Ich bin es satt, ewig die gleichen Parabeln zu hören und zu lesen. Die mit dem deutschen Schäferhund und die mit dem Kalb im Schweinestall. Da sagt jemand zu einem Aussiedler, wenn du in Kasachstan geboren bist, dann bist du wohl ein Kasache? Oder ein Deutsch-Kasache, wenns hoch kommt. Und dann ist derjenige sofort beleidigt.
Um die Sachlage mit seiner Abstammung zu erklären, greift der so Angesprochene dann gern zu diesem Spruch:
Aber wenn ein Kalb im Schweinestall geboren wird, ist es noch lange kein Ferkel.
Nicht, dass ich das mit dem geborenen Kasachen gutheiße, das ist zu kurz gedacht, aber der Vergleich hinkt. Schweine und Kälber sind zwar Säuger wie wir, aber sie gehören verschiedenen Tier-Gattungen an. Menschen und Menschen aber nicht. Ihr Verständnis von Zugehörigkeit oder Trennung ist ein Gebilde. Ein Konstrukt. Eine Geschichte. Komplex wie sonstwas.
Als wieder so eine Verkürzung auf Facebook kam, habe ich mal vorgeschlagen, statt geborener Kasache (der Reporter wollte einfach nur eine Variation zu dem Namen) was anderes zu nehmen. Wahlkasache trifft es nicht. Denn die Deutschen wurden meist dahin deportiert oder sind nach der Deportation aus Sibirien oder dem Ural dorthin geflohen. Zwangskasachstanisiert vielleicht? Oder wir bestehen in Zukunft auf: irgendwo aus Deutschland über den Kaukasus (Ukraine/Wolgagebiet) in den Kasachstan (nach Sibirien/Karelien/in den Ural) und dann wieder nach Westfalen (Schwaben/Bayern/Dresden) getriebener Vertriebener, manchmal freiwillig geflüchtet, manchmal so richtig zwangsweise verfrachtet, und am Schluss einfach ausgeflogen, um es noch genauer zu sagen. Abgekürzt: aDüKiKnW-gV-mfgmrzv. Das dürfte es ungefähr beschreiben.
Aber was ist uns das wert, dass wir zu solch komplexen Formeln greifen? Und sie beinhalten noch nicht, welche Musik uns prägt, welche Mode wir mögen oder welche Art der Kommunikation wir bevorzugen. Denn nicht alles wird von der Herkunft und Geschichte geprägt.
Klar, wird der gemeine Wald-und-Wiesen-Deutsche bestimmte Dinge nicht wissen:
– dass im Vielvölkerstaat Sowjetunion die fünfte Zeile im Pass eines jeden Bürgers und einer jeden Bürgerin wesentlich war: die der Nationalität. Dass wenn Russen also in der Mongolei lebten und sich wie die Könige aufführten, sie sich deshalb noch lange nicht als Mongolen sahen. Und wenn Georgier in dritter Generation in Moskau gemeldet waren, sie nicht als Russen akzeptiert wurden. Never ever.
– dass es also dort klar war und ist, wer Deutscher war und wer nicht (auch ohne Schäferhund übrigens. Nur der Sänger Jewtuschenko hat seine deutschen Wurzeln aus überlebenstechnischen Gründen verborgen und hat den Mädchennamen seiner Mutter angenommen. Das ging also auch. War aber eine Ausnahme.)
Diese Zeile hat das mit der Identität also vereinfacht? Möglich. Und manche Russlanddeutsche haben das noch immer verinnerlicht. Aber in Deutschland des Jahres 2016 (bald 2017) ist es ganz anders:
Die Frage der Nationalität ist fließender. Oder fest wie Granit. Auch ohne Zeile Nummero fünf. Kommt darauf an, mit wem du es zu tun hast.
Ich verstehe, dass es einer Gruppe wie den Russlanddeutschen wichtig ist, dazuzugehören. Nicht ausgegrenzt zu werden. Nach Jahrzehnten der Ausgrenzung. Aber es wird nicht soweit kommen. Sie werden immer als etwas Wildfremdes beäugt werden. Auch wenn sie ihren Stammbaum bis in die achte Generation zurückverfolgen können. Nach Mannheim am Main.
Menschen, die Aussiedler als Russen/Kasachen/Kirgisen bezeichnen, kennen deren Geschichte nicht und ihre Beweggründe, sich als Deutsche zu fühlen. Aber was noch wichtiger ist, sie wollen sie nicht kennen.
Menschen, mit einem deutschen Pass, mit deutschen Vorfahren, kümmern sich nicht um Belange der Herkunft. Sie sind ja privilegiert. Leben in Europa, können sich frei bewegen. Nur für die USA müssen sie so einen komischen Bogen auf dem Flughafen ausfüllen.
Sie machen sich keine Gedanken. Weil für sie die Herkunft kein Thema ist.
Oder, das sind die anderen Kandidaten, sie reduzieren alles auf die Herkunft und wollen die Reinheit ihrer Nation herstellen. Auch diese Menschen reden gerne mal von Kälbchen und Ferkeln im Stall. Oder bemühen sogar das Jesuskind, das ja im Stall geboren wurde, aber keine Kuh ist.
Was soll mir das sagen? Dass ich nach Ansicht dieser zweiten Gruppe kein Recht habe, in diesem Land zu leben oder mich deutsch zu nennen, weil ich in Omsk geboren wurde? Oder weil meine Mutter Russin ist? Nein, jetzt bin ich verwirrt. Nein, die Argumentation ist, dass sie meinen, dass ein Türke nicht das Recht hätte, sich deutsch zu nennen. Auch wenn er oder seine Eltern schon in Bottrop-Brauxel geboren und aufgewachsen sind.
Interessante Frage. Was bestimmt uns? Unsere Umgebung? Das soziale Umfeld? Die Sprache? Die Filme und Bücher, die wir konsumieren? Was von uns nimmt die Färbung der Umgebung an? Was saugen wir auf, aus dem Land, in dem wir leben?
Wie fühlen sich eigentlich diejenigen Deutschtürken, die zu Besuch oder auf immer in die Türkei fahren? Irgendwie fremd? Irgendwie deutsch? Irgendwie anders? Reden sie eigentlich von Kälbern und Schweinen? Oder von Kälbern und Hühnern, denn Schweine sind ja nicht helal.
Diese strikte Trennung nach Volkszugehörigkeit ist doch nur in abgelegenen Gegenden möglich. Auf Inseln, auf die seit Jahrhunderten kein anderer kommt. Oder in abgelegenen Dörfern im Himalaja. Aber doch nicht in einer Gegend, durch die Menschen seit Menschengedenken ziehen. Manche bleiben, andere wandern nach Übersee aus oder in östliche Steppen. Kommen wieder. Bringen aus der Fremde nicht nur den Sand in den Aufschlägen ihrer Hosen mit, sondern andere Bilder, andere Träume und andere Kehllaute.
Aber warum müssen wir jemandem beweisen, dass wir deutsch sind? Was daran ist wichtig? Wem ist das wichtig? Wem nützt das?
Können wir uns nicht als etwas ganz Eigenes betrachten? (Wobei ich nicht sicher bin, ob die Russlanddeutschen wirklich als die homogene Masse begriffen werden können, als die sie manchmal dargestellt werden).
Ich kann nicht mitreden. Ich wurde noch nie verbal angegriffen, sobald ich meinen Mund aufgemacht hab. Weil ich akzentfrei rede und mir meine Herkunft nicht gleich anzusehen ist. Ich kann mich nicht an Nachteile erinnern. Ich weiß noch nicht einmal, inwieweit der Geburtsort Omsk sich bei diversen Bewerbungen als Ablehnungsgrund herausgestellt hat. Vielleicht. Vielleicht nicht.
Vielleicht passiert Folgendes, wenn du immer und immer wieder wegen bestimmter Merkmale auf deine Herkunft zurückgeworfen wirst:
Du fängst an
a) dich zu verteidigen (und von Kälbchen und Ferkeln zu reden)
b) dich als der/die Fremde zu geben, der/die du ja sein sollst (volle Kanne russisches Fernsehen gucken, im Mix-Markt einkaufen etc.)
c) verbittert zu sein und dir dein Beleidigtsein wie eine zweite Haut anzulegen.
Wer wissen will, was ein Deutscher aus Kasachstan genau ist und wie er dahin gekommen ist, kann sich ja mal die Geschichte oder die Geschichten ansehen. Möglichkeiten gibt es genug.
Ach, keine Lust? Interessiert nicht? Dieses ganze Deportationsgeschwafel? Dieser Zugehörigkeitsscheiß?
Na denn, dann bleibt alles beim Alten.
Stimmt, es schon bitter, wie wenig sich die Leute um die Geschichte der Russlanddeutschen kümmern. Aber sie kümmern sich auch nicht um die Geschichte der italienischen Einwanderer in Argentinien oder der chinesischen Minderheit in Indonesien (sehr interessant übrigens). Besonders nicht, wenn Geschenkkäufe anstehen und die Feiertage näherrücken.
Statt dessen platzen sie einfach heraus mit ihren Einordnungen, ohne auch einen Wimpernschlag lang nachzudenken.
Aber die Sache ist nicht so einfach. Oder ist sie doch.
Ein Mensch ist und bleibt ein Mensch. Und das ganz egal wo er geboren wurde. Oder sie. Im Stall oder im Kreißsaal einer Klinik.