. Das Wort Resilienz gab es damals nicht. Sie haben einfach weitergemacht.

Als Nora Pfeffer einmal den Satz zu hören bekam, wie könne sie sorglose Kinderverse schreiben und fröhlich sein, nachdem, was ihr alles zu gestoßen war, schrieb sie: Fröhlichkeit ist keine Flucht vor der Traurigkeit, sondern ein Sieg über sie.

Welche Stärke, welche Kraft spricht aus diesen Worten. Sie hat Gefängnis, Verbannung überlebt. Ihr Sohn wurde ihr weggenommen, als er ein Säugling war. Sie schrieb, was sie konnte, was sie durfte. Kindergedichte? Gut, gebe ich euch. Verarbeitung der Vergangenheit. Auch die irgendwann. Ich will hier nicht kleinreden, wie wichtig es ist, den Mut nicht zu verlieren.

Ich wage zu behaupten, selbst ich bin zu nah dran, um mich vom unendliche tiefen Leid freizumachen, einen klaren Kopf zu haben, der für das Schreiben nötig ist. Mir gelingt es nur stückweise. Auch ich bin mit der Nase zu nah an der Substanz, an diesem Sumpf.
Auch ich bin gewillt in den Vorfahren nur die Guten zu sehen, nicht die Niederträchtigen, niemals diejenigen, die andere verraten, verletzt oder einfach dem Schicksal überlassen haben. Opfersein adelt, macht aus ihnen gleich unschuldige Opfer. Durch die Bank weg. Authentisch wäre doch auch die andere Seite zu sehen?

Geht es etwa um historische Wahrheit und historische Richtigkeit? Nicht doch. Die Sieger schreiben die Geschichte. Und diejenigen, die verwundet am Rand stehen, schreiben die Geschichten dazu. So ähnlich hat es diese irische Autorin ausgedrückt, Edna O’Brian, die neulich gefeiert wurde, weil sei einen runden Geburtstag hatte.

Das mag für die grüne Insel so stimmen. Das mag nach vielen Jahrhunderten so kommen. Über die irischen Leute, die verwundet am Rand stehen, kann ich nichts sagen. Ich beobachte etwas anderes im Fall der deutschen Minderheit. Es gibt einige wenige, denen es gelingt, aus ihrem Leiden, aus ihrem Leben Literatur zu machen. Die meisten kommen nicht über Nacherzählungen, kollektive Erlebnisberichte, Familienchroniken hinaus. Viele setzen sich daran, so ist es nicht, denn der Drang alles aufzuschreiben, damit es nicht in Vergessenheit gerät, ist hoch.

Aber, um zu meiner ursprünglichen Frage zurückzukommen: Sind Texte nur dann authentisch, wenn sie aus der Feder der Erlebnisgeneration kommen?

Es ist wichtig. Historisch wertvoll. Es mag authentisch sein. Aber sind diese Chroniken, diese kollektiven Klagelieder gleich Literatur?

Das klingt so ausschließlich. Es gibt die Ausnahmen. Es gibt Gedichte, die an die Nieren gehen. Es gibt Geschichten, die den Atem rauben. Welche? Sucht selbst, wühlt euch durch die Archive, sucht mühsam nicht mehr aufgelegte Werke. Macht euch ein Bild.

Eine, die es konnte: Angela Rohr. Ihre Berichte aus der Hölle des Gulags lesen sich glasklar, chirurgisch aufgetrennt. Sie beobachtet scharf, ohne jegliches Urteil. Wenn das kein perfekt angewandter Journalismus ist, weiß ich auch nicht. Und dennoch berührt es sehr. Irgendwas zwischen Literatur und Journalismus und Erlebnisbericht. Authentisch.

Nicht jeder, dem das Erlebte auf den Nägeln brennt, nicht jede, deren Mutter eine Märtyrerin war, kann das auch in Worte fassen. Also sie können schon, sie tun es zumindest. Was dabei entsteht, sind persönliche, die eigene Familie verklärende, oft anklagende Berichte. Wichtige Dokumente. Aber ist es auch Literatur? Es braucht mehr als Worte aneinander zu reihen oder minutiös aufschreiben, was passiert ist.

Jede Erinnerung ist eine Verfälschung. Ob es meine gehörten Geschichten aus zweiter Hand betrifft, oder die Erinnerungen meines Vaters, der selbst durch diese Hölle gegangen ist und alles aus seiner Perspektive sieht.
Literatur dagegen ist Form. Um etwas in Form zu bringen, musst du dich trauen es zu verbiegen. Wie kannst du aber aus den guten Vorfahren, den lieben, ehrlichen, fleißigen Leuten, denen unverschuldet Leid geschehen ist, berechnende Bösewichter machen, nur weil der Plot es verlangt? Authentisch sein und loyal sein, scheint sich zu widersprechen. Literarisch sein und loyal bleiben ebenfalls. Literatur ist immer ein stückweit Lüge, verbogene Wahrheit, die aber eine andere Wahrheit aufdecken kann. Nicht zwingend natürlich. Alles andere ist ein Schulaufsatz zu dem Thema: Wie war dein Tag in der trudarmija? Zynismus beiseite.

Ich gehe sogar weiter. Gibt es überhaupt eine authentische Beschreibung der Wirklichkeit? Ist nicht alles Illusion? Ein Fake, verfälscht durch den Blick derjenigen, die den Stift führen?

Aus der Kunst wissen wir: Alles ist nur Abbildung. Ceci n’est pas une pipe, das bekannte schon der Surrealist René Magritte in seinem Werk 1929. Bilder stellen die Wirklichkeit dar, sie sind nicht die Wirklichkeit. Worte können nicht annähernd das beschreiben, was wirklich geschehen ist.


Worte, die fehlen. Das ist das einzig authentische am Grauen.

Allerdings glaube ich auch, dass eine Verfremdung oder eine Zuspitzung an der Wahrheit näher sein kann, als ein detailgetreuer Bericht. Das ist ein weites Feld. Es geht um das Wie.
Auch ohne etwas am eigenen Leib erlebt zu haben, kann ich dennoch darüber schreiben, mich hineinversetzen, die eigenen Gefühle einbringen. Einen angemessenen, respektvollen Ausdruck finden. Und jemand, der das alles erlebt hat, kann dennoch sprachlos bleiben.

Mein Fazit?

Authentisch oder nicht, das eigene oder das fremde Erleben, was bleibt ist versuchen, nicht aufgeben, schreiben. Lesen, schreiben. Alles aufschreiben. Irgendwas davon bleibt doch hängen und wird irgendwann zur Legende oder zu Makulatur. Im Grunde ist es egal, ob daraus Kunst wird oder nicht. Schreiben ist eh nur eine Krücke. Benutze sie und benutze sie weise. Eins tue dabei auf keinen Fall: Frage dich niemals, ob es authentisch ist.

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