Warum so still?

Stille. Schweigen. Erinnern. Einige Zeit war es still auf diesem Blog. Andere Leute haben Projekte und Podcasts gestartet, Insta-Accounts mit Themen rund um Russlanddeutsche gefüllt. Jüngere, neue Generationen mit neuen Medien und neuen Sichtweisen. Vielleicht werde ich noch mal über all diese Erscheinungen berichten.

Auch wir haben so ein Projekt gewagt, in einigen Tagen geht der erste Beitrag online. Wir, das ist Edwin Warkentin vom Kulturreferat für RuDe in Detmold und ich. Als Autoren und Autorinnen konnten wir gewinnen: Eleonora Hummel, Felix Riefer, Artur Rosenstern, Katharina Heinrich, Christina Pauls und Viktor Funk.

Worum ging es?

Russlanddeutsche Erinnerungskultur anders aufzurollen, nicht frisch, das wäre verfehlt, aber neue Aspekte finden, andere Stimmen zu Wort kommen lassen. Zur Vielstimmigkeit beitragen.

Lange, lange haben wir nach einem Namen gesucht und einen gefunden:

Schweigeminuten


und als Unterzeile:
Beiträge zu einer vielstimmigen Erinnerungskultur

Der August ist ein besonderer Monat und das Jahr 1941 ein besonderes Jahr, denn ein Befehl von Stalin hat damals für die Deutschstämmigen in der SU alles ins Rollen gebracht. Die Verbannungswelle hat im großen Stil begonnen, später die Repatriierungen. Davor gab es schon Verhaftungen und Verbannungen, aber der 28.8.1941 bedeutet eine Kerbe, eine Zäsur.

Menschen der nachfolgenden Generationen sollten bei diesem Projekt ihre Sicht auf die Ereignisse liefern. So sind vorerst sieben Beiträge entstanden, die nach und nach ins Netz gestellt werden, als Videos auf Youtube und auch auf der Webseite des Kulturrefarats für RuDe.

Es sollten sehr persönliche Zugänge werden, sind es zum Teil auch. Ich hatte zeitweise richtige Schwierigkeiten. Nicht mit der Zusammenarbeit, nicht mit dem Entwickeln des Themas, der Themen oder der Gestaltung. Mit meinem eigenen Text. Denn ich habe mir Thema Nummer 5 Ausgesucht: die Fünfte Kolonne Hitlers. So der Arbeitstitel.
Mein Text wurde zunächst sperrig, hat mir im Magen gelegen wie ein Stein. Ich konnte ihm nicht beikommen, nicht nur weil das Thema komplex ist, sondern weil es mich zu sehr getroffen hat. Ich habe Hassattacken erlebt, Weinanfälle, auch Schweigeminuten.
Ich bin mir nicht sicher, ob ich daraus eine persönliche Sache hätte machen können. Mir fehlt noch immer die Distanz dazu. Zu gewaltig waren die Konsequenzen, zu groß waren die Opfer, die daraus erwachsen sind. Auch Zahlenmäßig 900.000 Menschen, die verschickt, in Sondersiedlungen und Arbeitscamps gezwungen wurden. Das zentrale Trauma.

Ich wollte eigentlich über meine Eindrücke schreiben, als eine Moderatorin von RT darüber frisch und frei und geplaudert hat. In dem Tenor: Ja, sie waren Spione, das wissen doch alle. Keine Opfer. Das musste Stalin ja machen. Dann: naja, aber nicht viele waren Spione.

Was denn, ja oder nein. Damals war ich schon unfähig, einen Beitrag zu verfassen, mich hatte dieser Clip wie eine Faust in die Magengrube getroffen und für Tage außer Gefecht gesetzt. Also habe ich das weggelassen.

Nun ist der Text und auch der Film abgeschlossen. Aber persönlich ist er nicht geworden. Habe einen historischen Abriss geschrieben. Habe mich innerlich distanziert. Habe Quellen gelesen. Keine Zeitzeugenberichte. Ich bin froh, dass ich es geschafft habe, ihn zu beenden.

Die Arbeit an dem Thema hat für mich in Wirklichkeit gerade erst begonnen. Denn es ist weit komplexer, viel verwickelter und greift in meine eigene Familiengeschichte. Mehr als ich in einen 10-minütigen Film habe packen können. Es bleibt: Eine Annäherung. Eine Deklaration. Eine Standpunktsbestimmung, mehr nicht.

Hat das Projekt trotz meiner Schwierigkeiten mit dem Thema Spaß gemacht? Eindeutig ja! Es war bereichernd, mit den Autoren und Autorinnen zu arbeiten, ihre Texte zu lesen, in Detmold die Clips aufzunehmen, oder die Entwicklung des Logos zu verfolgen, dessen Gestaltung eine Freundin übernommen hat.

Da ist diese Linie, die die Wortteile von einander trennt. Es liegt etwas Unaussprechliches dazwischen, eine Pause, auch im Logo.

So haben auch viele der Texte mit diesem dem Schweigen und dem Verschwiegenwerden zu tun. Sie sind unterschiedlich, aber wie durch Magie gibt es Verbindungen, Querverweise, sie alle greifen ähnliche Punkte auf. Ergänzen einander. Das zu sehen war schon bemerkenswert. Es geht nicht nur darum, wie wir Gedenken oder dass wir der Ereignisse, die dieser Gruppe, unseren Vorfahren, widerfahren sind, gedenken, sondern vor allem darum, wie sie wahrgenommen werden. Wie passen unsere persönlichen kleinen-großen Familiengeschichten in die Geschichte dieses Landes und Europas. Spannende Aspekte, angerissen, sicher noch nicht ausgeschöpft.

Hier unser Trailer, der alles zusammenfasst:
https://youtu.be/Ve6ulbVlDmk


Die Arbeit an dem Projekt „Schweigeminuten“ hat mich absorbiert. Aber auch bereichert. Ich hoffe, es ist ein Anstoß zu etwas. Einer tieferen Beschäftigung mit der Täter-Opfer-Frage meinerseits und vielleicht eine intensivere Beschäftigung mit der Geschichte der RuDe seitens der Gesellschaft.

Hinter den Kulissen


Mein Dank geht an Edwin vom Kulturreferat, an den anderen Edwin, unseren Kameramann und Regisseur, an das Museum für russlanddeutsche Kulturgeschichte für die Unterstützung, an Anja und Leo, die die Gestaltung übernommen haben, an Eduard fürs Bauen der Website und an euch, liebe Autorinnen und Autoren, die sich auf dieses Abenteuer eingelassen haben.

Seid gespannt und save the date:

Der erste Beitrag, der von der Schriftstellerin Eleonora Hummel, erscheint am 23.7. auf der Youtube-Seite des Museums und behandelt die Erzählkultur oder ihr Fehlen in vielen russlanddeutschen Familien.

Mehr Infos und die Links zu den Videos (sobald sie denn erscheinen) auf der Website des Kulturreferats:

https://www.russlanddeutsche.de/de/kulturreferat/projekte/schweigeminuten.html

Spruch der Woche – Ewiges Lamento

Es ist wohlfeil zu jammern, wenn du jemanden hast, dem du klagen kannst.
                                                                          Sprichwort aus Litauen

Dabei gilt das Jammern in unserer Gesellschaft als ein Nogo, als ein Geht-ja-gar-nicht. Jammerlappen, Katzenjammer, Jammertal – all diese Begriffe sind negativ konnotiert. Jammern wird nicht gern gesehen. Es gilt als Schwäche.

Heul doch!

Verabschiede dich vom Klagen und du wirst für Allezeit glücklich sein, versprechen zumindest die selbsternannten Propheten der Selbstoptimierungs-Websites und Glücks-Ratgeber.
Laut deren Psychotipps ist es besser, etwas zu tun als zu lamentieren. Denn das Klagen und Jammern würde uns ja nur schaden. Es sei reine Energieverschwendung. Schlimmer noch, dadurch geraten wir in eine Opferrolle.

Ist Schweigen so viel besser?

Einfach weitermachen? Nach vorne gucken.

Alles verdrängen. Wegdrücken. Die Tränen runterschlucken und weiter gehts.

Und das ganze Elend schön weitervererben.

Kennen wir doch von irgendwoher.

Dieser Spruch aus Litauen passt irgendwie zu uns Deutschen aus Russland und zu unserer Literatur. Heißt es nicht, sie sei ein einziges ewiges Lamento?

Aber das Sprichwort besagt auch: wenn jemand zuhört, wenn jemand ein offenes Ohr hat, ist auch Jammern erlaubt. Klage braucht also Adressaten, die sie annehmen.

Aber genau dieses Publikum scheint es nicht zu geben. Noch nicht?

Die Erinnerungsliteratur der Russlanddeutschen, die Erzählungen der Erlebnisgeneration, das Reden über alte Zeiten, was oft alte Wunden beinhaltet, ist auch bei unseren eigenen Leuten oft nicht gern gesehen. Und das aus mehreren Gründen, manchen gehen die Schilderungen von Demütigung und Schmerz zu nahe, andere haben sich sattgehört, wollen lieber etwas Heiteres lesen, etwas mit mehr Zukunft und Optimismus. Keine Gulagerlebnisse mehr und Stories über Verschleppung. Auch in Sibirien gab es doch schöne Landschaften und lichte Sommer und Schmetterlinge. Es gab doch nicht nur das eine. Schreckliche. sagen sie oft.

Klar.

Aber ist Klagen nicht auch eine Art Aufarbeitung? Darüber reden heißt, den Schmerz aunzuschauen, ihn nicht mit einem Schulterzucken wegwitzeln.

Das Problem solcher Schilderungen ist doch, dass so furchbare Dinge geschehen sind, dass es fast unmöglich ist, sie anders auszusprechen als im Jammerton. Und schon gar nicht für diejenigen, die sie am eigenen Leib erfahren haben.

Wahrscheinlich ist es wirklich besser zu schweigen, wenn du kein offenes Ohr findest. Der Jammerton mag viele auch abschrecken. Die Wucht des Erlebten ist zu viel, vor allem für Kinder und Enkel. Um das zu verarbeiten, müssen sie selbst stabil sein und bereit, es aufzunehmen. Aber wer ist es schon?

Dennoch.

So zu tun, als wäre das Jammern nur Zeitverschwendung oder hätte keine Basis, nützt niemandem.

Es stimmt schon, Aussiedler bringen sich leicht in eine Opferrolle. Aber hey, vielleicht liegt es daran, dass sie lange Zeit in der Rolle von Opfern waren? Das geht nicht weg, von einem Tag zum anderen. Und schon gar nicht, wenn über die alten Zeiten geschwiegen wird. Die ganze Erinnerungsliteratur ist kein Mi-Mi-Mi, auch wenn sie manchmal schwer zu ertragen ist.

Das erlittene Leid muss irgendwie verarbeitet und kann nicht mit billigen Psychoratschlägen von oberflächlichen Internetseiten hinweggefegt werden.

Georgisches Trauerritual – Iwan Pranishnikoff, 1884

Hinter dem Gejammer steckt oft was anderes. Vielleicht Trauer? Jammern und Beklagen gehört zu den Ritualen der Trauer. Klagelieder gehören zur Kultur der Menschen. Es mag heilsam sein, sich mitzuteilen. Es bringt Erleichterung.

Und was unsere Klageliteratur angeht, müssen wir vielleicht noch den richtigen Ausdruck finden und ein passendes, weil unbelastetes Publikum.

Doch bis es soweit ist, werden wir eben stammeln und jammern und lamentieren. Manchmal fehlen eben die passenden Worte, wenn jemand versucht, das Unsagbare in Sprache zu kleiden. Irgendwann werden unsere Autoren und Autorinnen auf einem so hohen Niveau jammern, dass sie gelesen werden können. Manche tun es schon heute.

Es geht kein Weg dran vorbei. Bevor wir wieder obenauf sein können, muss das Jammertal durchschritten werden. Dafür können wir unsere eigenen Trauerrituale erfinden und inneren Klagemauern bauen, bis der Schmerz abebbt.

Dass so etwas nicht pausenlos geht, ist auch klar. Zwischendurch wäre es gut, sich dem Hellen und Lichten zuzuwenden. Den Schmetterlingen in sibirischen Sommerlandschaften zum Beispiel.

Leben ohne Angst – schön wärs!

Bisher sind die Russlanddeutschen politisch kaum aufgefallen. Dieses Jahr wurden einige von ihnen in Demos aktiv. Mir sind die Sprüche aufgefallen, die sie vor sich her tragen und ich möchte sie näher betrachten. Leben ohne Angst! Wir wollen Sicherheit! oder Schützt unsere Frauen und Kinder! – wo kommen diese Sätze her?

 

Leben_ohne_Angst_1
Die Ahnen schauen zu. Sie mischen sogar mit.

Auf einem der Transparente während einer Demo von Russlandeutschen im Januar stand: LEBEN OHNE ANGST

Leben ohne Angst – also das ist es, was sie wollen. Unbewiesene Behauptung meinerseits: die Ängste, die diese Menschen plagen, kommen aus ganz tiefen Schichten. Und haben wenig mit einer reellen Bedrohung durch Flüchtlinge zu tun.

Politische Unzufriedenheit, ja, aber wieso gehen die Russlanddeutschen gerade bei der (vermeintlichen) sexuellen Bedrohung auf die Straße?

Sabine Arnold von der evangelischen Sinnstiftung aus Nürnberg (einer Seelsorgeeinrichtung extra für Russlanddeutsche) hat neulich im Radiointerview kluge Dinge gesagt, unter anderem, dass Aussiedler aus einer inneren Lebensunsicherheit, verursacht durch die eigene Migration, nach äußerer Sicherheit rufen.

Stimmt.

Es ist wohl auch so, dass eine Minderheit sich bedroht fühlt, wenn eine neue Minderheit ins Land kommt.

Stimmt auch.

Und die Menschen wurden von einseitiger Berichterstattung aufgewiegelt.

Auch das ist wahr.

Ich gehe noch weiter und behaupte: die Emotionen, die da hoch kochen, gehen auch auf lang vergessene und vergrabene Traumata zurück, die in den Familien schwelen und so nach außen treten. Leider wird dieser Aspekt nicht so recht berücksichtigt.

Warum?

Vielleicht, weil die Akteure ihn selbst ganz weit von sich weisen würden? Ich höre es förmlich.

Wir, traumatisiert? Durch die Vergewaltigungen unserer Großmütter und Urgroßmütter? Geh mir weg mit diesem Psychoscheiß.

Dann sich lieber den Vorwurf von Rassismus gefallen lassen.

Halten wir fest:

In jeder russlanddeutschen Familie gab es in der Vergangenheit Opfer von Vergewaltigungen. Wir brauchen nur zwei Generationen zurück zu schauen.

Als zivile Kriegsgefangene haben besonders Frauen und Mädchen die Wut und Willkür der Siegermacht erfahren.

Sie waren den Übergriffen schutzlos ausgeliefert und bis heute wird nicht öffentlich darüber gesprochen. Die Vorfälle wurden über Jahrzehnte hinweg verschwiegen. Zum Teil sogar in den Familien selbst nicht weitergetragen. Zumindest nicht offen. Verdeckt hat sich dieses kollektive Trauma in die Seelen gesenkt und tritt bei solchen Gelegenheiten wie Schlacke nach außen.

Aber das ist nur meine Meinung, mein Verdacht. Als bloggerin darf ich ja ich sagen, ich, ich, was ich denke, was ich vermute. Bin nicht an stichhaltige Beweise gebunden. Und diese Momente lassen sich auch nicht beweisen, wenn es keine weiteren soziologischen oder psychologischen Studien zu diesem Thema gibt.

Auf einem anderen Transparent steht: WIR LEBEN IN EINEM LAND, WO DIE MONSTER FREI SIND.

Wohl war. Doch es sind die Monster aus den Tiefen der Seele. Wenn wir auf sie hören, werden sie uns sogar etwas mitteilen. Und das ist nicht im esoterischen Sinn gemeint – à la Ghostwhisperer oder Geisterséance. Ich glaube, dass diese Sätze nicht von ungefähr auftauchen, sondern mit den kollektiven Erfahrungen zu tun haben, die diese Bevölkerungsgruppe gemacht hat. Oder ihre Ahnen. Aber ich wiederhole mich. Ich kann mich nicht oft genug wiederholen.

‚Bisher sind Russlanddeutsche als Gruppe politisch nicht in Erscheinung getreten‘, sagte neulich Jannis Panagiotidis Juniorprofessor für ‚Russlanddeutsche Migration und Integration‘ in Osnabrück in einem Interview mit der ZEIT. Und in einem anderen Interview meinte er zu den Demos: ‚Dort lief durchaus ein Querschnitt der Comunity mit. Nicht nur junge Hitzköpfe.‘

Unauffällig – auffällig, so auch das Motto der Pressekonferenz der Landsmannschaft der Deutschen aus Russland am 4. Februar in Berlin zum Fall Lisa.

In Deckung bleiben, war die Strategie bisher, aus historisch bekannten Gründen.

Doch wenn ein neuralgischer Punkt berührt wird, wie diese Vergewaltigungsstory, die sich als unwahr entpuppt, dann gerät plötzlich was in Bewegung. Übrigens hat die polizeiliche Aufklärung der Geschichte um Lisa Was auf das Grundproblem keine Auswirkung. Die Verunsicherung sitzt viel tiefer. Das Verschweigen und Vertuschen der Gewalt gegen deutsche Frauen in Russland, damals, viel früher, greift viel weiter. Wie ein Wurzelwerk. Wir sehen nur den Baum. Und können nicht verstehen, wieso seine Blätter sich zusammenkrümmen.

Warum stürzen sich die Aussiedler (nicht alle, aber eine wahrnehmbare und von den Medien wahrgenommene Gruppe) genau auf dieses Thema?

Auslöser:

Sexuelle Gewalt gegen ein Mädchen, unser Mädchen.

Und die angebliche Vertuschung durch die Staatsmacht.

(Nicht nur ich, auch:)

Die Vergangenheit neigt dazu, sich zu wiederholen.

Die Vergangenheit neigt dazu, sich zu wiederholen.

Die Vergangenheit neigt dazu, sich zu wiederholen.

Die Vergangenheit neigt dazu, sich zu wiederholen.

Die Vergangenheit neigt dazu, sich zu wiederholen.

Die Vergangenheit neigt dazu, sich zu wiederholen.

Die Vergangenheit neigt dazu, sich zu wiederholen.

Die Vergangenheit neigt dazu, sich zu wiederholen.

Die Vergangenheit neigt dazu, sich zu wiederholen.

Die Vergangenheit neigt dazu, sich zu wiederholen.

Die Vergangenheit…

Und das, was sich wiederholt, sind Muster.

Muster, die sich ergeben und die alte Wunden aufreißen. Bilder, die hängenbleiben:

a) Erwachsene Männer vergewaltigen ein wehrloses Mädchen.

b) Eine Frau soll halb nackt durch die Straßen flüchten. (Ausspruch eines Anwalts, der das unserer Bundeskanzlerin wünscht.)

c) Kinder, die abgegriffen und von Fremden mitgenommen werden.

d) Reelle oder empfundene Willkür des Staates: falsche Berichterstattung, Vertuschung, ungerechte Behandlung.

Die Verletzungen aus der Vergangenheit treten durch diese Muster zutage, klopfen an die Tür, wollen angeschaut werden. Monster im Kopf.

Gehen aber leider im rassistischen Hetzgeschrei unter. Schade eigentlich.

Worauf gründen diese Bilder? Wo kommen diese Traumata her? Die jüngsten Massen-Deportationen an Russlanddeutschen begannen 1941. Verfolgungen gab es schon Jahrzehnte vorher. Aber auch die massiven sexuellen Übergriffe? Wann waren sie am stärksten? Wohl eher nach dem Krieg, nach 1945? Als die Angehörigen der Verlierernation den Siegern schutzlos ausgeliefert waren. Wann hörte das wieder auf? Ende der Fünfziger? Vielleicht.

Schuld und Sühne, das bei Dostojewskij eigentlich Verbrechen und Strafe heißt. Die Schuld, das Unrecht dieser Jahre ist nicht gesühnt, ist nicht getilgt, wurde noch nicht einmal zur Kenntnis genommen. Die Geister bleiben unruhig.

Wenn wir genauer hinsehen, hinter das Offensichtliche, taucht zwischen den Demonstranten das Gesicht der wütenden Frau auf, die verletzt an Körper und Würde zur Furie wird, mit aller Macht aus dem Dunkel des Unbewussten. Sie schreit nach Vergeltung. Benebelt die Sinne.

Ihr ist es egal, gegen wen sich die Wut richtet. Sie sieht nicht, ob Unschuldige getroffen werden.

Was können Flüchtlinge dafür?

Nichts.

Aber auch dieser ganze Komplex der Flucht holt alte Bilder und alte Ängste herauf. Und – Russlanddeutsche haben definitiv ihre Erfahrungen mit Flucht gemacht. Ihre Hausaufgaben, wie es so schön heißt. Mit Propaganda übrigens auch, müsste man meinen.

Und zusammen ergeben die alten Bilder, die die neuen Bilder überlagern einen gefährlichen Molotov-Cocktail. Kein Wunder, dass die Lage so eskaliert ist. Dass alle Akteure so vehement auftreten.

Was können wir tun?

Darauf warten, dass von offizieller Seite eine Geste der Versöhnung, der Sühne kommt? Nein. Nicht unter den gegebenen politischen Umständen. Nicht mit einem neuen kalten Krieg, den beide Seiten beschwören.

Wir können den Schleier des Vergessens niederreißen, die alten Wunden betrachten, der Opfer gedenken und hoffen, dass ihre Seelen endlich Frieden finden.

Wie?

In einem persönlichen Ritual?

Mit einer Geschichte? Einem Film? Mit gemalten Bildern? Einem Song?

Oder mit einem Denkmal, das die Opfer ehrt. Ganz öffentlich.

Auf den Fall einer angeblichen Vergewaltigung kommen unzählige wirklich verübter Gewalttaten. Es gibt Denkmäler für Kriegsopfer, für Opfer von sexueller Gewalt bisher aber nicht. Oder?

 

Ungelebte Trauer

Der folgende Beitrag wurde von dem Journalisten Georg Löwen im Jahr 1999 in der Zeitschrift ‚Semljaki‚ veröffentlicht. Damals gab es einige scharfe Reaktionen seitens der Leserschaft zu Artikeln, die sich thematisch mit der Aufarbeitung der Vergangenheit der Russlanddeutschen beschäftigten. Manche Leser reagierten regelrecht agressiv und ablehnend. Dieser Text war eine Antwort auf diese harsche Resonanz. Daraufhin kamen wieder Lesebriefe mit viel Zuspruch, ein Leser schrieb: „Ich habe den Gulag selbst erlebt, aber meine Gefühle so genau auszudrücken, wie Sie es getan haben,  hätte ich nicht vermocht. Danke dafür.“

Hier die Übersetzung des Beitrags von damals, bei dem es um die Notwendigkeit der kollektiven Trauer und den Konsequenzen des Schweigens geht und der nach so vielen Jahren nicht an Aktualität verloren hat:

Unvergessen - ein Denkmal in Berlin
Unvergessen – ein Denkmal für russlanddeutsche Opfer des Krieges

Wir sind nicht weinerlich. Wir beweinen

Die Briefe über die Vergangenheit der Deutschen aus Russland lassen bei einigen Lesern die Frage aufkommen: wozu sich an das Schwere und Traurige erinnern? Einige sagen sogar: Schluss mit der Weinerlichkeit! Schluss mit dem ewigen Gejammere! Wie könnte man das am besten erklären?

Offenbar fällt es schwer, über den staatlich nicht nur sanktionierten, sondern regelrecht verordneten Sadismus zu hören und zu lesen und insbesondere tun sich diejenigen schwer damit, die für lange Zeit unfreiwillig-freiwillig in diesem Staat gelebt haben. Der Wunsch, die Vergangenheit zu vergessen und sich somit der dunklen Schatten zu entledigen, die von der Erinnerung an die schweren menschlichen Schicksale hervorrufen werden, ist nur zu verständlich. Vermutlich kommt deswegen oft auf die Beschreibungen der Qualen, die die Russlanddeutschen ertragen mussten, folgende Reaktion: „Alle hatten es doch schwer!“

Richtig. Alle hatten es schwer. Das Maß zu finden, mit dem man ermitteln kann, wer es schwerer hatte, ist schier unmöglich.

Denn das Erleben von Verlust, von physischem und seelischem Leid, sogar des Leides der Vorfahren, ist eine sehr subjektive Empfindung. Wer hat damals mehr gelitten – die Russen, die Ukrainer, die Weißrussen, die Kasachen oder andere Völker der Sowjetunion, die während des Krieges 20 Millionen Menschenleben zu betrauern hatte. Oder waren es die Russlanddeutschen, die nicht an der Front, sondern im Hinterland, in den Lagern der Arbeitsarmee und den Sondersiedlungen den Großteil ihres Volkes einbüßten? Allein diese Frage ist absurd. Doch Menschen neigen dazu, zu vergleichen, in diesem Fall leisten jedoch weder Abakus noch Taschenrechner ausreichende Dienste.

„Ich habe alles am eigenen Leib erfahren und nichts davon vergessen,“ schreibt Albina Bender, „nicht vergessen habe ich, wie ich bereits nach dem Krieg das Radio eingeschaltet hab und einen während des Krieges aufgezeichneten Aufruf von Ilja Ehrenburg hörte: ‚Töte den Deutschen!‘ Ich dachte, dass wenn ich gleich auf die Straße gehe, dann kann mich irgendein Fanatiker einfach so erschlagen.“ Weiter berichtet sie: „Wo ist der Unterschied zwischen Erschießungen und anderen Vernichtungsmethoden? Wenn die Deutschen aus Russland in der nackten Steppe bei Schnee und Minus 40 Grad ausgesetzt wurden? Der Ausgang ist der Gleiche: der Tod.“
Die Deutschen aus Russland leiden nach wie vor darunter, unschuldig verfolgt und mit einem furchtbaren Stigma belegt worden zu sein: Verräter. Es quält sie, dass sie von einem Staat verfemt und zu Gesetzlosen erklärt wurden, in dem sie friedlich und ehrlich gelebt haben.

„Der Feiertag mit den Tränen in den Augen“ nennt man in Russland den Tag des Sieges. Viele Jahre sind seit dem Krieg vergangen, aber noch immer trauern die Bürger an Obelisken und Denkmälern und beweinen die Toten des Krieges. Ihnen gebührt ewiges Gedenken. Sie sollen unvergessen bleiben.

Den Toten aus den Reihen der Deutschen aus Russland wurden bis zum Ende der Sowjetzeit keine Obelisken aufgestellt. Und sie hatten daher keine Gelegenheit, gemeinsam ihre Trauer auszudrücken, die Väter zu beweinen, die erniedrigt und von unerträglicher Plackerei und Hunger geplagt wurden, die Mütter zu beweinen, denen ihre minderjährigen Kinder entrissen wurden und die sie nie wieder sehen durften. Sie hatten kein Recht auf ein ewiges Gedenken. Hatten kein Recht darauf, dass wir uns an sie erinnert und offen um sie getrauert haben.

„Was habt ihr denn, liebe Leute, ihr genießt es wohl sehr, um die Vergangenheit zu weinen, tut euch selbst leid. Schaut euch um, das Leben geht für euch doch weiter, und das gar nicht mal so schlecht!“
Die Rede geht wieder um uns, die Deutschen aus Russland. Was kann man darauf antworten? Wir freuen uns ja auch an unserem gegenwärtigen Leben. Doch sogar jetzt wachen die alten Männer, die früher in der Arbeitsarmee waren, mit Tränen in den Augenwinkeln aus ihren nächtlichen Alpträumen auf: sie hören erneut die letzten Atemzüge der sterbenden Leidensgenossen auf den Pritschen nebenan, sehen ihre Leichname in den Gräben liegen.

Ironisch daher gesagte Sprüche über das „unglückliche Volk der Russlanddeutschen“ sind ebenso unüberlegt wie anmaßend. Es bleibt ein Gefühl der Peinlichkeit, des Fremdschämens gegenüber denjenigen, die so wenig Empathie für das Leid anderer aufweisen, obwohl sie diese seelischen Zustände doch selbst erlebt haben.

Wir sind nicht weinerlich, wir beweinen. So wie jedes Volk seine leidgeprüften verstorbenen Töchter und Söhne beweint. Schon immer haben die Menschen getrauert, und genau dieses Verhalten ist imstande, die quälenden Alpträume und die innere Ausweglosigkeit zu erleichtern – über den Prozess der Trauer gelangt die Seele zu innerem Frieden. Wir müssen sogar trauern und die Toten beweinen, damit unsere Seele ihre Ruhe findet. Dass es so ist, werden Ihnen sowohl Priester als auch Psychologen bestätigen können – ein jeder mag denjenigen fragen, dem er in dieser Hinsicht am meisten vertraut.

Jedes Volk hat sein eigenes Trauma. Bei Völkern, die Vertreibung und Genozid durchlebt haben, wirken diese Traumata noch lange nach. Sehr lange. Die Deutschen aus Russland waren gezwungen, dieses Trauma über Jahrzehnte in sich zu unterdrücken, sie mussten schweigen, und so hat es sich in immer tiefere Schichten zurückgezogen.

Vielleicht kommt es daher, dass unsere alten Leute, wenn sie in der Kirche um ihre Verstorbenen beten, so bitter und so leise, fast heimlich aufschluchzen, als würden sie ihre Trauer nicht zeigen wollen.
Ihnen gebührt ein ewiges Gedenken. Sie sollen unvergessen bleiben.

Stalins Erlass von 1941 sorgte für Massendeportationen
Stalins Erlass von 1941 sorgte für Massendeportationen

 

Melitta macht den Tee zum Genuss

Mel geht in die Küche und setzt schon mal das Wasser auf, es soll ja genug Zeit haben, abzukühlen. Sie füllt den Beutel mit grünem Tee und geht die Kleine wecken. Wieder in der Küche schaut sie raus auf die mit Efeu bewachsene Mauer. Nach dem Sturm letztes Jahr haben sie viele der Ranken abgeschnitten, aber es wächst wieder nach, in zarten schlängelnden Lianen.

Ausgerechnet sie, die so heißt wie die Kaffee-Firma, trinkt Tee. Fast ausschließlich.

Am Anfang, als sie neu in Deutschland war, hat sie noch ihren vollen Namen genannt. Melitta Roth. Mit rollemdem ERRR. Aber sobald sie in die neue Schule kam, wurde aus Melitta einfach Mel und alle dachten, es käme von Melanie. Sollten sie doch. Ihre Eltern haben ihr diesen Namen gegeben. Sie wussten nichts vom Aufstieg der westfälischen Hausfrau Melitta Bentz, die 1911 den ersten Kaffeefilter erfunden hat. Als das passiert war, lebte ein Teil ihrer Vorfahren in Sibirien und der andere schon seit mehreren Generationen in der Ukraine. In ihrer deutschen Enklave. Es gab zwar deutsche Lieder, und deutschen Strudel aber getrunken wurde Tee. Wenn es denn Tee gab. Den Namen bekam sie also aus Unwissenheit und um die Großmutter väterlicherseits zu ehren, die bestimmt kein leichtes Leben gehabt hat. In Russland war es schon schwierig, mit so einem untypischen Namen, aber in Deutschland, eine Katastrophe.
Im ersten Jahr in Deutschland wurde sie viel gehänselt. Nicht nur wegen des leichten rollenden Rs, sondern vor allem wegen Melitta. Melitta! Macht Kaffee zum Genuss. Jedes Mal wenn sie sie sahen. Oder: „Na Melitta, wo bleibt denn der Kaffee, ich habe Durst!“ Oder: „Hmm, wie riecht es gut! Na wenn das nicht der Kaffee ist“. Jedesmal. Sie verbeißen sich in irgendein Detail und dann kriegst du dein Fett weg. Das kann nur jemand nachvollziehen, der immer zu klein oder zu groß ist, der was im Gesicht hat, das da nicht hingehört oder eben komisch heißt. Manche Jungs, aber auch Mädchen, haben es so sehr auf die Spitze getrieben, dass sie erst weinen musste, dann irgendwann resigniert hat und bei der erstbesten Gelegenheit einfach die Abkürzung genommen hat. Mel. Wie Mel Brooks, Mel Gibson oder Mel C von den Spice Girls.

Von wegen Kaffee. Sie jedenfalls konnte gar keinen Kaffee kochen, denn sie hat seit ihrer Kindheit immer nur Tee getrunken. Zuerst natürlich Schwarzen, dann während des Studiums erst Kräutertee und später grünen Tee und inzwischen konnte sie sich keinen Morgen ohne das Ritual vorstellen. Wasser abkühlen lassen, eigentlich bis 70° aber manchmal war sie zu ungeduldig und hat ihn mit 80° aufgegossen. Dann zwei bis zweieinhalb Minuten ziehen lassen. Und am liebsten richtig guten Tee. Sencha oder milde chinesische Mischungen.
Und erst der zweite Aufguß! Der chinesische Dichter Lo Tung hat vor hunderten von Jahren über die zweite Tasse Tee geschrieben, dass sie seine Trauer vertreibe. Und die sechste bringe ihn sogar nah an die Unsterblichkeit. Na gut. Vielleicht hatte er auch soviel Zeit, um im Teehaus zu sitzen und seine sechs Aufgüsse und mehr zu trinken und zu sinnieren. Beneidenswerter Mann.

Sobald sich die Tochter aus dem Bett schält, ists vorbei mit den schönen Ritualen, dann wird geplappert, gesungen oder gemault. Zack zack, anziehen, Zähne putzen. Und das Schulbrot nicht vergessen. Meinst du, Nina kommt auch zum Laternelaufen? Ein halber Arbeitstag in nur einer Stunde. Wenn die Kleine in den Klassenraum geht, atmet Melitta auf. Nun beginnt ihr Tag, ihre Arbeit.

Doch bevor sie sich an den Rechner setzt, brüht sie sich doch noch den dritten Aufguss an diesem Tag auf. Seit die neue Teekanne da ist, eine kleine chinesische mit blauen emalierten Mustern, macht ihr das Teetrinken noch mehr Freude. Sie konnte noch nie verstehen, wieso sich die Leute hier so sehr ins Kaffeetrinken verbissen haben. Doch. Sie konnte schon. Wenn sie daran dachte, dass alle, auch in den Cafés, einfach kochendheißes Wasser auf die sensiblen Teepflanzen kippten. Das musste ja abartig schmecken. Wie Känguru-Pups, hat eine Freundin von ihr mal über grünen Tee gesagt.

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„Семейство за чайным столом“ oder Familienportrait von Timofej Mjagkow, 1844

Das ist wie mit dem Teeaufguss, schreibt sie und nippt aus ihrer Schale. Die Generationsübergabe ist mit dem Teeaufguss vergleichbar. Der starke Teesud, das sind die ersten mit ihrem Trauma. Dann wird immer wieder heißes Wasser nachgefüllt, zum zweiten, dritten und vierten Mal. Aus dem Samowar. Oder mit japanischem Teegeschirr. Oder mit einer arabischen Metallkanne mit der eleganten Tülle. Also die Generation der Großeltern und der Eltern, die im Krieg noch Kinder waren, das ist der erste Aufguss. Sie haben das Grauen erlebt, in ihnen ist das Erlebnis verdichtet, aber so stark, dass man es fast nicht trinken kann. So stark, dass der Löffel drin stehen bleibt. Das Trauma ist unmittelbar und frisch, sie können sich nicht damit auseinandersezten. Sie müssen verdrängen, um weiterzumachen. Oder wegschmecken beim Trinken.

Und dann kommt der zweite Aufguss. Das war sie, die neue Generation, die Nachgeborenen, die es scheinbar leichter haben und denen im Frieden alles zufällt. Glück und Wohlstand. Der Sud wurde bereits mit heißem Wasser verdünnt und man kann ihn trinken, er ist aber bitter. Noch immer. Die Nachwehen des Traumas sind noch deutlich spürbar. Die folgenden Generationen, die der Enkel und Urenkel schmecken fast nichts mehr von der Bitterkeit, sie können genießen. Sie können Feinheiten spüren. Dem Nachspüren, was die Früheren erlebt haben. Sie haben genug Abstand um zu betrachten, was Oma und Opa im Krieg gemacht haben. Nur dass Oma und Opa dann, wenn sie soweit sind zu fragen, vielleicht nicht mehr antworten können. Auch bitter. Ach ja, und weil er so bitter ist, der Tee, muss in Russland noch soviel Marmelade hienein. Wie passt das wieder ins Konzept?

Genealogische Fortschreibung. Neulich in der „Zeit“ hat sie von einer prominenten deutschen Autorin mit bulgarischen Wurzeln gelesen, diese habe verzichtet, sich genealogisch fortzuschreiben, sprich Kinder zu bekommen. Mel hat der Ausdruck so fasziniert. Genealogische Fortschreibung. Vera Nikolajewna und Malanija Maximowna Mischnewa haben sich in mir fortgeschrieben. Melitta Saar und Katharina Roth, geb. Melm, haben sich in mir fortgeschrieben. Malanija, das klingt ja fast wie Melanie. Also Mel. Aber sie wurde sicherlich Malascha abgekürzt. Mel hat mal ein Foto von ihr gesehen, sie sah mit Ende Dreißig, Anfang Vierzig schon wie eine alte Frau aus. Das war zur Zeit des Bürgerkriegs. In den Hungerjahren.

Ich trage ihren Sud in mir, denkt Mel, einfach nur Mel, im Guten wie im Schlechten. Und ich werde diejenige sein, die was weiterträgt. Vielleicht werde ich mich irgendwann wieder Melitta nennen. Die Zeit, wo man cool sein muss, ist doch längst vorbei.

Was wir erben

Die Augen sind die Spiegel der Seele. Aber was, wenn die Seele ein Spiegel ist, nicht die Oberfläche eines Sees, sondern ein ganz normaler Spiegel aus Glas. Und wenn es so ist, dann sind die Seelen unserer Eltern zerbrochene Spiegel. Erfahrungen, die sie als Kinder machen mussten in Krieg, Flucht, Verschleppung und Lager oder einfach nur Hunger und Kälte und Angst, haben die Oberfläche mit Rissen überzogen oder sie sogar komplett zerbrochen.zerbrochener_Spiegel_kl

Aber um zu überleben, haben unsere Eltern ihre Scherben zusammengehalten, waren strengstens darauf bedacht, als Ganzes zu funktionieren. So war das halt damals. Wenn noch nicht mal die Kriegsheimkehrer zu einem Traumatherapeuten gegangen sind, sondern Zähne zusammenbeißen und weitermachen im Tagesgeschehen. Hopp Hopp.
Das geht am besten wenn man verdrängt. Scherben unter den Teppich kehren und so tun als wäre nichts geschehen, ist eine Überlebensstrategie. Und diesen Teppich erben dann die Kinder und Kindeskinder. Sie sind gewöhnt über die Erhebungen des Teppichs zu laufen, wo es knirscht und knurspelt.
Manchmal denke ich darüber nach, dass wir Kinder diese alten Gefühle als Stellvertreter ausleben, das unvorstellbare Grauen. Über die Soma oder über die Psyche je nach Veranlagung. So wie der Typ, der sich gestern zu uns auf die Bank vor der Bücherei gesetzt hat.

Er sah nicht wie ein gewöhnlicher Penner aus. Ganz in Schwarz, groß und schlaksig , mit einer Plastiktüte und einem Glas mit Teebeuteltee darin. Der Blick hinter der fast randlosen Brille huschte leicht und ein Hautausschlag überzog das Gesicht. Oder war es nur etwas gerötet? Er zeigte kaum Anzeichen von Vernachlässigung, und höflich war er, fragte, ob er sich dazusetzen darf, obwohl alle Bänke frei waren, das war schon ungewöhnlich für Deutschland. Dann fing er an, uns zu zu texten und es wurde deutlich, der ist manisch. Über unsere Kinder, die Schaukelten, kam er auf die Waldorfschule. Der Apfel fällt nicht weit vom Stamm, dann kam sein Vater ins Spiel, die Bibel, die er geerbt hatte bei seinem Tod. Eine evangelisch-lutherische Bibel, aus Moskau, sein Vater käme aus Moskau, Deutscher aus Riga, das ist in Lettland. Er springt gedanklich, spinnt wilde Assoziationsketten, singt zwischendurch, von Glaube Liebe Hoffnung, seine einzigen Waffen, kommt er zu Marlenes Lied Liebe nur und sonst gar nichts, erzählt, dass er in Bamberg beim Marlene Musical mitgespielt hat. Kontrabass und Gitarre. Mit einem renomierten Regisseur aus Hamburg, eine wichtige Produktion. Im Bambergerschloss wohnen sie. Springt von Bamberg ganz easy nach New York, Carnegy School, gibt es das? Und dann nach Danzig und übers Haff, nach Nebel auf Amrum. Jede Station bekommt eine Jahreszahl verpasst.

Über den Anker, ich als Anhänger trage, kommt er auf seine Taufe auf Amrum zu sprechen, 1971, in der Kapelle auf Nebel, und seine Mutter, die dort als Kind war, geflohen aus Danzig, Lungenleiden im Lager zugezogen. Und mein Vater hat im Krieg gekämpft, in beiden Kriegen, wir sind keine Drückeberger, wir verteidigen unser Land, das war ihm total wichtig. Er hat es oft wiederholt. Es kreiste wiedermal um den Krieg.

Und es kam aber durch, dass er seinen Vater total liebt oder verehrt, ein Heldenvater, er war bei der Luftwaffe/Marine/Infanterie, ich habs vergessen. Aber er wusste es noch und auch das Regiment. Er befindet sich in der manischen Phase, wo die Gedanken zwar schwirren, aber noch zusammenhängend und logisch wirken. Also nicht unerträglich, wenn man den Kapriolen folgen kann. Ich habe aber auch nachgefragt, weil ich es spannend fand, die ganze Geschichte, habe mich aber nicht als Gleichgesinnte und gleich schicksalhaft Getroffene zu erkennen gegeben. Und da sein Vater aus Riga kommt und er Kontrabassist, frage ich ihn spontan, ob er Ole kennt. Und Bingo. Sie haben zusammen in Lübeck studiert. Mein Bruder in der Seele nennt er ihn, gibt später aber zu, dass er mit ihm uund Katja in letzter Zeit wenig zu tun hatte.

Wie oft tragen die Kinder diese Scherben vor sich, diejenigen, deren Seelen nicht zersprungen sind, tragen symbolische Sprünge, verheddern sich in einem Trauma, das nicht ihres ist. Steht auch übrigens in der Bibel und die alten Griechen haben es auch gewusst, die Sünden der Väter tragen wir bis in das siebte Glied. Und was ist mit den Traumata?

Kann man diesen Eltern einen Vorwurf machen? Den Kindern des Krieges, die vor Panzern weglaufen und neben Detonationen spielen. Die Geschwister, Eltern, Freunde verlieren auf die grausamste Weise. Sie schweigen, sie spalten ab, sie wollen vergessen. Das ist gesünder für sie.

Aber auch für uns? Gut, wenn es so ist, tragen wir die Brüche, die Bürde des Krieges, die Spätfolgen. Aber dann darf keiner von uns verlangen, dass wir funktionieren. Dass wir unseren Alltag meistern und nicht abdriften.

Ach lamentier doch nicht so. Das ist Jammern auf hohem Niveau. Du hast doch Zeit und Muße, dir über solchen Unsinn Gedanken zu machen, du kämpfst nicht um dein Leben. Um die bloße Existenz wie noch so viele auf diesem Planeten.

Aber eben grade deswegen! Weil Frieden ist, weil der Krieg bei uns hier eine Pause macht, kann das raus. Lebt es sich aus, und die alten Emotionen-Zombies kriechen aus der Gruft und zeigen ihr hässliches Gesicht. Und halten mich und auch den schlaksigen Kontrabassisten davon ab, unser Leben zu leben. Denn wenn ich sie nicht einlade an meinen Tisch, spuken sie im Leben meiner Tochter herum. Tun sie wahrscheinlich sowieso.

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