Jeden Tag ein Gedicht – 20. März

Wiege

Mir wurde nicht in die
wiege gelegt die heimat,
eher die verbannung in
den ural. kein gedicht
von heine, sondern das
von mandelstamm. keine
»prawda« wurde mir
vorgelesen, sondern ein
blatt aus der bibel vom
samisdat. keine schuh-
rede gehalten von nikita
chrutschow, nur die berg-
predigt vom »Pik Lenina«.
man hat mir den mund
nicht stopfen können
mit wodka noch selbst-
gebrannten samogon,
sondern mit kuss, einem
kuss, dann stutenmilch
als aperitif. ein gedicht
fuhr mir über die lippen,
danach blutete das herz.
paar brosamen und ein
gebet in platt gaben ihr
bestes zur nacht. wera,
nadeschda, ljubow, meine
drei schwestern, kicherten
auf einem ofenbett vorm
einschlafen. sie fanden
das leben noch heiter. ich

träumte fragil: was wird
mir wohl beim aufwachen
dann in die erdgruft gelegt?


Andreas Peters, geboren 1958, lebt in Bad Reichenhall und Salzburg (Österreich).

der vielbesungene russische Ofen, oft mit einer Liegefläche, oben, wo es schön warm ist…

aus Rum & Ähre, einem Gedichtband, der 2018 im chiliverlag erschienen ist.

Andreas Andrej Peters, Rum & Ähre, Gedichte
ISBN 978-3-943292-69-5, 120 Seiten
chiliverlag, Euro 10,90
Hier steht, was die Lyrikgesellschaft über dieses Buch schreibt:
http://lyrikgesellschaft.de/ueber-die-zuwendung-der-welt-andreas-andrej-peters-neuer-gedichtband-rum-aehre/

Gedicht des Tages – 16. März

Am ewigen Feuer


Mein Vater

                     trägt im Mai
                                             beim Siegesfest
an seinem Anzug
                                     keinen Siegesorden.
Er fällte
             kein Gewehr
                        im heißen Sturm nach West.
Er fällte
                 Nadelholz
                                           im kalten Norden.
Was sind schon
                          grüne Nadeln
                                                     im Vergleich
mit stählernen
                             und scharfen Bajonetten!
Und dennoch
                         wird der Vater
                                                       totenbleich,
wenn wir
                  im Park
                                   ans Ewige Feuer treten.

Am Tag des Sieges werden in Russland Blumen am Ewigen Feuer abgelegt.

Robert Weber (* 1938 in Pawlowski-Possad, Oblast Moskau; † 2009
in Augsburg)

 

 

Jeden Tag ein Gedicht – 15. März

Im Fili-Park

 für J.

Ich heilte meine Seele
mit der Suche nach Sinn,
mit Andeutungen,
mit Intertext,
mit Autorenfilmen…
Doch es stellte sich heraus, dass
mir nur der senffarbene Rock fehlte,
den wir — ich und du —
während eines Spaziergangs
im Vorübergehen gekauft haben,
und das vergessene Gefühl des Fluges
auf der Schaukel
im Fili-Park.

*

Moskau einen halben Tag hinter sich lassen,
weiter auf dem Rücken schwimmen
als die Distanz von der U-Bahn-Station zur Arbeit,
die Sandkörnchen, aus denen
der Sand besteht, wahrnehmen
und aus den Muttermaler
auf dem Unterschenkel meines Liebsten
den Großen Wagens
entdecken.

Elena Seifert


Lesende im Fili Park. Suchen sie auch Seelenheil?

В Филёвском парке

Ю.

Лечила душу
поиском смыслов,
аллюзиями,
интертекстом,
авторским кино…
А оказалось, не хватало
юбки горчичного цвета,
случайно купленной
на прогулке
с тобой,
и забытого ощущения полёта
на качелях
в  Филёвском парке.

*

Оставить на полдня Москву,
проплыть на спине больше,
чем путь от метро до работы,
разглядеть песчинки,
из которых состоит песок,
и обнаружить на голени любимого
ковш Большой Медведицы
из родинок.

Eлена Зейферт


Aus dem Band Namen der Bäume

***
Dr. Elena Seifert lebt und arbeitet in Moskau, die deutschstämmige Dichterin, Übersetzerin und Literaturkritikerin ist Initiatorin verschiedener  Publikationen, Wettbewerbe und Veranstaltungen für russlanddeutsche Literatur in Russland. Im Jahr 2008 verteidigte sie ihre Doktorarbeit («Жанровые процессы в поэзии российских немцев второй половины XX – начала XXI вв.», dt. Genre-Prozesse in der Poesie der Russlanddeutschen in der zweiten Hälfte des 20. und dem Beginn des 21. Jahrhunderts.) an der Moskauer Lomonossow Universität.

Jeden Tag ein Gedicht – 14. März

An der Mane*

Die Pappel vor meinem Hause
hat hoch ihre Arme gestreckt,
und hat mir zur Abendstunde
so manchen Gedanken geweckt.

Mein Häuschen steht still an der Mane,
mein Bruder lebt fern im Altai,
die älteste Schwester Marianne
an der Grenze der Mongolei.

Ich hab einen guten Kameraden,
mit dem ich die Schulbank gedrückt.
Er hat mir ein Brief vom Urale –
den ersten seit Jahren – geschickt.

In Karaganda in den Schachten
mein Onkel schon lange verweilt.
In Omsk, in Akmolinsk, in Frunse
sind drei meiner Tanten zerstreut.

Bekomm ich sie nochmals zu sehen?
Wer weiß es? Wohl kaum. Es ist weit.
Warum können wir in der Heimat
nicht weilen, wie andere Leut?

So sitz ich im Schatten der Pappel
und denk in den Abend hinein.
Zwar leb ich nicht schlecht an der Mane,
doch ist es nicht so, wie daheim.

Dominik Hollmann


*Mane, Nebenfluss des Jenisseij

Mana oder Mane ist ein Zufluss des Jenissej.
Vom Ural bis in die Mogolei – eine weitverstreute Verwandtschaft wird in diesem Poem besungen. Der blaue Wimpel legt den Standort des Dichters fest

Dominik Hollmann wäre im August dieses Jahres 120 Jahre alt geworden. Geboren ist er an einem anderen Fluss: an der Wolga in der Stadt Kamyschin. Viele seiner Gedichte entstanden in der Verbannung in Sibirien, er hat sich Zeit seines Lebens für die Wiederherstellung der deutschen Republik an der Wolga eingesetzt. Als Lehrer und Literat hat er trotz Zensur und zeitweiligem Schreibverbot die Kultur und das Schrifttum der Deutschen in der Sowjetunion gefördert. Er starb 1990 in seiner Heimatstadt Kamyschin, wohin er am Ende seines Lebens doch noch gezogen ist.

Das Gedicht stammt aus seinem Buch Ich schenk dir, Heimat, meine Lieder, das demnächst eine Neuauflage erfährt.

Ich schenk dir, Heimat, meine Lieder, Gedichte, Dominik Hollmann. Kamyschin, 1998. – 192 Seiten

Jeden Tag ein Gedicht – 13. März

Die Worte fließen nicht

Die Worte fließen
nicht,
sie bleiben stecken –
in Bildern,
Farben,
in anderen Verstecken,
wie in den Gipfeln
das Unwetter,
gefangen
in der Umklammerung der Liebe,
oder vielleicht
in den inneren Verliesen…

Sie glänzen,
schimmern,
tänzeln
wie die Sonnenstrahlen
auf des Wassers
Oberfläche –
nicht fassbar,
unfassbar,
wunderschön…

Die Tiefe
bleibt ihnen verborgen,
die Weite
liegt hinter dem Horizont…

Irina Malsam

aus:

Rhein! Nr 13
Zeitschrift für Worte
Bilder
Klang
2016

ISBN 978 3 935369 36 7


Jeden Tag ein Gedicht – 3. März

Selber

Streiche
Güte
aufs Brot
des Hungrigen,
der du selber
bist.
Streue
nicht Wunden
aufs schreiende
Fleisch,
das du selber
bist.
Fahre nicht
aus der geschundenen
Haut,
die du selber
bist.

Wendelin Mangold


Das Gedicht „Selber“ ist von Anfang der 90er Jahre. Hier liest der Autor selbst zwei aktuelle Gedichte: Dein Land und Neuer Anfang (2018)

Das war jetzt geschummelt und es sind insgesamt drei Gedichte geworden. Sorry.

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