Edna O’Brian
So ist es mit der Erinnerung, nach neuneinhalb Wochen gefüllt mit Leben, vielen meist online geführten Gesprächen, diversen coronabedingten Kündigungen oder kleineren Katastrophen wie platzenden Heizungskörpern, weiß ich nicht mehr, wer das genau gefragt hat. Aber bei einer Online-Diskussion im November kam die Frage nach dem Authentischen in der Literatur auf. Konkret: Können wir als diejenigen, die den Schrecken der Vergangenheit nicht selbst erlebt haben, die Erlebnisse überhaupt authentisch wiedergeben?
Authentisch. Was ist das denn überhaupt? Eins zu eins abgebildete Realität? Alles wird verkrümmt, verformt durch die Erinnerung, durch Filter, die wir haben. Kann das etwa nur die Erlebnisgeneration selbst, authentisch schreiben? Können nur diejenigen, die durch die Hölle gehen, ihre Schrecken wiedergeben? Sie weitergeben in Form von Literatur, von authentischer Literatur?
Die einzig authentische Art auf das, was der Erlebnisgeneration zugestoßen ist, zu reagieren ist, sich hinzustellen, nah an ein Mikro, ganz nah, und einen Schrei auszustoßen, der unerträglich ist, grell, durchdringend, in den Ohren wehtut. Und nicht aufhören damit, über Minuten, Stunden, Tage nicht aufhören damit, bis die Puste komplett ausgeht. Und wenn du dich heiser geschrien hast, das Mikro zu nehmen, den Mikroständer zu nehmen und damit alles kurz und klein zu hauen.
Das wäre m. A. n. ein angemessener Ausdruck für das Geschehene. Die wahre Poesie des Grauens. Jenseits der Worte. Vorbegrifflich sozusagen. Ob das dann Kunst ist, und wie das vom Publikum rezipiert werden kann, steht auf einem anderen Blatt.
Doch das habe ich nicht auf diese Frage geantwortet. Leider. Ich habe etwas gemurmelt von, die nötige Distanz haben, um zu beschreiben, dennoch betroffen sein, berührt, aufgewirbelt oder so. Schwache Leistung.
Mir ist vorhin ein Gedanke gekommen, wir, die zweiten oder dritten in der Nachfolge sind nur beschädigt, nicht komplett zerstört. Die Übergabe hat bei uns nicht alles lahmgelegt. Nur einige von uns, sollte ich dazu sagen. Es ist klar, dass sich nicht all die satten, eingelebten Bürgerinnen und Bürger russlanddeutscher Provenienz als verletzt empfinden. Oder als verletzlich. Die meisten wollen das Dunkel aus ihrem Leben raus haben. Sie wollen leben, arbeiten, Kinder kriegen, Wohneigentum anschaffen. Nicht über die schweren Zeiten nachgrübeln. Ist das nicht auch authentisch?
Integration gelungen, Versuchskaninchen im Zylinder verschwunden. Die reine Zauberei.
Um die geht es mir gerade nicht. Nicht um die gut Integrierten. Die Reüssierten, die gut Angepassten. Nicht um diejenigen die endlich das Ende der Opferdebatte fordern, sondern um diejenigen mit dem Stachel im Fleisch. Mit den unbeantworteten Fragen in der Mitte der Pupillen.
Wir tun so, als wären diejenigen die damals überlebt haben, Heldinnen und Helden. Es sind aber einfach Menschen, die systematisch zerstört wurden, deren Leben mit einem Mal zerschlagen wurde und die versucht haben, sich aus den Scherben zusammenzusetzen. Tag für Tag. Manchen ist das gelungen.
Wie gesagt, es gab nicht nur heldenhafte Überlebende. Märtyrerinnen und Märtyrer, die noch im schlimmsten Grauen ein Lächeln auf den Lippen trugen oder Worte des Trostes für ihre Nächsten. Die aus dem wenigen, das ihnen geblieben ist, das Lebensnotwendige zaubern konnten.
Diejenigen, denen es nicht gelungen ist, die depressiven Mütter, die ihre Kinder dem Schicksal überlassen haben; die cholerischen Väter, die sofort aufbrausen, die um sich schlagen. Nein, die erwähnen wir lieber nicht, als hätte es sie nicht gegeben. Schwamm drüber. Heldengeschichten erlauben keine Patzer, keine psychisch verstörten Figuren, oder wenn, dann nur auf der anderen Seite. Die Psychos sind immer nur die Bösen. Unsere Mütter, unsere Väter, unsere Omas, unsere Opas, das waren die Guten, oder etwa nicht? Niemals die Verstörten.
Wenn alles innerlich vernichtet ist, woraus willst du etwas schaffen, mit welchen Worten? Worten der Anklage? Worten des Bedauerns? Worten des Zorns? Wie willst du dich ausdrücken? Doch nur mit einem langen Schrei, einem Geheul?
Ein stummer Schrei ist es wohl geworden, denn die Erlebnisgeneration musste den Mund darüber halten, was ihr passiert ist. Über viele Jahrzehnte. Um überhaupt publiziert zu werden, mussten sie in den Komunismus-Positivistischen Kanon einstimmen.
Der Dichter Viktor Schnittke hat mal gesagt:„Von Liebe und Blumen haben die Russlanddeutschen geschrieben, damit sie nicht brüllen mussten.“
Welche innere Kraft hatten diejenigen aufbringen müssen, die sich aus Scherben zusammengesetzt und dann noch Worte gefunden haben? Die Kraft, sich von der eigenen Geschichte so zu distanzieren, um sie in eine literarische Form zu bringen?
Wenn es vorwiegend darum ging, zu überleben, ohne zu zerfallen. Nur wenige hatten genug Resilienz, um das alles halbwegs zu überstehen. Das Wort Resilienz gab es damals nicht. Sie haben einfach weitergemacht.
Als Nora Pfeffer einmal den Satz zu hören bekam, wie könne sie sorglose Kinderverse schreiben und fröhlich sein, nachdem, was ihr alles zu gestoßen war, schrieb sie: Fröhlichkeit ist keine Flucht vor der Traurigkeit, sondern ein Sieg über sie.
Welche Stärke, welche Kraft spricht aus diesen Worten. Sie hat Gefängnis, Verbannung überlebt. Ihr Sohn wurde ihr weggenommen, als er ein Säugling war. Sie schrieb, was sie konnte, was sie durfte. Kindergedichte? Gut, gebe ich euch. Verarbeitung der Vergangenheit. Auch die irgendwann. Ich will hier nicht kleinreden, wie wichtig es ist, den Mut nicht zu verlieren.
Ich wage zu behaupten, selbst ich bin zu nah dran, um mich vom unendliche tiefen Leid freizumachen, einen klaren Kopf zu haben, der für das Schreiben nötig ist. Mir gelingt es nur stückweise. Auch ich bin mit der Nase zu nah an der Substanz, an diesem Sumpf.
Auch ich bin gewillt in den Vorfahren nur die Guten zu sehen, nicht die Niederträchtigen, niemals diejenigen, die andere verraten, verletzt oder einfach dem Schicksal überlassen haben. Opfersein adelt, macht aus ihnen gleich unschuldige Opfer. Durch die Bank weg. Authentisch wäre doch auch die andere Seite zu sehen?
Geht es etwa um historische Wahrheit und historische Richtigkeit? Nicht doch. Die Sieger schreiben die Geschichte. Und diejenigen, die verwundet am Rand stehen, schreiben die Geschichten dazu. So ähnlich hat es diese irische Autorin ausgedrückt, Edna O’Brian, die neulich gefeiert wurde, weil sei einen runden Geburtstag hatte.
Das mag für die grüne Insel so stimmen. Das mag nach vielen Jahrhunderten so kommen. Über die irischen Leute, die verwundet am Rand stehen, kann ich nichts sagen. Ich beobachte etwas anderes im Fall der deutschen Minderheit. Es gibt einige wenige, denen es gelingt, aus ihrem Leiden, aus ihrem Leben Literatur zu machen. Die meisten kommen nicht über Nacherzählungen, kollektive Erlebnisberichte, Familienchroniken hinaus. Viele setzen sich daran, so ist es nicht, denn der Drang alles aufzuschreiben, damit es nicht in Vergessenheit gerät, ist hoch.
Aber, um zu meiner ursprünglichen Frage zurückzukommen: Sind Texte nur dann authentisch, wenn sie aus der Feder der Erlebnisgeneration kommen?
Es ist wichtig. Historisch wertvoll. Es mag authentisch sein. Aber sind diese Chroniken, diese kollektiven Klagelieder gleich Literatur?
Das klingt so ausschließlich. Es gibt die Ausnahmen. Es gibt Gedichte, die an die Nieren gehen. Es gibt Geschichten, die den Atem rauben. Welche? Sucht selbst, wühlt euch durch die Archive, sucht mühsam nicht mehr aufgelegte Werke. Macht euch ein Bild.
Eine, die es konnte: Angela Rohr. Ihre Berichte aus der Hölle des Gulags lesen sich glasklar, chirurgisch aufgetrennt. Sie beobachtet scharf, ohne jegliches Urteil. Wenn das kein perfekt angewandter Journalismus ist, weiß ich auch nicht. Und dennoch berührt es sehr. Irgendwas zwischen Literatur und Journalismus und Erlebnisbericht. Authentisch.
Nicht jeder, dem das Erlebte auf den Nägeln brennt, nicht jede, deren Mutter eine Märtyrerin war, kann das auch in Worte fassen. Also sie können schon, sie tun es zumindest. Was dabei entsteht, sind persönliche, die eigene Familie verklärende, oft anklagende Berichte. Wichtige Dokumente. Aber ist es auch Literatur? Es braucht mehr als Worte aneinander zu reihen oder minutiös aufschreiben, was passiert ist.
Jede Erinnerung ist eine Verfälschung. Ob es meine gehörten Geschichten aus zweiter Hand betrifft, oder die Erinnerungen meines Vaters, der selbst durch diese Hölle gegangen ist und alles aus seiner Perspektive sieht.
Literatur dagegen ist Form. Um etwas in Form zu bringen, musst du dich trauen es zu verbiegen. Wie kannst du aber aus den guten Vorfahren, den lieben, ehrlichen, fleißigen Leuten, denen unverschuldet Leid geschehen ist, berechnende Bösewichter machen, nur weil der Plot es verlangt? Authentisch sein und loyal sein, scheint sich zu widersprechen. Literarisch sein und loyal bleiben ebenfalls. Literatur ist immer ein stückweit Lüge, verbogene Wahrheit, die aber eine andere Wahrheit aufdecken kann. Nicht zwingend natürlich. Alles andere ist ein Schulaufsatz zu dem Thema: Wie war dein Tag in der trudarmija? Zynismus beiseite.
Ich gehe sogar weiter. Gibt es überhaupt eine authentische Beschreibung der Wirklichkeit? Ist nicht alles Illusion? Ein Fake, verfälscht durch den Blick derjenigen, die den Stift führen?
Aus der Kunst wissen wir: Alles ist nur Abbildung. Ceci n’est pas une pipe, das bekannte schon der Surrealist René Magritte in seinem Werk 1929. Bilder stellen die Wirklichkeit dar, sie sind nicht die Wirklichkeit. Worte können nicht annähernd das beschreiben, was wirklich geschehen ist.
Worte, die fehlen. Das ist das einzig authentische am Grauen.
Allerdings glaube ich auch, dass eine Verfremdung oder eine Zuspitzung an der Wahrheit näher sein kann, als ein detailgetreuer Bericht. Das ist ein weites Feld. Es geht um das Wie.
Auch ohne etwas am eigenen Leib erlebt zu haben, kann ich dennoch darüber schreiben, mich hineinversetzen, die eigenen Gefühle einbringen. Einen angemessenen, respektvollen Ausdruck finden. Und jemand, der das alles erlebt hat, kann dennoch sprachlos bleiben.
Mein Fazit?
Authentisch oder nicht, das eigene oder das fremde Erleben, was bleibt ist versuchen, nicht aufgeben, schreiben. Lesen, schreiben. Alles aufschreiben. Irgendwas davon bleibt doch hängen und wird irgendwann zur Legende oder zu Makulatur. Im Grunde ist es egal, ob daraus Kunst wird oder nicht. Schreiben ist eh nur eine Krücke. Benutze sie und benutze sie weise. Eins tue dabei auf keinen Fall: Frage dich niemals, ob es authentisch ist.