Die Geschichte von Lew

Ein Zeitzeugenbericht eingeflochten in einen Essay-Roman. Ein großes Thema sachlich dargebracht. Dieses Buch ist eine Reise zu einem sehr wichtigen und bis heute verdrängten Kapitel der russischen Geschichte.

Wir verstehen nicht, was geschieht. So heißt der neue Roman von Viktor Funk. Es ist ein Zitat aus dem Buch und könnte auch auf uns und unsere Zeit angewendet werden. Im Roman steht dieser Satz zuoberst in einem Brief, den ein GuLag-Insasse im April 1953 an seine Verlobte schreibt, keine vier Wochen bevor es mit Stalin zu Ende geht.

Lew als junger Mann. Foto von: unrecht-erinnern.info

Worum geht’s?
Alexander List, ein junger Historiker aus Deutschland bekommt über Memorial in Moskau den Kontakt zu Überlebenden des GuLag-Systems, um sie zu interviewen. Mit einem von ihnen, Lew Mischenko, begibt er sich auf die Reise nach Petschora, eine Stadt im hohen Norden. Dort war in der Stalinzeit das Lager gewesen, in dem Lew neun Jahre eingesessen hat.

Der Grund von Lews Inhaftierung ist ebenso typisch wie hanebüchen: er war Kriegsgefangener in deutschen Lagern und hat überlebt. Und ist zurück in die Sowjetunion.
Damals wurden alle, die Hitler entkommen waren, und zurückkehrten, in Lager gesteckt. Denn laut der verqueren Logik des damaligen Regimes, konnten sie nur Verräter und Kollaborateure des Nazisystems sein.

Was den jungen Wissenschaftler bei seiner Arbeit umtreibt, ist die Frage: wie war es möglich dieses System, diese Hölle zu überleben? Woraus haben die Menschen die Kraft geschöpft, weiterzumachen?

Petschorlag. Nicht am 1. Mai.

Bei Lew scheint es unter anderem der Briefkontakt nach außen gewesen zu sein, zu seiner Tante und zu seiner Cousine Swetlana, die er später sogar heiraten wird. Eine GuLag-Strafe ohne Briefkontakt war das härteste, das du bekommen konntest. Nach der Lektüre dieses Romans wir es konkret, warum das so ist. Lew jemanden von außerhalb des Lagers. Er war zwar neun Jahre im Lager, aber mit Briefrecht. Oder nein, es waren geschmuggelte Briefe über einen Freund, der dort angestellt war, der das Lager verlassen konnte. So war das!

Lew hatte viel Glück. Immer traf er auf Leute, die ihn unterstützten, hielten, deckten, wie der sudetendeutsche Aufseher im Nazilager, der ihn unter die Fittiche nimmt, ihm eine bessere Arbeit verschafft, auch hier. Eine einzelne Person und schon hast du einen Lichtblick, deine Chancen steigen, du überlebst. Ist es wirklich das? Ist es das, was das Überleben möglich macht?

Funk beschreibt die teils unmenschlichen Ereignisse auf eine sachliche Weise, zurückhaltend ohne Groll. Er lässt die Personen über ihre Erlebnisse sprechen. Oder schweigen.

Auch ich verstehe oft nicht, was geschieht. Wir leben in Zeiten, in denen Russland Organisationen wie Memorial zu unerwünschten Auslandsagenten erklärt, in denen jegliche Opposition ausgelöscht wird und Menschen wegen des Hochhaltens eines weißen Blattes Papier ins Gefängnis kommen. Da ist eine solche Geschichte wichtiger denn je.

Es gibt im gesamten Roman kaum Ausschmückungen. Wir erfahren, dass es im Hotel dunkelrote Vorhänge gibt. Wir erfahren etwas über die Stadt Petschora von einem Taxifahrer. Aber es bleibt mager.
„Warum ist die Straßenbeleuchtung ausgeschaltet?“, fragte Alexander.

„Kein Geld“, sagte der Fahrer, „die Stadt spart.“ Er fuhr langsam, wich Schlaglöchern aus und schwieg. Nach einigen Minuten bog er nach links ab, dann hielt er, stieg aus und lief einige Meter eine Straße nach rechts. Er kam zurück, stieg wieder ein und sagte: „ Das Hotel haben sie restauriert, aber die Straße ist immer noch so beschissen wie früher. Idioten.“
S64

Funk bleibt sparsam mit Beschreibungen, und auch sparsam mit Emotionen. Handlungen werden beschrieben, Gespräche. Auch die Briefe triefen nicht. Und sind dennoch. Stark. Ganz pragmatisch und sachlich beschreibt er Vorgänge, die einem sonst das Blut gefrieren lassen würden.

„Zu meiner Zeit war darin die Lagerverwaltung. Unsere Fenster hier gehen nach Osten. Da vorne war das Lager, nur ein paar hundert Meter entfernt. Der Zaun war drei Meter hoch, aus Holz, Brett an Brett, kein Blick nach draußen, kein Blick nach drinnen. Stacheldraht, Wachtürme. Irgendwo waren die Latrinen. Wir durften hin, wenn wir mussten, aber es gab bestimmte Wege, die wir nicht verlassen durften. Einmal ging Jakowlew, ein Gefangener aus der Sägebrigade nachts raus und wollte nicht zur Latrine laufen. Es war Winter, kalt. Er stellte sich irgendwo hin. Dann ein Schuss. Und Jakowlew war tot.“
S 65

So entsteht eine journalistisch angehauchte Fiktion, ein Zeitzeugenbericht in Romanform mit eingebauter Reise mit der Transsibirischen Eisenbahn. Denn Lew bittet den jungen Wissenschaftler mit ihm an die Stätte seiner Verbannung zu fahren. Funk schildert Tatsachen, man findet keinerlei überflüssigen Beschreibungen, eigentlich gar keine Beschreibungen, weder von Landschaften noch von irgendwelchen Innenansichten von Seelen. Sie sitzen im Abteil, sie trinken Tee, sie reden. Und doch wird die Wucht der Zeit vermittelt. Der Protagonist ist, genau wie der Autor ein unbeteiligter Betrachter, einer der schaut, sammelt ohne zu werten. Und vor allem, der sich selbst komplett herausnimmt. Einmal taucht bei Alexander eine Erinnerung an ein Unglück aus seiner eigenen Familie auf. Sonst zeigt er nichts von sich. Er hat einen Rucksack. Er trinkt Tee. Er hört sich die Aufzeichnungen an.

List fragt, warum Lew in seinem Notizbuch, in dem er Ende der Achtziger seine Erinnerungen festhält, nie über seine Gefühle spricht. Und lässt selbst in diesem Buch die Gefühle außen vor.
Der Stil passt irgendwie zu der Gefühlslage des Physikers Lew. Auch er lamentiert nicht, er beobachtet, sucht einen Ausweg und bringt heisenbergsche Vergleiche, wenn es um seine Gefühle von damals geht:

„Kennen Sie das Unschärfeprinzip?“

„Sie meinen Heisenberg? Ich kann entweder den Ort oder die Geschwindigkeit des Teilchens feststellen, nicht beides. Das?“

„Das ist die einfachste Erklärung, aber das genügt. Mit dem Menschen ist es nicht anders, denke ich heute. Entweder Sie leben in dem Moment, oder Sie denken über Ihre Angst, Hoffnung oder Verzweiflung nach. Und damals hatte ich keine Zeit zum Nachdenken. Ich hatte keine Zeit darüber klar zu werden, was in mir vorgeht. Nicht, dass ich nichts fühlte. Es war das Gegenteil. Die Gefühle waren so intensiv, dass ich nicht über sie nachdenken konnte“, erklärte Lew. Er atmete tief. Seine Schultern hoben und senkten sich.
S. 44

Mehr wird uns als Erklärung nicht gegeben. Ein Paradox: Lew selbst nennt die Umstände seines Lebens Glück. Aber an den entscheidenden Stellen, hatte er ja auch Glück, traf gute Menschen. Wurde nicht erschossen. Er traf die Liebe seines Lebens, blieb mehrere Jahrzehnte mit ihr zusammen, nachdem er in Freiheit war.

Obwohl das Buch stellenweise so wirkt, ist es keine Reportage, folgt einer Handlung, richtet sich nach den Gesetzmäßigkeiten eines Romans. Aber es gibt keine verschiedenen Zeitebenen. Nur das, was die Zeitzeugen im O-Ton erzählen, die Briefe, das Notizbuch. Was ich meine ist, es wird nicht gesprungen. Die Perspektive bleibt in der Gegenwart. Alles wird nur durch die Menschen und ihre Erzählungen gespiegelt.

„Was willst du mir zeigen?“, fragte Lew.
„Wir gehen morgen zum Friedhof, da hat die Stadt eine kleine Gedenktafel aufgestellt.“
„Das ist gut. Sowas sollten sie auch in Moskau machen, aber richtig. Sie müssen auf dem Platz, wo diese hässliche Dscherschinskij-Statue stand, einen Obelisken aufstellen und darauf die Namen aller Gulag-Gefangenen eingravieren. Wie hoch müsste dieser Obelisk sein? Was für eine Zukunft hat dieses Land, wenn es seine Vergangenheit leugnet?“
S88

Der Friedhof von Petschora

Auf Website von Viktor Funk gibt es auch weitere Infos über den Roman und seine Entstehung. So fügt sich alles zusammen. Lews Bildnis, die Briefe, das Foto von den Büchern der Gefangenen.

Es existiert sogar eine eigene Website mit der Lebensgeschichte des echten Lew:

Mit Bildern und Lebenslauf und einem Video, in dem er als Zeitzeuge auftritt. Wir hören seine Stimme, wir erleben, wie ruhig er aus seinem Leben erzählt. Das ist wie extra Material zu dem Roman. Ich finde es immer bereichernd, sich die Menschen hinter den Geschichten anzuschauen, besonders wenn diese Geschichten auf dem wirklichen Leben basieren. Der Autor sagt irgendwo in einem Interview, dass er einiges verändert hat, nicht nur die Namen, auch die Briefe hat er umgeschrieben. Aber er schöpft eben aus einem real existierenden Fundus.

Das Video:

Lew als Zeitzeuge berichtet über seine Erlebnisse in Deutschland.

Viktor Funk war in den Nuller Jahren und 2017 selbst in Moskau und Petschora, hat mit Überlebenden gesprochen, die Orte und Archive aufgesucht. Jetzt sind die Archive wieder geschlossen und Organisationen, die sich wie Memorial um die Aufarbeitung der tragischen Geschichte kümmern, sind die Hände gebunden.

Es ist wohl eine echte Ausnahmesituation, ein echter Glücksfall, dass dieser Briefwechsel aus dem GuLag erhalten geblieben ist, so dass sich Memorial und forschende Wissenschaftler daraus bedienen können. 2012 ist schon einmal ein Buch entstanden, das auf diesen Briefen basiert, ein wissenschaftliches. Es heißt: „Schick einen Gruß, zuweilen durch die Sterne“ von Orlando Figes.

Das Buch von Viktor Funk fokussiert sich nicht nur auf die Briefe allein. Es geht auch um die gemeinsame Reise von Lew und Alexander an den Ort unterwegs, an den Lew verbannt worden war. Mit der Trassibirischen Eisenbahn. Aber so anders ist dieser Bericht als die der üblichen Transsib-Touristen. Nicht zu vergleichen. Denn immer wieder lauscht Alexander seinen Aufzeichnungen, liest die Briefe oder bekommt von Lew Informationen aus erster Hand über sein Leben und Überleben im GuLag.

Petschora, das ist etwa zwei Tagesreisen von Moskau entfernt. Eine Stadt in der Republik Komi, 1946 als Sammelpunkt zum Verschicken von Arbeitsgefangenen an andere finstere Orte entstanden, nach Workuta zum Beispiel. Diese Stadt wurde von Häftlingen gebaut. Und heute? Schulkinder sagen patriotische Sprüche vor patriotischen Denkmälern auf. Wir sind stolz auf die Vergangenheit unserer Stadt.

Heutige Kinder am Heldenehrenmal


Heute leben hier die Nachkommen der Bewacher und der Bewachten. Auch das wird im Roman thematisiert.

Sonst höre ich eher Kritik daran, dass solche Verbannungs- und Lagergeschichten mit viel Pathos und sehr vorwurfsvoll erzählt werden.
Hier ist es nicht der Fall. Lew wurde ein großes Stück Lebenszeit gestohlen, seine Jugendjahre aber er empfindet keine Bitterkeit. Er hatte Swetlana. Siebzig Jahre kannten sie sich, betont er. Später waren da seine Kinder. Freunde fürs Leben, die er in diesen Extremsituationen gewonnen hat. Ein bescheidenes Leben in Moskau. Es ist doch einiges gut gegangen, trotz des unmenschlichen Umgangs mit den Menschen unter Stalin und danach.

Nicht nur für Russland, das sich vor seiner Vergangenheit versteckt, auch für unser Land sind solche Erzählungen von Wert. Denn es gibt ein weiteres wichtiges Thema, das in diesem Buch behandelt wird: Die Sache der Ostarbeiter und Ostarbeiterinnen. Das was im Krieg mit den slawischen Kriegsgefangenen und Zwangsarbeitern und Arbeiterinnen im nationalsozialistischen Reich geschah, bleibt bei uns noch zu sehr unter dem Radar.

Natascha Wodin hat das in ihren späteren Büchern beschrieben– sie ist selbst Kind zweier Ostarbeiter, die nach dem Krieg in Deutschland geblieben sind. Aber sonst bleibt es ein vergrabenes Stück Geschichte, ein Thema, über das wenige Bescheid wissen.

Zwischendurch erinnert sich Alexander an Gespräche mit anderen Zeitzeugen, die er früher besucht hatte. Das, was sie erzählen, wird immer wieder eingeflochten. Eine der interviewten Frauen, Katja Iwanowa, antwortet auf die Frage, warum die Gefangenen in den Untersuchungsgefängnissen ihre Namen und die Strafe in die Wände ritzten: „Damit die anderen es wissen, damit etwas von uns bleibt.“ S112
Darum sind solche Bücher wichtig. Auch ein schöner Titel übrigens… Damit etwas bleibt.

Bei aller Sachlichkeit hatte ich beim Lesen an einigen Stellen einen Kloß im Hals. Oft nicht bei den grausamen Schilderungen des Lagers, sondern wenn etwas gut ausgegangen war, wenn es Hilfe gab.

Die Organisation Memorial wurde erst letztes Jahr als feindlicher Agent eingestuft, darf faktisch nichts mehr. So geht das Land mit der eigenen Erinnerungskultur um. Um so wichtiger sind leise Bücher wie dieses, die beim Lesen ein sehr lautes Echo im Innern hervorrufen.


Viktor Funk,
Wir verstehen nicht, was g
eschieht

Verbrecher Verlag Berlin
Hardcover, 156 Seiten
Preis: 20,00 €
ISBN: 9783957325365

Bibliothek der vergessenen Bücher: Ein Weckglas voller Zettel

Wieder ein Buch mit einer ziemlichen Odyssee. Richtig vergessen war es eigentlich nie, ging nur für längere Zeit verloren. Aber zunächst macht die Autorin selbst eine nicht so angenehme Reise, als Verbannte an den arktischen Rand der Welt. Als Hitler und Stalin sich in einem Pakt Europa aufteilen, werden die baltischen Länder von der SU kurzerhand annektiert, rund 50.000 Menschen werden verhaftet und in einer großangelegten Aktion ab dem 14. Juni 1941 in sibirische Lager verfrachtet. Unter anderem Dalia Grinkevičiūtė und ihre Familie. Zu diesem Zeitpunkt ist sie 14 Jahre alt.


Später schreibt Dalia ihre Erinnerungen an die ersten zwei Jahre Verbannung nieder, da ist sie bereits 23 und befindet sich auf der Flucht vor dem KGB in Litauen. Sie schafft es gerade noch, die losen Blätter in einem Einweckglas im Garten zu vergraben. Dann wird sie wieder verhaftet. Jahre später, nach einer Ausbildung zur Ärztin und ihrer Rehabilitierung sucht sie nach diesen Aufzeichnungen, findet sie aber nicht mehr. Aus der Erinnerung verfasst sie eine kürzere Version ihrer Erinnerungen, die in dissidentischen Schriften in Russland und Litauen und als Roman in den USA erscheint. Erst vier Jahre nach Dalias Tod 1991 wird zufällig ein Wildrosenbusch in dem besagten Garten in Kaunas verpflanzt und das Weckglas mit den 229 eng beschriebenen Seiten kommt ans Licht. Danach erscheinen die Aufzeichnungen als Buch in Litauen und werden in den Schulunterricht integriert. Im Jahre 2014 kommt mit dem lakonischen Titel „Aber der Himmel – grandios“ im Mathes&Seitz Verlag in Berlin heraus. Etwa 64 Jahre nachdem die Autorin das Manuskript verfasst hat.

Eine Seite aus dem Manuskript.

Statt ihre Teenagerjahre zu genießen, muss Dalia unter den unmenschlichsten Bedingungen im Altai Gebiet und in der Arktis Zwangsarbeit leisten. Aber sie ist eine, die überlebt. Insofern sind die Notizen auch eine Bekundung der Stärke und Lebensmut. Das Manuskript beginnt ohne Kapiteleinteilungen, und es endet auch sehr abrupt. Dalia hat es in größter Eile geschrieben, mit der Angst im Nacken, entdeckt zu werden. Dennoch ist es ihr gelungen, das Unmenschliche in einer kühlen aber kraftvollen Sprache festzuhalten.


Es will nur schwer in den Kopf, dass unser leitendes Personal auf Trofimowsk – jeder von ihnen – eine warme 2-Zimmer-Wohnung in einem Blockhaus hat. Wir haben diese Häuser gebaut. Sie haben genügend Kerzen, um ihre Wohnungen zu erleuchten, sie können essen was sie wollen. Ich dachte, in Kriegszeiten müsste jeder Entbehrungen auf sich nehmen, aber sie entbehren nichts. Nach dem Krieg werden sie erzählen: Wir haben die Kriegslast auf uns genommen, wir haben zum Wohle des Vaterlands die Massen für den Kapf motiviert. Sie werden Auszeichnungen bekommen und die mit litauischen und finnischen Leichen gefüllte Grube wird ein Zeugnis ihrer Mühen sein.
S 110

Grinkevičiūtė beschreibt auch Menschen, die trotz der unmenschlichen Verhältnisse und der Vernachlässigung ihre Würde nicht verloren haben. Wie die ehemalige Krankenschwester Lidia, die sich scheinbar aufgegeben hat, mit dem Nebeneffekt, dass sie überhaupt keine Angst mehr kennt, und somit von niemanden unter Druck gesetzt werden oder zu etwas gezwungen werden kann, auch nicht zum Dienst.

Dalia mit elf Jahren in ihrer Schuluniform. Drei Jahre vor der Deportation.


Alltägliches kommt in dieser Hölle auch vor. Dalias Freude ist groß, als sie mit anderen Jugendlichen in einer geheizten Stube Schulunterricht erhält, ihre Enttäuschung, als dieses Privileg aufhören soll, ebenso.

Ich stehe mit meinen eingerissenen Filzstiefeln in schmutzigen Arbeitshosen aus Watte vor der Tafel, Kreide in der Hand und wundere mich – wie ich hier landen konnte. Das ist ein Traum, hier ist es warm, hier brennen Kerzen, hier ist es hell, hier spricht man mit mir wie mit einem echten Menschen. […] Ich höre nichts, reagiere auf nichts. Dalia, du gehst wieder zur Schule meine Güte, wach auf, du Trottel. Langsam komme ich wieder zu mir, ich fühle mich in dieser Situation nicht mehr so verloren und fremd. In den Pausen setzen wir uns alle sechs um den Ofen und erzählen uns unser Leben. Meine guten lieben Klassenfreunde, sie bedauern mich, so wie ich sie bedauere. Sie sind hungrig wie Hunde, so wie ich, über ihren Rücken krabbeln in der Wärme erwachte Läuse, wie über meinen.
S 56

Unterscheiden sich diese Aufzeichnungen von Erfahrungen, die wir von anderen Zeitzeug*innen und Chronisten der stalinistischen Lager kennen? Ich denke schon, denn sie sind von einer sehr jungen Frau aufgeschrieben worden. Fast noch einem Kind. Und sie hat sie wenige Jahre nach den Erlebnissen notiert, hastig, ungeformt, aber sicher nicht ungefiltert. Es ist anders als bei Schalamow, als bei Solschenitzin, eine weibliche Sicht der Umstände. Trotz allem. Die Zeitzeugin beschreibt, ohne es zu werten, wie manche Frauen, um zu überleben, zu Geliebten der russischen Kommandanten werden.

So erzählt eine Mitgefangene:

Es ist nicht einfach zu flirten, Dalia, du lächelst und versuchst jemandem den Kopf zu verdrehen, bist aber ohne Rock, in einer zerrissenen Wattehose, von der dir die Wattestücke am Hintern kleben. Du versuchst die Löcher mit einem Tuch zu verdecken, während die Läuse, die in der guten warmen Stube aufgewacht sind, dir den Rücken entlangkrabbeln. Am liebsten würdest du dich kratzen, dich an eine Wand lehnen und sie zerdrücken, aber du musst lächeln. Obwohl der Magen knurrt… glaub mir, es ist schwer, Dalia, hinter dem Polarkreis zu flirten.
S 103

Es ist ein harter Überlebenskampf. Um zu überleben, gehen die Gefangenen bis an ihre Grenzen und auch darüber hinaus. Das kennen wir auch aus den Aufzeichnungen russlanddeutscher Zeitzeuginnen und Zeitzeugen.

Warum ich gerade dieses Buch ausgewählt habe? Bei all der Beschäftigung mit dem russlanddeutschen Schicksal darf nicht vergessen werden, dass unsere Volksgruppe die Erinnerungen an die Verbannung und die Schikanen des Stalinismus nicht für sich allein gepachtet hat. Diese Erfahrung verbindet uns mit vielen anderen, die Aufgrund ihrer Ethnie oder der Lage ihrer Länder willkürlich verbannt wurden. Dazu gehören auch die drei baltischen Staaten und einige andere Länder des Warschauer Paktes aber auch die Krimtataren, Koreaner*innen, Menschen aus Tschetschenien oder die kommunistischen Griechen und Griechinnen, die vor ihrem eigenen rechten Regime in die Sowjetunion geflohen waren, um sich in Sondersiedlungen wiederzufinden.

Es gab Unterschiede, natürlich. Zum Beispiel konnten die Überlebenden aus dem Baltikum nach Stalins Tod, spätestens Ende der 1950, in ihre Heimat zurückkehren. Aber die Schrecken der sibirischen Kälte, die Folgen der Zwangsarbeit nahmen sie natürlich mit. Wir sind also nicht allein damit, wir haben dieses Leid nicht als einzige erfahren. Das ist gut zu wissen. Das Gulagsystem ist ein großer Gleichmacher. Lässt alle Geschichten zu einer verschmelzen. Und dennoch. Es gibt diese Unterschiede. Bemerkenswert ist zum Beispiel, wie unterschiedlich die Rezeption dieser Erlebnisse und Aufzeichnungen in den verschiedenen Ländern ist. Der 14. Juni, also der Beginn der stalinistischen Deportationen aus Estland, Lettland und Litauen ist in diesen Ländern seit dem Untergang der Sowjetunion ein offizieller Gedenktag. Die Tagebuch-Aufzeichnungen von Dalia Grinkevičiūtė gehören heute zum Nationalerbe des Landes. Eine Freundin von ihr hat in ihrem eigenen Wohnhaus in Kaunas ein privates Museum zu Ehren von Dalia Grinkevičiūtė eingerichtet.

Dalia wurde aus ihrer angestammten Heimat entführt und kehrte dahin zurück. Es war von Anfang an klar, dass Litauen das Opfer und die Sowjets unter Stalin der Agressor sind. Obwohl es auch da Graustufen und Ambivalenzen gegeben haben muss. Nicht alles ist schwarzweiß, nicht alles liegt auf der Hand. Aber die Hauptzweige der Erzählung sind klarer als es mit dem schwierigen Verhältnis zwischen Deutschland und Russland sein kann. Mit den DaR irgendwo dazwischen hängend. Ich merke an dieser Stelle, dass ich mich längst mal mit der Wahrnehmung der Rückkehrer*innen nach Südkorea befassen wollte. Ob es hier ähnliche Erfahrungen mit der Rückkehr in ein Land gibt, von dem man solange abgespalten war? Wurden sie dort willkommen geheißen oder mussten sie sich ganz hinten anstellen? Heißen die dort auch Spätaussiedler? Und wie war es in Tschetschenien? Gibt es dort eigentlich eine Aufarbeitung der Ereignisse, jetzt, wo Kadyrow der beste Kumpel des russischen Machthabers ist?


Dalia Grinkevičiūtė
Aber der Himmel – grandios
Hrsg. Vytenė Muschick
Matthes und Seitz Verlag, 2014

Zu dem deutschen Buch existiert auch eine Website mit Hintergrundinfos und Terminen für Lesungen, die sicher bald wieder stattfinden können:

Gemeinsam mit dem Saxophonisten Martin Muschick und der Geräuschemacherin Friederike Kenneweg hat die Verlegerin Vytenė Muschick ein Lesungskonzept entwickelt, bei dem sich Textpassagen und Musik gegenseitig durchdringen und im Klang dem Zuhörer den erforderlichen Raum lassen. Die Musiktracks heißen u.a. „Dalia 1 Atem“ Oder „Dalia 3 Polarkreis“.
Wer mag, kann sie hier, ganz unten auf der Seite anhören:

Bibliothek der vergessenen Bücher: Die sieben Leben der Angelina Rohr

Es gibt eine Schriftstellerin, die als junge Frau nach Moskau gegangen ist, die Strapazen des GULag und der Verbannung überlebte und noch immer in Russland lebend, diese Erlebnisse in Prosa verarbeitet hat. Sie hat keinen russlanddeutschen Hintergrund, das nicht, hat aber auf ihrem Lebensweg DaR getroffen und auch über sie geschrieben, aber nur am Rande. Und nicht immer sehr vorteilhaft.

Doch zunächst möchte ich auf ihre Vita eingehen, nicht nur um einen Kontext für ihre schriftstellerische und journalistische Arbeit zu schaffen, sondern weil sie sich selbst wie das Drehbuch zu einem Film anhört.

1890 wird sie als Angela Müllner in Mähren geboren, begibt sich in die Dada und Surrealisten-Szene, lebt mit ihrem Ehemann vor dem ersten Weltkrieg mittellos in Paris, schreibt, und erwirbt Kenntnisse in Medizin und Psychologie, ohne einen akademischen Abschluss zu machen. Sie trifft Rilke, freundet sich mit ihm an. Er lobt ihre Prosa und ihren starken Ausdruck.

Mitte der Zwanziger Jahre folgt sie ihrem dritten Mann Wilhelm Rohr nach Moskau, heißt nun Angela (Angelina) Rohr und erhält die russische Staatsbürgerschaft. Sie arbeitet bis zur Schließung am dortigen Institut für Psychoanalyse mit und später in der russischen psychoanalytischen Vereinigung.
Als Korrespondentin schreibt sie Artikel und Reportagen für deutschsprachige Zeitungen in Österreich und Deutschland und der Schweiz. Als Bertholt Brecht in Moskau weilt und krank wird, ist sie seine behandelnde Ärztin. Er ist dabei ein Empfehlungsschreiben an den russischen Schriftsteller Konstantin Fedin zu schreiben und möchte sich für Angela einsetzen. Doch dann überschlagen sich die Ereignisse.
Nach dem Überfall der deutschen Wehrmacht auf die Sowjetunion wird Angela Rohr verhaftet und zu fünf Jahren Lager verurteilt. Danach ereilt sie das gleiche Schicksal wie alle Deutschen in der UdSSR. Sie bleibt bis Stalins Tod in Tawda, wo sie im Lager einsaß. Danach noch Jahre im Verbannungsgebiet. Erst nach ihrer Rehabilitierung Ende der Fünfziger darf sie nach Moskau zurückkehren.

Angela Rohr vor einer Forschungsreise nach Sibirien um 1927. PrivatarchivHans Marte, Wien

Insofern teilt sie das Schicksal, das alle deutschstämmigen in den Jahren nach 1941 ereilt: Verhaftung,Verbannung, Verbot an den Ort zurückzukehren, wo sie früher gelebt hat, später dann die Rehabilitierung. Ihr auf unkonventionellen Wegen erworbenes Medizinwissen erlaubt ihr im Lager als Hilfsärztin zu arbeiten. Wahrscheinlich rettet ihr diese kleine Lüge das Leben. Als Lagerärztin entdeckt die einen Heilmittel gegen Vergiftungen mit Schierlingspflanzen, was ihr ein Rennommée in wissenschaftlichen Kreisen einbringt.

Ihre Freunde im Westen glauben, sie sei 29-jährig verstorben. Sie hat aber bis ins hohe Alter in Moskau gelebt. Mit 67 Jahren fängt sie wieder an zu schreiben, Kurzprosa und einen Roman über das Lager. Ihre Manuskripte gehen unter, werden auch in der DDR abgelehnt, erst ein nach Wien geschmuggeltes Exemplar des Romans wird Mitte der Achtziger verlegt, unter einem Pseudonym. Leider erst ein Jahr nach ihrem Tod. Die Publizistin Gesine Bey aus Berlin entdeckt die Schriften Rohrs, die unter vielen Pseudonymen erschienen sind und gibt sie ab 2010 in Deutschland heraus. Der Roman „Lager“ erschien 2015 im Aufbau Verlag.

Das Besondere ist, dass wir über Angela Rohrs Werk und ihr sehr wechselvolles, langes Leben so wenig wissen. Und das obwohl ihre Geschichten mit einer unnachahmlichen, kraftvollen und dennoch eingänglichen Art eine hohe literarische Qualität aufweisen. Insofern passt sie in die Reihe der Bibliothek der vergessenen Bücher, die ich in unregelmäßigen Abständen vorstellen möchte.

Und nun zum Eigentlichen, zu ihrer Prosa:
Die Sammlungen enthalten auch frühere Essays, aus der Zeit als sie durch die Sowjetunion gereist ist. Begeistert für das neue Land, das neue System. Nichts ahnend von den Lagern im Hinterland. Was für ein Kontrast, die Analyse von Stalins Rede von 1933 und die Erzählung „Der Vogel“ knapp dreißig Jahre später. Viel ist dazwischen passiert.

Passierschein für Angelina Karlowna Ror 1948


Rilke, mit dem sie ja einmal befreundet war, hat über sie geschrieben: “… Angela hat beides, die Kraft, Einzelheiten festzuhalten und doch auch im Bewußtsein des Ganzen zu sein.“

Auch ich bin beeindruckt. Sie kommt mir vor wie eine Chirurgin der Wirklichkeit, als würde sie ihre Erlebnisse destillieren, klassifizieren und in kleine gläserne Kästchen packen, um sie später zu ettiketieren. Sie seziert das Grauen, beschreibt es so detailliert, so genau, dass es zum aufgespießten Insekt wird und an Schrecken verliert. Ihr gelingt es, Dinge einzufangen und auszudrücken, die außerhalb des menschlichen Horizonts, fast außerhalb der Sprache liegen.

Zum Beispiel die Beschreibung einer Untersuchung einer Gruppe weiblicher Gefangener durch ebenfalls weibliches Personal:

Das erste, was sie danach taten, war, daß sie uns mit aller Wucht in die Haare fuhren, so daß wir wankten. Auf ihren weiteren Befehl rissen wir den Mund auf, hoben die Zunge zum Gaumen und streckten sie dann in ihrer ganzen Länge aus. Wir mußten zeigen, daß wir nichts Verborgenes im Munde hielten. Wir hoben die Arme, deren Achselhöhlen sie kaum mit dem Blicke streiften, schon lange waren sie anscheinend als Versteck verpönt. Wir mußten uns dann, wie in der Gymnastikstunde, hinhocken, breitbeinig, um unser Inneres darzubieten, mit dem sie sich eingehend beschäftigten.
Leider waren auch sehr alte Frauen unter uns, die nach dieser Untersuchung nicht aufstehen konnten, die weiter hockten, mit verwirrten, verständnislosen Blicken um sich sahen und auf Hilfe hofften. Einige von uns, ruhigeren Charakters, legten dann nicht nur ihre, sondern auch die Sachen derer zu dieser Arbeit nun Unfähigen zusammen. Danach stand jeder mit seinem Bündel an Ort und Stelle, so als ob nicht geschehen wäre.

aus „Der Vogel“ (1959), S. 15

Irgendwo habe ich über Ihre Prosa gelesen, sie extrahiert das Absurde aus den Situationen. Kein Wunder, hing sie doch viel mit Dadaisten und Surrealisten ab in ihrer Jugend, vieles ist aber eher lakonisch bis sarkastisch:

Der Abend der Abfahrt war endlich da. Ich stand auf dem Bahnsteig, auf dem sich außer uns noch viele Fahrgäste befanden. Ich glaubte, den Ort nun für alle ewigen Zeiten verlassen zu können, hatte aber nicht mit der fürsorglichen Regierung dieses Landes gerechnet.
aus „Lager“, S. 132

oder:

Waren wir früher alle Spione gewesen, so hatte man uns schon längst zu Landesverrätern erhöht, obwohl ich den Unterschied zu diesen nie recht begreifen konnte.
Erzählung „Die Zeit“, aus dem Sammelband „Der Vogel“, S. 58


Es beeindruckt mich und ich denke, wer weiß, vielleicht hat diese kleine schmale Person diese Hölle bloß überlebt, weil sie sich gezwungen hat, zu beobachten. Von außen die Schrecknisse zu betrachten, um später darüber zu schreiben. Auf jedes Detail, jeden Satz achtend. Die Stimmung, die Szenerie, die Dialoge, die Personen genau einfangend. Zum Beispiel den Gesichtsausdruck einer Frau, die vom Verhör zurückkommt. Damit du es Wort für Wort, Buchstabe für Buchstabe später notieren kannst:

Die Frauen, die in jener Nacht verschwunden waren, gehörten nun für uns schon fast zu den Vergessenen. Nach ungefähr zehn Tagen kamen einige davon zurück, die anderen aber sahen wir nicht wieder. Das waren nun traurige Geschöpfe, die wir umringten. Sie hatten eine so merkwürdig fernen Ausdruck in ihren Gesichtern, ihre Arme gehorchten ihnen nicht ganz. Sie klagten, daß sie unsäglich müde seien, und so sahen sie auch aus. Das, was sie uns dann allmählich erzählten, das, was sie erlebt haben wollten, war schwer zu glauben und wir lehnten es auch ganz und gar ab. Wenn es die Wahrheit gewesen sein sollte, das, was sie uns mitteilten, hätte es uns doch auch treffen können. Es war besser und ganz richtig, daß wir diese Dinge nicht an uns herankommen ließen.
aus „Der Vogel“ S. 47

Hat sie deswegen überlebt? Weil sie sich vorgenommen hat, später zu berichten? Nein, das sind nur meine Spekulationen. Fragen kann ich sie nicht mehr, sie starb in Moskau im Jahr 1986, da lebte sie von einer Minirente in einer mit Büchern vollgestopften Wohnung. Und Tagebücher hatte sie meines Wissens nach nicht hinterlassen, nur ihre Prosa.
Möglicherweise hat sie das Arbeitslager überlebt, weil sie zäh war, weil sie Glück hatte, mehr als einmal. Ganz sicher, weil sie mutig war. Sie beschreibt ihre Zeit als Ärztin bei den Schwerverbrechern. Da kannst du dir nicht erlauben, auch nur die kleinsteSchwäche zu zeigen. Sie hat es geschafft, sich bei diesen Kriminellen Respekt zu verschaffen. Aber sie hätte niemals Ärztin von sich gesagt, immer nur Arzt.

Brot war natürlich das Wichtigste für uns, wenn auch jeder seine bestimmte Einstellung dazu hatte. Es war Nahrung, und auch wieder nicht, es war der Maßstab zu einem Charakter. Hier gab es Leute, die ihr Brot morgens, zusammen mit einem Viertelliter heißen Wassers, sofort und ohne zu schwanken aßen. Das waren die einen, die anderen aber zögerten aber damit und lebten in einer beständigen Angst, daß man es ihnen stehlen könnte, was auch ohne weiteres möglich war.
S. 20 „Der Vogel“

Hier haben wir keine Übertragung, keine Übersetzung aus dem Russischen oder dem Litauischen oder einem anderen Idiom. Es ist ein Zeitzeugenbericht in deutscher Sprache und von einer Qualität, die sich vor den Granddames und Grandmessieurs der Lagerliteratur nicht zu verstecken braucht.

Vereinzelt kommen auch Russlanddeutsche in ihren Geschichten vor. In den Erzählbänden taucht ein Artikel mit dem Titel „Deutsche Bauern in Russland“ auf, der 1930 in der Frankfurter Zeitung erschienen ist. Darin schildert sie die Eindrücke von einem Besuch eines deutschen Dorfes im nördlichen Kaukasus. Für mich ist es total spannend, das aus dieser Perspektive zu lesen, weder aus russischer noch von russlanddeutscher, sondern mit den Augen einer österreichischen Kommunistin.
Nicht immer schneiden die DaR bei Angela Rohr gut ab, sie zeigt sie mit all ihren Facetten. In ihrem Roman „Lager“ taucht eine eher grobe Wolgadeutsche auf, die sie, also die Protagonistin, bei den Wachhabenden anschwärzt, weil sie Angst hat, dass sie ihr den Platz als Sanitäterin streitig macht. Ein anderes Mal feiert sie Weihnachten mit drei wolgadeutschen Frauen, die in der Baracke „Stille Nacht, heilige Nacht“ singen. Doch sie kommen nur am Rande vor, wenn überhaupt. Wie der Tod Stalins in einem deutschen Dorf aufgenommen wird, beschreibt sie so:

Der Tag seines Todes war für die Bewohner des Dorfes eine Zeit der Trauer. Ich traf weinende Frauen auf der Straße, die gleich mir und ebenfalls als Deutsche ewige Verbannung erhalten hatten. Verstehe das wer will!
aus „Lager“, S. 287

Das muss Angela Rohr irgendwann in den Achtzigern sein.

Ich bin dankbar für den Fund, durch Zufall habe ich den Roman letztes Jahr in einem Antiquariat gesichtet. Ich weiß nicht, woher Angela Rohrs kristalline Klarheit kommt, diese kalte, über allem schwebende Sprache, die Abstand schafft, die konkret ist, Gefühle weglässt und dennoch so unter die Haut geht. Jedenfalls ist es eine Bereicherung und verschafft Einblicke in ein Leben, von dem wir uns sonst gerne abwenden. Weil es schwer ist, hinzusehen.

Veröffentlichungen von Angela Rohr, herausgegeben von Gesine Bey:

Der Vogel. Gesammelte Erzählungen und Reportagen. Basisdruck Verlag Berlin 2010.

Lager. Autobiographischer Roman. Aufbau Verlag, Berlin 2015. – Übersetzungen ins Niederländische, Tschechische und Italienische.

Zehn Frauen am Amur. Feuilletons für die Frankfurter Zeitung. Reportagen und Erzählungen aus der Sowjetunion (1928 – 1936). Mit Fotografien von Margarete Steffin und anderen. BasisDruck Verlag Berlin 2018.

Begegnung. In: Sinn und Form, Heft 3, Berlin 2016. S. 359-371

Locker flockig aus der Hölle

Was geschieht, wenn sich ein Youtuber des Themas Gulag annimmt? Genau, er redet locker flockig über Minusgrade und vergleicht seine Hightech Kleidung mit der unzureichenden Kleidung der früheren Häftlinge. Aber nicht nur. Der Vblogger Jurij Dudj, der sonst dafür bekannt ist, dass er Promis und Politiker vor die Kamera bittet, begibt sich auf die Spuren von Arbeitslagern im entferntesten Winkel Sibiriens. Er interviewt Mitarbeiterinnen von Gedenkstätten und Söhne und Töchter von Überlebenden.

Am Pol der Kälte herrschen schonmal minus 71 Grad.

Der Film ist reißerisch aber nicht oberflächlich, wie geschaffen für ein Publikum, dass schnelle Bilder gewohnt ist. Diese Doku wurde bisher auf keinem der staatlichen Kanäle der russischen Föderation gezeigt. Aber auf Youtube erzielte sie nach weniger als einem Monat bereits über 13. Millionen Zuschauer*innen. Eine coole, sehr, sehr coole Aktion, lieber Jurij Дудь.

Normalerweise bitter der Vblogger Jurij Dudj Promis, Politiker oder Sportler auf ein Gespräch vor die Kamera.

Jurij Dudj gibt zwei Gründe dafür an, dass er und sein Team sich diesem schweren Thema zuwenden: zum einen, hat eine Erhebung in der russischen Föderation letztes Jahr festgestellt dass fast die Hälfte der jungen Leute zwischen 18 und 24 Jahre noch nie etwas von stalinistischen Repressionen gehört haben. Zum anderen möchte er dieser Angst auf den Grund gehen, sich ja nicht hervorzutun oder irgendeine Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Die besonders unter den älteren Generationen weit verbreitet ist. Und er vermutet den Grund dieses duckmäuserischen verhaltens in der Verschickungen, die besonders in der Stalinzeit jeden und jede willkürlich treffen konnten. So zum Beispiel die Eisverkäuferin, die ihren Freunden ein Eis ausgegeben hatte und versäumt hatte am Ende des Arbeitstages das fehlende Geld in die Kasse zu tun.

Ivan Panikarow begann vor 37 Jahren Zeitzeugenberichte zu sammeln. Es entstand ein Museum – in seiner eigenen Wohnung.

Leider gibt es diesen Film bisher nur in russischer Originalausgabe, aber hier eine Version mit Untertiteln auf Englisch:

Eine Geschichte hat mich besonders berührt. Es ist die Geschichte der Musikers und Komponisten Wsewolod Zaderatsky, der einsitzen musste, weil er Soldat der Weißen Armee gewesen war und außerdem den Zarensohn Alexej in Musik unterrichtet hat. Bei seiner dritten Verhaftung hat die GPU alle seine Kompositionen vernichtet. Jedenfalls hat dieser Komponist in seiner Verbannung in Kolyma zwischen 1937-39, auf irgendwelchen Papierfetzen (eigentlich Telegrammvordrucken), ohne Klavier seine 24 Préludes komponiert. Später wurden sie aufgeführt. Insgesamt umfasst das Material etwa 2,5 Stunden.

Hier sind einige Minuten daraus, Prélude No. 16:

Und hier die ca. 10-minütige Aufnahme der Prélude No. 1, interpretiert von Jascha Nemtzow, der diesen Komponisten entdeckt hat und der selbst Sohn eines Gulaghäftlings ist:

 

Macht und Wort – Mitten im Sturm

Haben Worte, hat Poesie die Macht das Leben zu beeinflussen?

„Mitten im Sturm“ ist ein Film von 2009, nach den Memoiren der Dichterin und Literaturprofessorin Evgenia Ginsburg entstanden, die in der Zeit stalinistischen Terrors aus nichtigen Gründen verhaftet, in einem 7 Minuten Prozess zu 10 Jahren verurteilt und in einen Gulag verfrachtet worden war. Ohne Kontakt zu ihrer Familie. Bis auf den Brief, der ihr mitteilt, dass ihr ältester Sohn in der Leningrader Blockade verhungert ist.

Sie überlebt. Ständig kreisen Gedichte und Ausschnitte aus Büchern in ihrem Kopf. Auch für ihre Mitgefangenen rezitiert sie Verse und ganze Passagen klassischer Literatur in den trostlosen Baracken des Gulags. Ein Gedicht taucht immer wieder auf in diesem Film. Es ist „Man gab mir einen Körper“ von Ossip Mandelsam.


Zerlumpte Gestalten in einer
grauweißen Landschaft. Bisher habe ich darüber bloß gelesen oder Erzählungen gehört. Meine Großmutter, die Großtanten und andere Frauen der Sondersiedlungen wurden Sommers wie Winters in den Wald getrieben, um Holz zu fällen. Dieser Film gibt mir die Bilder dazu, mit Ton und in Farbe. Und er ist kaum auszuhalten für mich.

Russlanddeutsche Gefangene im Wald, Collage von Nikolaus Rode

Absurd finde ich den marketingtechnischen Zusatz auf dem DVD-Cover: Für alle Fans von Schindlers Liste, Das Leben ist schön, Der Pianist und Sophie Scholl.
Danke ergebenst. Werber! Besser wäre eine Warnung gewesen, wie auf den Zigarettenschachteln: Dieser Film könnte ihre posttraumatischen Erinnerungen ersten und zweiten Grades wieder hervorrufen.

Oder: Nur in Gesellschaft und mit einigermaßen stabiler seelischer Konstitution konsumieren. Machen Sie Pausen.

Oder: Lassen Sie es sein. Überlassen Sie die Auseinandersetzung mit diesem Thema der nächsten Generation. Wenn es nicht anders geht, halten Sie Taschentücher in Reichweite.

Ich habe Pausen gemacht und ich habe ihn bis zum Ende gesehen. Die Taschentücher habe ich vergessen.

Irgendein Feuilleton warf dem Film vor, für ein Melodram zu wenig emotional zu sein:
Für eine erkenntnisreiche, differenzierte Betrachtung von Geschichte ist der Film damit ebensowenig geeignet, wie er zum veritablen Melodram taugt. Dafür fehlt ihm schlicht die Emotionalität, was angesichts der geschilderten Schicksale schon eine erstaunliche Fehlleistung ist.

Es ist wahr, der Eindruck, der entsteht ist verhalten, kühl und vorsichtig. Ohne diese ruhige und distanzierte Betrachtungsweise hätte ich mir den Film überhaupt nicht ansehen können, ohne mich winden zu müssen, ohne dass sich mein Inneres so zusammenzieht, dass ich aus dem Raum fliehen muss.

Außerdem, was erwarten die? Was sollen die Leute im Lager machen? Ständig ausflippen, in Tränen ausbrechen, hysterisch lachen? Sie spalten ihre Gefühle ab, um in dieser unmenschlichen Umgebung überleben zu können. Emotionen müssen Pause machen, weil die Kraft nur zum reinen Lebenserhalt reicht. Ich möchte mal sehen, wie die Dame, die den Film zu kühl findet, es schafft im Lager sensibel und offenporig zu bleiben. Das Erlebte ist zu groß für Gefühle. Zu Schrecklich.

Umgekehrt. Die verhaltene Distanziertheit ist die Stärke des Films. Das leichte Zurücktreten und Betrachten. Dabei tut es dem Stoff gut, dass eine europäische Crew ihn bearbeitet hat. Eine Niederländerin als Regisseurin, eine Engländerin als Genia Ginsburg, deutsche und polnische Schauspieler*innen in weiteren Hauptrollen und den Nebenrollen.

Das schafft eine wohltuende Distanz.

Und vor allem tut es der Geschichte gut, dass sie von einer Frau inszeniert wurde. Aus der Sicht einer Frau. Wenn ich mir nur den Trailer eines anderen Gulagfilmes ansehe, Kraj (Landstrich, 2010) von Sergej Utchitel, wird mir vor lauter heroischer Muskelmännlichkeit und den verrohten Stimmen nur übel. Die Frauen dort sind bloße willfährige Opferobjekte. Die Männer protzen rum. (Hier könnte ich einen Emoji einbauen, der grüne Masse speit, weiß nur nicht wie.)

Ach, apropos Männer. Bei „Mitten im Sturm“ gibt es einen russlanddeutschen Arzt, dargestellt von Ulrich Tukur. Er ist Mitgefangener, kennt sich aus mit Heilkräutern der Tundra und Evgenija Ginsburg verliebt sich in ihn. Auch im waren Leben wurde Anton Werner ihr zweiter Ehemann.

Emily Watson und Ulrich Tukur als Genia und Anton

Es gibt sehr starke poetische Momente in diesem Film. Die niederländische Regisseurin Marleen Gorris arbeitet mit subtilen filmischen Mitteln und setzt Gegenstände gekonnt ein. Das rote Tuch, das rote Kleid, die Spiegelscherbe. Ihr wird Arbeitslager-Ästhetik vorgeworfen, aber für mich wird diese Umgebung greifbar und nah.

Pathos und Emotionslosigkeit. Das attestieren viele Rezensionen in Deutschland diesem Werk. Und dass es naiv ist, zu glauben, dass Gedichte in einer solchen Situation überhaupt Raum gehabt hätten und irgendeine Auswirkung. Also die Leute retten würden.

In einem Interview, das Nadeshda Mandelstam, die Witwe des Dichters in den Siebziger Jahren in Amerika gibt, sagt sie in etwa: Wer kann nach Dostojewskij noch an die Macht des geschriebenen Wortes glauben.
(Vermutlich meint sie, wie konnten solche Greuel geschehn, wo es doch schon Dostojewskijs Worte in der Welt geb.)

Beides ist wahr. Dichtung kann niemanden aus dem Gulag rausholen. Und dennoch kann sie es. Und wenn die Verse nur für einige Momente das Gehirn beschäftigen und ablenken.
Wie diese  zum Beispiel:

Man gab mir einen Körper

Man gab mir einen Körper – wer
sagt mir, wozu? Er ist nur mein, nur er.

Die stille Freude: atmen dürfen, leben.
Wem sei der Dank dafür gegeben?

Ich soll der Gärtner, soll die Blume sein.
Im Kerker Welt, da bin ich nicht allein.

Das Glas der Ewigkeit – behaucht:
mein Atem, meine Wärme drauf.

Die Zeichnung auf dem Glas, die Schrift:
du liest sie nicht, erkennst sie nicht.

Die Trübung, mag sie bald vergehn,
es bleibt die zarte Zeichnung stehn.

(Ossip Mandelstam)

Der Dichter war selbst ein Opfer der stalinistischen Säuberungsaktionen und starb 1938 in einem Lager bei Wladiwostok.

Infos und Trailer auch hier: http://www.mittenimsturm-derfilm.de/

Der ganze Film ist übrigens hier zu sehen. aber ich warne Sie. Nur im Zustand seelischer Ausgeglichenheit konsumieren. Und die Taschentücher nicht vergessen!

https://www.youtube.com/watch?v=75VM8EUyd0M

Es war ein weiter Weg bis an die Wolga

Eindruckvolle Räume mit Moderator Ferch
Eindruckvolle Räume mit Moderator Ferch

Was fällt einem Deutschen sofort ein, außer Wodka meine ich, wenn er an Russland denkt? Richtig, die Transibirische Eisenbahn. Dieser Zug scheint seit dem ersten Spatenstich 1891 ein ewig währendes Faszinosum für die Bürger Westdeutschlands zu sein (die im Osten der Republik denken sicher anders, aber sie wurden für diese Doku auch nicht gefragt). Es ist erstaunlich, dass bisher noch keiner von ihnen die Transsib für die Nominierung als das neunte Weltwunder vorgeschlagen hat.

Was allerdings nicht erstaunlich ist: der Luxuszug Zarengold und seine Mitreisende, westdeutsche Rentner*innen mit Freudentränen in den Augen, die sich diese Reise mal eben zum Geburtstag gönnen, nehmen denn auch einen prominenten Teil der Berichterstattung ein über das Thema deutsche Spuren in Russland ein.

Nostalgie im Luxuswagon - das ist Russland!
Nostalgie im Luxuswagon – das ist Russland!

Auch ein Adelsfräulein, das auf den Spuren seiner Vorfahrin, Katharina der Großen wandelt, oder eher durch die Ruinen stolpert, kommt zu Wort und ein preußischer Offizier, der 1812 an dem napoleonischen Feldzug teilgenommen hat, anhand von Tagebuchaufzeichnungen.

Nennt mich nachtragend, nennt mich kleinlich,  aber wenn eine von Anhalt-Zerbst von heute sich hinstellt und sagt, also ich habe viel von meiner Urahnin, auch ich bin furchtlos, erkunde fremde Territorien, da dreht sich mir der Magen um. Ehrlich. Würde sie noch so sprechen, wenn ihre Vorfahren durch das Gulagsystem gejagt, verfemt und dann lange Zeit ihr Schicksal untern Teppich gekehrt worden wäre? Wohl kaum. Egal. Schwamm drüber.

sie wird Juschka genannt wie ihre berühmte Vorfahrin
sie wird Juschka genannt wie ihre berühmte Vorfahrin

Ich bin gerade tendenziös und ungerecht. Stimmt ja, später im Film kommen die Lebensläufe von zwei russlanddeutsche Familien mit den angemessenen Worten zur Sprache. Aber sorry, dieses vornehme Fräulein reden zu hören, ist für mich wie ein Schlag ins Gesicht.

Aber ich will ja nicht meckern, wir Minderheiten neigen dazu, uns schnell übergangen zu fühlen.

Deshalb, Tusch und Applaus: nach genau der Hälfte der Sendung erzählt Heino Ferch (das ist toll, dass sie ihn als Moderator gewonnen haben, wie kommen wir zu dieser Ehre?) von Tausenden Russlanddeutschen, die auf Geheiß der neu gekrönten Zarin ins riesige Land und an die Wolga strömen. Danke allein für diesen Satz:

Was den Russlanddeutschen widerfuhr, das gehört zu den größten menschlichen Katastrophen des 20sten Jahrhunderts.

Das musste mal gesagt werden im deutschen Öffentlich-Rechtlichen. Sonst hätte ich fast gedacht, es ginge allein um die Weiten Sibiriens.

Allerdings entsteht wieder mal der Eindruck, dass es Deutsche nur an der Wolga gab. Nichts davon, dass seit der mittelalterlichen Hanse ein reger Austausch bestand und noch vor den Siedlern an der Wolga zig Tausende Familien deutscher Herkunft in Moskau und später in St. Petersburg lebten und das kulturelle Leben dort entscheidend prägten. Nichts über die Siedlungsgebieten am Kaukasus nichts über Bessarabien oder das Schwarzen Meer.

Super, Alexander von Humboldt, der Durchreisende, wird kurz erwähnt und ein Ingenieur ohne Namen, der am Bau der Transsib beteiligt war, aber wie stark ansonsten der kulturelle Austausch gewesen ist, bleibt möglicherweise aufgrund der Kürze der Sendung (die Transsib ist eben sehr lang) leider auf der Strecke. Der Theaterschaffende Meyerhold, Sofija Tolstaja oder die Ehefrau Tschechows, die Schauspielerin Olga Knipper, um nur einige wenige zu nennen, bleiben außen vor. Ebenso die Tatsache, dass die Kochbuchbibel Russlands und der Sowjetunion von einer Deutschen namens Helene Malochowetz geschrieben wurde. Und viele andere Verbindungen aus Kultur und ähem… Kultur. Denn in der Politik waren Deutsche nicht so zahlreich vertreten. Warum denn bloß? Darüber werden wir auch im Dunkeln gelassen. Naja.

Dass viele intellektuelle Russen nicht nur in Paris gelebt und studiert haben, sondern eben auch in Weimar oder Leipzig und aufklärerische Ideen mitgebracht haben in ein Zarenregime, das auch von Katharina der Großen gestützt wurde. Von wegen aufklärerische Monarchin. Sie hat Schriftsteller, die gegen die Praxis der Leibeigenschaft angeschrieben haben, ebenso nach Sibirien verschickt wie ihre Vorgänger und Nachfahren auf dem Thron.
Davon, dass einer der tonangebenden Dekabristen, Paul (Pawel) Pestel ebenfalls
Deutscher war, was ebenfalls eine wesentliche deutsche Spur in Russland sein könnte, kein Wort. Und vom regen Austausch zwischen den jeweiligen klassenkämpferischen Parteien auch nicht. Ach, das ist wohl grad nicht zeitgemäß…

Es ist ja auch mehr so die Landschaft, welche die Deutschen am riesigen Reich interessiert.

Habe ich Gutes zu berichten über die Sendung? Natürlich. Allein, dass sie von Heino Ferch moderiert wird. Und ein Lob dafür, dass das überhaupt Thema ist.

Nur mit dem wie, habe ich eben so manche Probleme. Ich könnte wetten, dass bei der Mache der Sendung kein einziger Russlanddeutscher beteiligt war.

Enkel und Opa Maier an auf der Wolga
Enkel und Opa Maier an auf der Wolga

Und diese salbungsvolle und bombastische Musik. Wer hat sie bloß ausgesucht? Einiges von Alfred Schnittke wäre sicher angebrachter gewesen. Aber das ist nun Meckern auf höchstem Niveau.

Und da ist ein Satz, der gleich zu Anfang fällt: Deutsche und Russen  – über Jahrhunderte eine mörderische Angelegenheit.

Er ist schlichtweg falsch.

Über Jahrhunderte pflegten sie eine friedliche Koexistenz. Erst seit dem ersten Weltkrieg geht es mörderisch zu. Zugegeben, das wird ja später auch so gesagt… Aber dennoch, der falsche Eindruck bleibt.

Für eine ZDFzeit Doku ist die Sendung also eher etwas schmalbrüstig, aber es ist ja auch ein Stück Infotainment zur Primetime und die Affären Katharinas, ich wusste nicht, dass sie wissenschaftlich belegt sind, interessieren die Zuschauer wohl eben mehr und wie gesagt die Transsib, diese Sehnsuchtsstecke von Moskau nach Wladiwostok. Sollen sie doch lieber einen Film darüber drehen. Ach ja, haben sie schon, es gibt mehr als 1200 Dokumentationen zu diesem Thema auf You-Tube. Aber gut, immerhin ganze 10 Minuten für die Belange von Wolgadeutschen, die 1941 vertrieben wurden und die einer alten Dame, die noch immer in der Gulagstadt lebt, in der ihr Vater einst Sklave war. Besser als das jahrzehntelange Schweigen davor.

In der Ankündigung der Doku „Deutsche Spuren in Russland“ auf der Site von Phönix TV steht:

Für viele Deutsche hatte die große Katharina 1673 ein verlockendes Angebot parat: „Kommt nach Russland und beackert die riesigen brach liegenden Gebiete meines Reichs – und schützt mich vor dem Angriff fremder Mächte.“ Mit einem so genannten „Manifest“ rief sie die deutschen Bauern auf, ihr nach Russland zu folgen.

Gut, in der Jahreszahl ist ein Zahlendreher, aber das ist ja nicht so schlimm. Was mich wurmt, dass der Eindruck entsteht, sie würden aus Spaß und Dollerei und weil ihnen soviel Land versprochen wurde, losziehen. Welchen Verhältnissen sie hier entfliehen wollten, davon ebenfalls kein einziges Wort. Kriegerische Scharmützel, Truppen, die Dörfer verwüsteten und die Erbgesetze, die nur einen Sohn mit Land versorgten, zwangen viele junge Familien zur Ausreise, so war das. Weitere Gründe: religiöse Gemeinschaften wie die Mennoniten konnten ihren Glauben in den deutschen Landen nicht leben, deshalb wanderten sie aus. Und –  weil sie nicht willens waren, der Armme beizutreten und Menschen zu töten. Katharina versprach ihnen die Befreiung vom Wehrdienst.Nach einiger Zeit wurde dies aufgehoben und tausende Mennoniten flohen, nach Kanada oder Südamerika.

So machen die Siedler aber den Eindruck von Wirschaftsflüchtlingen. Doch das ist eh ein Prädikat, das vielen angepappt wird.

Aber das sind wohl unwichtige Details.

Was wir dagegen lernen ist, dass der Russe an sich verschlossen und rustikal ist und wenn man ihn näher kennt, sehr herzlich.

Fazit: es ist ein guter Schritt in die richtige Richtung. Wie gesagt, kommen Russlanddeutsche und ihre Geschichte, anders als in den Jahren davor, überhaupt zur Sprache. Und schließlich haben sie ja auch kein Alleinrecht auf deutsche Spuren in Russland, das muss ich auch zugeben. Aber der Fokus ist dennoch ein etwas verrutschter. Eben so wie Hiesige (Bio-Deutsche aus Westlanden) die Sache wahrnehmen. Und darüber mockiere ich mich.

Deshalb:

bitte das nächste Mal etwas besser und tiefer recherchieren, vielleicht mal einen russlanddeutschen Historiker zurate ziehen und vielleicht die Transsib weglassen?

Ginge das?

Aber die Wagons einer hitorischen Eisenbahn vor dem plietschen Moderator mitten in einer Palastbibliothek zum Stehen zu bringen: das hat schon was…

Deutsche Spuren in Russland, gesendet auf ZDF am 21.2.2016 und im April auf Phoenix TV

https://www.youtube.com/watch?v=7X4Yajqq6Xo

Hinweis auf die Ausstellung »Samizdat« im GULAG. Eine schwarze Literaturgeschichte

Hier ist ein Link zur „Samizdat“ Ausstellung mit Lesungen und Filmen zum Thema Literatur aus dem Gulag im Literaturhaus Berlin. vom 23. Oktober bis 10. Dezember 2015:

Die Lager der Gulag in der Sowjetunion (1929-1961). Nach den Angaben der Gesellschaft "Memorial", Moskau. Gulag. Spuren und Zeugnisse 1929-1956. Eine Ausstellung der Gesellschaft "Memorial", Moskau und der Stiftung Gedenkstaetten Buchenwald und Mittelbau-Dora in Kooperation mit der Stiftung Schloss Neuhardenberg 1. Mai bis 24. Juni 2012, Schloss Neuhardenberg 21. August bis 21. Oktober 2012, Schiller-Museum Weimar
Die Lager der Gulag in der Sowjetunion (1929-1961). Nach den Angaben der Gesellschaft „Memorial“, Moskau.

 

novinki-Blog

literatur-haus-berlin

Ab 24. Oktober zeigt das Literaturhaus Berlin in Zusammenarbeit mit Memorial Moskau die Ausstellung »Samizdat« im GULAG über die einzigartige Bedeutung von Literatur für das Überleben und die heimliche Produktion literarischer Texte unter den Extrembedingungen des Lagers und der Verbannung. Die Ausstellung wird von einem umfangreichen Rahmenprogramm aus Gesprächen, Lesungen, Buchpräsentationen und Filmvorführungen begleitet. Gefördert wird das Projekt durch den Hauptstadtkulturfonds, die Bundesstiftung Aufarbeitung, die Heinrich-Böll-Stiftung und die Deutsche Gesellschaft für Osteuropakunde. Das Filmprogramm wird von ARTE unterstützt.

Ausstellungseröffnung: 23.10.2015, 20:00 Uhr
Ort: Literaturhaus Berlin, Fasanenstraße 23, Großer Saal
Dauer der Ausstellung: 24.10. – 13.12.2015

Öffnungszeiten
Mi – Fr  14 – 19 Uhr
Sa, So  11 – 19 Uhr

Der Eintritt ist frei.

Hier die Ankündigung der Veranstalter_innen:

In den großen literarischen Werken, die Alexander Solschenizyn, Jewgenija Ginsburg und Warlam Schalamow nach ihrer Lagerzeit über den GULAG verfaßten, finden sich bemerkenswert viele Erinnerungen daran, wie in den Gefängnissen und dann…

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Sommer Sonne Ferienlager

Wenn ich versuche Dinge über meine Familie herauszufinden, zum Beispiel, wo genau die Sondersiedlung lag, wohin sie von 1946 bis 1957 deportiert worden sind, stoße ich auf interessante Links.

So gibt es spezielle Reiseangebote durch sowjetische Lager, auf den Spuren von Solschenitzyn und Co. sozusagen. Bei Russia Beyond the Headlines wurden letztes Jahr fünf Ziele vorgestellt, „an denen sich der Schrecken heute noch hautnah nachfühlen lässt.“ Perm-36 ist darunter und Magadan. Aber auch das Gulag-Geschichtsmuseum in der Uliza Petroka in Moskau ist eine der genannten Adressen. Ein weiteres Beispiel Beispiel:
Das Reiseunternehmen Nata-Tour in Komsomolsk am Amur bietet unter dem Titel „Stalin Camps“eine Reise zu ehemaligen Gulag-Stätten an. Diese schließt auch Eisenbahnstrecken und Steinbrüche mit ein, wo Gefangene arbeiteten, sowie Friedhöfe, auf denen Häftlinge beerdigt worden sind.“

Das kleine Örtchen Bursol oder Bursolprom in der Altai-Region, das mich interessieren würde, ist leider nicht dabei. Es war wohl nur ein Nebenschauplatz des Gulag-Systems, an den es meine Vorfahren verschlagen hat.

Ein anderer Reiseführer aus dem Jahr 1982, „The First Guidebook to the USSR, to Prisons and Concentration Camps of the Soviet Union“ von Avraham Shifrin, ist nur antiquarisch auf Englisch zu bekommen, gibt aber detaillierte Auskünfte für eine Erkundung auf eigene Faust. Laut der darin veröffentlichten Kartenskizze „für Nowosibirsk, kommt man, mit Buslinie 8 oder 22, zum Lager Nr. 91/3.“

Gulag_Guide, Avraham Shifrin
Ein Reiseführer der besonderen Art

Der Sohn eines Gulag-Häftlings ist in den Siebzigern nach Israel ausgewandert. Er hat Tausende jüdischer Emigranten befragt, die viele Jahre Lagererfahrung hinter sich hatten. Er sammelte Berichte, Fotos, Skizzen und Karten zu einem illustren Führer durch die Gulags zwischen Ural und Archangelsk. Shifrin erhebt keinen Anspruch auf Vollständigkeit und es ist auch fraglich, ob die Buslinien heute noch so heißen. Um so interessanter wäre es, heutzutage diesen Pfaden zu folgen, mal sehen, wohin sie führen…

Also meine Empfehlung für alle, die ihre Sommerreise noch nicht gebucht haben: Gulag-Tours GmbH und Co.KG. Ich würde vorschlagen, auf original zeitgeschichtliche Verpflegung zurückzugreifen: eine trockene Chaika Brot und eine wässrige Kohlsuppe für den kleinen Hunger zwischendurch. Schläge und Beschimpfungen inklusive. Sarkasmus beiseite, möglicherweise nutzen Menschen diese Reisen, um etwas über die Zeit damals und ihre Angehörigen zu erfahren. Aber für mich bewegen sich diese Reiseangebote an der Grenze zum Absurden.

Andererseits. Wie will man sich sonst dem Grauen annähern als mit einer Prise Sarkasmus?

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