Die Reste eines alten Krieges

Die Reste des alten Krieges sind noch nicht ganz verschwunden. Einige Jahrzehnte Ruhe, mehr ist es nicht. Es ist noch nicht so lange her, nur wenige Generationen, da sahen die Straßen von Hamburg ebenso aus wie die von Mariupol, Bakhmut oder Cherson heute. Klaffende Lücken zwischen den Ruinen. Traurige Trümmer*. Überall Steinhaufen, zerrissene Stoffe. Scherben und Blut. Keine Orte für Menschen.
Eine alte Oma aus dem ukrainischen Tschassiv Jar sagte kürzlich einem Reporter gegenüber, sie fühle sich wie in der Hölle.


Wie lange wird es diesmal dauern, bis die sichtbaren Wunden geschlossen sind. Von den unsichtbaren ganz zu schweigen. Wie lange wird dieser vom Kreml immer wieder als militärische Operation bezeichnete Angriff nachwirken? Eine Operation, die Wunden schafft in Städten, Körpern und Seelen der Menschen. Die Auswirkungen werden lange spürbar bleiben, nicht nur in der Ukraine, nicht nur in dem Land, dass der russische Präsident überfallen hat, sondern auch in seinem eigenen.

Legen sich die neuen Wunden über die anderen, älteren? Oder werden die alten Wunden dadurch erst aufgerissen? Das Trauma bei denen, die schon den letzten Krieg erlebt hatten, wird reaktiviert.
Den Alten geht es nicht gut. Die Alpträume sind wieder da.

Doch, solange die Bombenkrater rauchen, ist das eine nebensächliche Frage. Der Krieg muss beendet werden. Darin sind sich alle einig. Dennoch dauert er an. Dauert die Zerstörung an. Die Flucht. Der Tod.

Ich werde nach meiner Meinung gefragt. Meine persönliche Meinung. Als ob das von Bedeutung wäre. Ich werde als etwas zu Russland Gehöriges erkannt und soll Position beziehen. Als ob das am Ausgang des Krieges was ändert, wie ich denke.

Doch dieser Krieg ist nicht nur ein Gemetzel mit Waffen, sondern auch mit Informationen. Es wird versucht, in unsere Köpfe zu kriechen, um dort Stimmungen zu erzeugen. Ich benutze hier die passive Form, weil es ein vielköpfiges, virales Etwas ist, kein eindeutiger Feind, keine Person, kein Gegenüber, mehr so ein Nebel aus Falschinformationen und Gegendarstellungen. Gelenkte Information, eine allgemeine Verunsicherung, und zwar nicht die erste, die es gab.

Außerdem, eine Meinung ist vielleicht nicht wichtig, aber wenn aus vielen Tausend Meinungen eine Masse erzeugt wird, dann gewinnt sie doch Gewicht, dann wird sie zu einem kalkulierbaren Werkzeug. Denn Masse lässt sich manipulieren, Masse lässt sich vereinnahmen und bewegen, wenn auch schwer. Aber wenn sie mal in Fahrt kommt, ist sie schwer aufzuhalten.

Klar ist es nicht leicht, dem auf den Grund zu kommen, was gerade wirklich geschieht, was wahr ist, oder was nur als Mittel zum Zweck der Gefolgschaft dient.

Kann Meinung, als Meinung einer einzelnen diesem Informationsfluss was entgegensetzen? Auch wenn sie an sich nicht wichtig ist. Unterzugehen droht im lauten aufgeregten Geschrei. Leiser ist als die derjenigen, die Straßendemos organisieren, die so überzeugt ihre Meinungen hinausdröhnen und nicht merken, dass es doch nur Parolen sind, dass sie einem Fänger auf den Leim gehen. Sollen sie sich benutzen lassen. Irgendwann gibt es ein böses Erwachen. Hoffentlich.

Vor Wochen war ich bei einem Seminar mit lauter jungen Leuten aus der rd community. Sie waren verzweifelt, denn der Informationskrieg hat tiefe Breschen in ihre Familien geschlagen. Alle Familien waren betroffen. Meine Aufgabe war es, einige Erklärungen zu präsentieren, weshalb Verwandte, Freunde, nicht nur ältere, auch viele Junge sind darunter, so empfänglich für Putins Propaganda sind. Wie es zu diesem Konflikt der Generationen kommen konnte. In manchen Familien wird nicht mehr über die Ukraine gesprochen. In anderen wird noch immer heftig gestritten. Besonders zwischen der Kinder- und der Elterngeneration. Aber nicht immer sind diejenigen, die eine vom Kreml gestreute vertreten, älter. Nicht immer. Aber oft.

Ich habe nicht gesagt: kehrt der Familie den Rücken. Basta. Macht euer Ding. Das ist zwar legitim, aber nicht für alle machbar. Obwohl, wenn ich so recht drüber nachdenke. Generationenkonflikte gab es schon immer, seit den alten Griechen und noch davor. Die Jungen haben anders gedacht, die Jungen mussten in die Welt, raus aus der Sphäre der Alten. Das ist normal.

Aber wenn sich Kriegsmächte in die Familien einmischen, ist nichts mehr normal. Und in der seltsamen abgeschotteten Geschichte der RD ist der Generationenkonflikt anders. Nicht wie bei den Hiesigen und ihren Achtundsechziger-Eltern.

Zunächst ist da die Frage der Generationen. Meine These ist, bei Russlanddeutschen es nicht nicht nur der Konflikt zwischen zwei aufeinanderfolgenden Generationen. Diejenigen, die hier sozialisiert wurden oder hier geboren sind, sind mindestens drei Generationen von ihren Eltern entfernt. Mindestens.
Durch die konservierte Kultur innerhalb der zum Teil abgeschotteten deutschen Gemeinschaften vor dem Zweiten Weltkrieg, sind einige auf dem Stand von 1860 geblieben. Andere sind bei 1920. wieder andere in den 1950erjahren angekommen. Diese Siedlungen waren Konserven, die keine Luft und wenige Einflüsse hineingelassen haben. Und nach dem Krieg, in der Gefangenschaft, auch da war nichts mit Revolution. Mit freier Liebe. Mit niederreißen von Zäunen. Wie denn, wenn du hinter Stacheldraht gefangen bist. Abgeschnitten von allem.

Steile These? Vielleicht.
Aber allein der Wechsel der Systeme, die meisten der Elterngeneration sind in einem anderen System aufgewachsen, ist ein tiefer Abgrund. Und ich werte nicht. Es war einfach anders. Eine andere Welt. Aber egal, wie ich das bewerten würde, der Sowjetstaat war ebenfalls abgeschottet. Es ist wie im eigenen Saft schmoren. Nur wenige durften raus.

Konserve ist ein gar nicht so falsches Bild dafür. Es hat sich eine eigene Kultur ausgebildet, nicht schlechter, nur anders, die Verbindung, der Fluss und der Austausch mit anderen Ländern waren erschwert. Die Jugend damals war hungrig nach frischen Ideen. Alle jagten nach Platten aus dem Westen, obwohl sie verpönt war und anfangs sogar verboten. Abba im Radio, das war schon später.

Ich spreche jetzt für die zweite Generation der Russlanddeutschen hier, oder die anderthalbte. Die meisten unserer Eltern kamen als junge oder erwachsene Menschen in ein neues System. In ein fremdes Land. Das sie nicht mit offenen Armen empfangen hat. Das sie nicht anerkannt hat. So hingen sie lose im Raum. Weder dort zugehörig, noch hier.

Erst vor kurzem war im swr Fernsehen eine Doku zu sehen, wo es hieß: Die Russlanddeutschen. Sie leben unter uns, sie arbeiten bei uns, aber gehören sie wirklich dazu? So oder so ähnlich. Keine Lust, das jetzt nachzuschauen.
Wir waren, und wir sind noch immer Fremdkörper. Also ich würde mich nicht wundern, wenn sich einige dadurch nicht gerade angespornt fühlen, sich zu integrieren. Wenn sie sich dem alten, dem ursprünglichen System zuwenden. Es sind so viele Kränkungen entstanden. Und Kränkungen sind nicht zu unterschätzen.

Damals, 2016, als der Skandal um die angebliche Vergewaltigung einer Teenagerin aus Berlin unsere community erschütterte, sprach der russische Außenminister Lawrow, der nämliche wie heute, von „unserem“ Mädchen Lisa.
Was bedeutet im Klartext: Wir haben euch im Blick. Wir haben euch nicht vergessen. Ihr gehört zu uns.
Wenn das keine Drohung ist. Und ein Rattenfängertrick.

Die erfahrene Kränkung, dieses Nichtdazugehören der Neuangekommenen ist ein starkes Plus für die russischen Machthaber. Da hätte Deutschland etwas sensibler und klüger handeln müssen. Statt dessen haben als viele von uns kamen, windige Demagogen den Fremdenhass zu lenken gewusst und so Wählerstimmen für sich gewonnen. Ich denke da nicht nur an Lafontaine. Auch Norbert Blüm hat mal etwas von „deutschem Schäferhund“ gefaselt. Selber Schuld.

Es gibt noch andere Gründe für eine Zuwendung zu Russland, dem Nachfolgestaat der Sowjetunion. Nicht alle sind gleich gewichtig. Nicht alle will ich hier aufzählen.

Mittlerweile denke ich, dass einer der wichtigsten Gründe die Unwissenheit über die eigene Geschichte ist.
Woher sollen sie sie auch kennen? Man muss sich schon aktiv darum bemühen. Oder das zweifelhafte Glück haben, dass die Alten erzählen.

Die meisten Russlanddeutschen, die hier leben, kennen ihre eigene Geschichte nicht. Weil sie nicht vorkam. Dort nicht. Und hier auch nicht. Die Alten, die Erlebnisgeneration redete nicht, aus Scham, aus Schmerz, weil sie keine Worte für die Schrecknisse hatte. Weder in den Schulbüchern noch im Diskurs kommen wir groß vor. Rausgefallen aus der Gesamtgeschichte. Was ein Glück für die russische Propagandist*innen. Da haben sie ein leichtes Spiel.

So kommt es, dass diejenigen, die Stalin verherrlichen plötzlich eine Option sind. Dabei war es dieser schnurrbärtige Onkel, der alle ins Lager gesteckt hat. Auch die wolgadeutsche Oma, auch die ukrainedeutschen Großeltern auch die Vorfahren aus den deutschen Dörfern auf dem Kaukasus.
Mit denselben menschenverachtenden und entwertenden Mechanismen, wird und wurden Gründe gefunden, andere Gruppen zu diskreditieren. Unter Stalin wie unter Putin. Es ist das Gleiche in Grün. In Z. Nur dass die jetzigen zu verdammenden Gruppen das ukrainische Volk, LGBTQ-Leute oder der Westen allgemein sind.
Doch wer diese Mechanismen nicht kennt, wer für die eigene Geschichte blind ist, wird den listigen Worten glauben.

Natürlich ist die entfesselte zielgerichtete Propaganda auf allen Kanälen die die russische Regierung, trotz Sanktionen streut, ein sehr wichtiger Baustein. Sie säen Desinformation, sie säen ihre Sicht der Dinge, egal ob sie zutrifft oder erlogen ist.
Aber es muss etwas da sein, was empfänglich ist, damit diese Saat aufgeht. Und anscheinend geht sie auf. Gekränkte Identität, Unwissenheit der eigenen Geschichte. Eine Verklärung der heilen Kindheit in der Sowjetunion. Der Verdacht, dass der Westen seine eigene Wahrheit erzählt. Tut er. Es ist auch gut, alles zu hinterfragen. Aber bitte nicht, in dem man sich der nächstbesten Diktatur in den Rachen wirft.

Wie aber damit umgehen? Was tun, wenn im Freundeskreis und in der Familie die Narrative des Kreml verteidigt werden? Ihnen allen den Rücken drehen? Über seinem Teller mit Pelmeni beim nächsten runden Geburtstag den Groll runterschlucken und schweigend nicken?

Es gibt drei Wege. Trennung. Selbstverleugnung oder ewiger Streit. Nicht so schön, aber so sind nunmal die Möglichkeiten. Doch das habe ich nicht gesagt.
Das ist es nicht, was ich allen auf den Weg geben wollte. Sondern folgendes: Bildet Banden! Sucht euch Gleichgesinnte. Wenn ihr euch informiert, werdet ihr merken, dass es nur wenige sind, nicht die Mehrheit, die der Kremlpropaganda auf den Leim gehen oder die von ihm korrumpiert lauthals seine verdrehten Wahrheiten hinausschreien. Es ist nicht die große Mehrheit. Sucht die anderen, vernetzt euch mit ihnen.

Weiterer Punkt: die eigene Geschichte kennen. Dann kann dir niemand erzählen, wer und was du sein sollst. Das eigene Selbstbild stärken ist wichtig.

Es kostet außerdem viel Kraft Solange diese vorherrschende Spannung aushalten zu können. Also Kraft sammeln. Gut zu sich sein.

Es gibt genug fernöstliche oder fernwestliche Techniken, um zu lernen, den eigenen Raum einzunehmen, für sich einzustehen, im Gleichgewicht zu bleiben. Egal, ob Yoga, Kampfsport oder Haka. Von mir aus auch Tango oder Gesang oder kontemplative Meditation. Alles was die eigene Wahrnehmung stärkt, alles was den eigenen Raum festigt, ist förderlich.

Was noch? Wenn Argumente nichts fruchten? Wenn sich alle mit vermeintlichen Fakten zu überschreien versuchen?

Aushalten. Abwarten. Ausharren und versuchen, sie alle dennoch irgendwie zu lieben.
Die Zeit wird nicht alle Wunden heilen, aber auch dieser Krieg hat irgendwann ein Ende. Irgendwann können wir uns um die Ruinen kümmern. Aufräumen, sortieren und die Spuren des Krieges beseitigen, der dann seinerseits zu einem alten Krieg geworden sein wird.

Wann ist die dunkle Nacht zu ende?

Wieder mal ist was passiert. Und wiedermal ist eine kleine Anzahl derer, die laut schreien am besten zu hören. Die mit den Autokorsos. Diejenigen, die die russische Trikolore schwenken, weil sie sich diskriminiert fühlen. Fehlt noch, dass sie das „Zett“ in den Farben des St. Georg-Bandes vor sich hertragen.

Es ist das System, das verurteilt werden muss. Foto: Artem Chernow, 1990

Selbst wenn sie aus Angst vor Diskriminierung mitlaufen, oder eher fahren, werden sie von außen als pro-russisch gesehen. Als diejenigen, die den Angriff gutheißen.

Ich weiß, das alles ist eher nebensächlich.
Als ob es im Moment das Wichtigste wäre, nach sechs Wochen Angriffskrieg in der Ukraine.

Als Helene Fischer sich neulich öffentlich gegen das Putin-Regime positioniert hat, war die zweite Reaktion, dass sie in deutschen Medien als Russin oder russischstämmig bezeichnet wurde und nicht als Tochter deutschstämmiger Eltern aus Sibirien. Nach der Freude, dass sie sich geäußert hatte. Auch mir war die falsche Bezeichnung aufgestoßen, aber ist es gerade wesentlich?

Noch vor wenigen Tagen habe ich in sozialen Medien kritisiert, dass russländische Soldaten in der Ukraine als Orks bezeichnet werden. Das sei ebenso entmenschlichend wie die propagandistischen Tiraden aus Moskau. Hätte ich mir lieber sparen können, denn einen Tag später kamen die Berichte aus Butscha.

Es ist wohl nicht die richtige Zeit für Zwischentöne, nicht wenn Städte zerbombt und Zivilpersonen auf brutale Weise getötet werden. Und das ist leider noch ein Euphemismus.

Es ist zwar nicht schön, dass alle, die angeblich irgendwas mit Russland zu tun haben, blöd angemacht werden. Aber Anschläge wie der auf die Lomonossow-Schule in Berlin, sind zum Glück sehr selten.

Es ist auch nicht schön, wenn mein betagter Vater, der mit seiner Familie vor 80 Jahren aus der Ukraine fliehen musste, vor der roten Armee wohlgemerkt, heute auf seinen Spaziergängen von wohlmeinenden Nachbarn angesprochen wird mit: Na, was hat DEIN Präsident sich dabei gedacht?

Dumme Menschen generalisieren und fangen an, alle undifferenziert zu mobben. Das ist eine blöde Begleiterscheinung. Aber deshalb Autokorsos durch Berlin und Frankfurt abzuhalten und russische Flaggen zu schwenken ist eine eher unangemessene Reaktion.

Allein schon aus Nachhaltigkeits-Gründen sollte man Autokorsos verbieten.

Wichtig ist, dass der Krieg irgendwie gestoppt wird, dass das Gemetzel und die Vertreibungen aufhören.

Übrigens wenn euch wirkliche Diskriminierung passiert: es gibt hier eine Meldestelle für antislavische Diskriminierung im Netz. Bitte wendet euch in solchen Fällen nicht an die russische Botschaft, denn die nutzen das nur für ihre Propaganda.
Ich würde diese Demos zwar nicht als Korsos der Schande zu bezeichnen, wie einige Kolleginnen, aber ich würde mir wünschen, meine Leute würden sich nicht von dubiosen Hintermännern für Propaganda ausnutzen lassen. Aber es passiert.
Solche Demos sind momentan so notwendig wie ein Kropf. Ebenso wie die Influencerinnen und Vlogger, die sich vor den Karren der russländischen Propaganda spannen lassen. zunächst wollte ich sie ja nicht namentlich nennen, um ihnen nicht auch noch eine Plattform zu geben. Aber über eine hat Volksverpetzer einen Faktencheck-Bericht veröffentlicht. Darin werden die Mechanismen und die Absurdität bestimmter Behauptungen der emsigen PR-Arbeiterin deutlich.

In der Einladung wird davor gewarnt, das Z zu präsentieren. Immerhin.

Zum Glück ist nur ein kleiner Teil der Menschen aus den postsowjetischen Communities bei solchen Aktionen dabei. Ein nicht zu vernachlässigender Teil engagiert sich für die Ukraine, organisiert Konvois mit Medikamenten in die Kriegsgebiete, bleibt auf Abruf, um für Geflüchtete vor Ort oder per Telefon zu übersetzen oder schreibt Artikel gegen den Krieg und über diejenigen, die sich von der Sichtweise des Kreml einnehmen lassen.

Ich hoffe, dass unsere Demokratie standhaft bleibt, und in Zukunft solche seltsamen Auswüchse wie die Autokorsos unterbindet. Besonders im Hinblick auf ein bestimmtes Datum. Ich habe Sorge, was am 9. Mai passieren wird. Ob es in deutschen Städten noch mehr prorussische Paraden zum Tag des Sieges geben wird. Hatten wir in den letzten Jahren auch, aber dieses Jahr werden sie sicher noch excessiver geführt. Die gegenwärtige Lage verbietet eigentlich solche Aufmärsche, aber wem sage ich das.

Die Demo am kommenden Sonntag in Frankfurt ist übrigens nicht verboten, darf aber nur unter strengen Auflagen stattfinden. Ohne Autos, ohne die Zeichen Z und V und ohne Verunglimpfungen des Staates Ukraine.
Und es sind große Gegendemos zu erwarten. Mit vielen Teilnehmenden aus den ehemaligen Sowjetrepubliken, darunter auch vielen Deutschen aus Russland. Aber werden sie im Gedächtnis bleiben oder die wenigen Putinisten?

All das bleibt an uns hängen. Wie auch das Klischee vom erbarmungslosen Killer. Dafür sorgt das chauvinistische Regime aus Moskau gerade zu genüge. Es wird mehrere Generationen brauchen, um das wieder aufzuarbeiten, das wieder geradezurücken. Wie soll sich Russland nach diesem Debakel wieder aufrappeln?
Ab jetzt wird alles Russländische und Russland selbst nur durch einen Filter des gnadenlosen barbarischen Angreifers betrachtet. Ist das etwa das Bild der Stärke, das uns Putin vermitteln will?

Die Ideologen des Regimes bezeichnen sich selbst als Kämpfer gegen den Faschismus und als Retter der Zivilisation (nur nicht als Retter der westlichen, versteht sich). Aber mit welchen Mitteln? In diesem Artikel von Dekoder werden die Ideen solcher Vordenker wie Alexander Dugin und die anderen Bausteine des Putinismus vorgestellt. Sie gaben sich schon früh zu erkennen.

Haben wir nicht die Alarmglocken läuten gehört?
Anna Politkowskaja wurde getötet, nachdem sie während der Tschetschenienkrieges über genau solche unmenschlichen Gräuel berichtet hat, wie sie jetzt in den Vororten ukrainischer Städte passieren. Was brauchen wir noch, um aufzuwachen?


Es gibt keinen guten Abschluss für diesen Post. Denn eigentlich möchte ich von ganzem Herzen schreiben, dass dieser elende Krieg aufhört. Leider kann ich mir das im Moment selbst nicht glauben.
Und wie gesagt, alles worüber ich hier berichte, sind nur Nebenschauplätze. Der wirkliche Krieg tobt woanders.

Doppelglasfenster

Ich höre öfter, wir Russlanddeutsche seien defensiv, klängen verbittert und fühlten und leicht gekränkt. Auch in der zweiten Generation. Oder der Anderthalbten. Erst kürzlich ist das wieder geschehen.
Nun, schön ist es nicht, aber es hat Gründe. Und wenn es keine gibt, finden wir eben welche. Zum Beispiel etwas, das harmlos klingt. Im Aachener Dom wird es anlässlich der Flutkatastrophe eine Gedenkfeier geben. Mit Frau Merkel und Herrn Steinmeier und anderen wichtigen Personen. Das ist gut, dagegen ist nichts zu sagen. Der Opfer der Flutkatastrophe sollte unbedingt gedacht werden.

Was mich stutzig macht, ist das Datum. Es fällt genau auf den Tag, an dem wir der russlanddeutschen Opfer der Deportation gedenken. Für Deutsche aus Russland gibt es wenn überhaupt, diesen 28.8.1941, einen Tag, der jetzt sich zum 80. Mal jährt und an dem sie ihrer Opfer gedenken können.

Dass dieser Aspekt bei der Terminwahl im Aachener Dom keine Rolle gespielt hat, ist ziemlich bezeichnend. Ich will, um Gottes Willen, nicht die eine Opfergruppe gegen eine andere ausspielen. Ich will nicht andeuten, dass ich lieber hätte, dass Merkel und Steinmeier im Aachener Dom der russlanddeutschen Opfer gedenken – das ist illusorisch. Bitte nicht falsch verstehen. Ich hier will nicht in ein Mimimi verfallen. Nur aufzeigen, was so läuft, den Status Quo benennen sozusagen. Den Grund dafür, warum DaR manchmal schmallippig werden und sich zurückziehen. Es ist schwer, Bitterkeit und Gekränktsein abzulegen, wenn dir, auch von offizieller Seite, ständig eine gewisse Ignoranz entgegenweht. Dir aufgezeigt wird, du kommst nicht vor. Du spielst keine Rolle.

Gut, die hatten es nicht auf dem Zettel. Ja, kann ich ihnen nicht verdenken. Es ist schlicht und einfach nicht bekannt, bleibt unter dem Radar, nur den Eingeweihten und denjenigen, die schon seit Wochen an zahlreichen Projekten zu diesem Thema arbeiten, ist der 28. August ein Begriff. Als Schlussfolgerung bedeutet das aber, die Öffnung ist noch nicht vollzogen. Die Integration, die ja eine beiderseitige ist, noch nicht erreicht. Das ist ein wenig so wie eine gläserne Decke.

Anderes Beispiel: Eine schreckliche Tat, in Würzburg begangen von einem Amokläufer, der mehrere Menschen tötet, viele verletzt. Einige Passanten haben sich ihm entgegengeworfen, haben versucht, ihn aufzuhalten. Mit Stühlen und anderen Dingen nach ihm geworfen. Die beiden Männer aus Syrien und dem Irak wurden von der Presse regelrecht gefeiert. Die drei jungen Russlanddeutschen, die das auch gemacht haben, nur einmal kurz erwähnt. Nicht wichtig. Nicht betonenswert genug, dass auch Aussiedler, nicht nur Asylanten, solche Heldentaten vollbringen. Vielleicht passen sie nicht ins Schema. Vielleicht kann aus ihnen keine Story gestrickt werden. Wenn sie in eine Schublade passen, dann in ihre eigene. Abgeschlossene, mit einem Schlüssel, der in einen See geworfen wurde.
Es gibt einige solcher Beispiele. Zum Beispiel wurden Russlanddeutsche vermehrt Opfer rassistischer Angriffe und sind nicht immer nur Angreifende. Doch das bleibt ebenfalls unter dem Radar.

Auch hier will ich niemanden gegeneinander ausspielen, sondern nur zeigen, dass Aussiedler noch immer ein weißer Fleck sind. Dabei ist Anerkennung und Gesehenwerden so wichtig für alle Menschen. Das verleiht ihnen Würde. Auch als Gruppe.

Neulich sagte jemand, aus unseren Texten auf der Schweigeminutenseite spricht Bitterkeit. Ja, es ist nicht leicht, diese abzulegen. Zumal in der Bevölkerung die einzige Ansprache eine gefühlt negative ist. So schrieb jemand neulich: „Nicht Russlanddeutsche, Rucksackdeutsche sind es.“
Noch immer nicht angekommen. Dass dieser Begriff aus der Zeit nach 1945 stammt und damals für die deutschen Flüchtlinge aus dem Osten gebraucht wurde, macht das Ganze nicht unbedingt besser. Wir sind also im besten Fall Reisende, oder eben Fremdkörper. Dabei hatten unsere Leute in den späten 1980ern und frühen 1990ern durchaus keine Rucksäcke mit, sondern diese unseligen karierten Plastiktaschen XXL mit Reißverschluss, die mit nicht besonders politisch korrekten Begriffen benannt wurden. Will ich hier nicht wiederholen. Die Hamburger Autorin Tina Übel nennt sie in ihrem Reiseblog: „Nachbarnationendisstasche“.

Ich weiß, dass so etwas niemals einseitig ist. Unsere Leute, unsere Instanzen sperren sich auch, verschließen sich selbst. Lassen junge Leute, die was ändern wollen, nicht ans Ruder. Zeigen ein Bild von uns in der Öffentlichkeit, das weder die Homogenität abbildet noch in die Gesellschaft zu passen scheint. Auch bei den meisten Feierlichkeiten anlässlich des schrecklichen Jahrestages 1941 bleiben wir scheinbar unter uns. Nein, nicht ganz. Nicht mehr. Ich übertreibe. Zum Beispiel wird es Ende des Monats eine Veranstaltung in Berlin geben, bei der nicht nur DaR dabei sind.

Dennoch. Noch immer haben wir dieses Image, das eigenbrötlerisch wirkt, deutschtümlerisch, nicht zeitgemäß. Aber ist es verwunderlich, wenn unsere größte Vertretung diesen Namen trägt: Landsmannschaft. Das klingt schon nach Burschenschaft und Blut-und-Boden-Ideologie. Nach zackigen Männern mit Waffe und Uniform. Seit Jahren weigert sich der Verein, den Namen zu ändern. Ist es ein Wunder, dass uns die Leute, besonders in linksgerichteten Kreisen nicht mit der Zange anfassen wollen? Wir sind selbst schuld. Keine gute und vor allem keine schnelle PR, das Image entweder vernachlässigt oder in die falsche Richtung gelenkt.

Es gibt durchaus Bestrebungen, das zu ändern. Die Podcasts „Steppenkinder“ vom Kulturreferat für Russlanddeutsche, der Podcast „X3“ – übrigens von der Landsmannschaft in NRW unterstützt, da ist doch schon eine Öffnung! – dann der Ableger von LibMod mit dem Namen ost[k]lick oder das „Russlanddeutsche Diarama“ von Dekoder sind große Schritte in die richtige Richtung. Es passiert hier eine Öffnung nicht nur zur Gesellschaft hin, sondern auch zu einer jüngeren Zielgruppe.

Aber die Landsmannschaft bleibt dennoch Landsmannschaft. Seit Ihrer Gründung Anfang der 1950er bis heute. Dieses antiquierte Bild dadurch zu kaschieren, dass man die sperrige Abkürzung LmDR benutzt, ist doch nur ein Feigenblatt.

Wie gesagt, die Öffnung ist nicht nur Sache der Aufnahmegesellschaft. Ich gebe zu, auch von Seiten unserer Gremien, Vertretungen, Instanzen wurden Barrieren errichtet und nicht nur Brücken gebaut oder Hände gereicht. Das ist die zweite Schicht der gläsernen Decke. So sitzen wir also in einem hübschen Raum mit Doppelglasfenster.
Ich hoffe stark, das ändert sich noch.

Laut Autorin Tina Übel eine „Nachbarnationendisstasche“

Einige Projekte und eine Veranstaltung anlässlich des Gedenktages der Deportation am 28.8. 1941:

https://www.erinnerungsnaht.de/

https://idrh-hessen.de/80-jahre-deportation/

https://www.bkge.de/Veranstaltungen/Kalender/3806-deportation-und-erinnerung-80.-jahrestag-der-zwangsumsiedlung-.html


Weitere Links:

Dekoder russlanddeutsches Diarama: https://nemcy.dekoder.org/de

Russlanddeutsche für Demokratie im Netz: https://www.ost-klick.de/

Der Podcast Steppenkinder: https://www.russlanddeutsche.de/de/kulturreferat/projekte/steppenkinder-der-aussiedler-podcast.html

Der Podcast X3: https://www.x3podcas

Die Unschärfe der Masse

Alle Menschen

alle Menschen verallgemeinern, sagen:
alle Russen, alle Chinesen, alle Blondinen,
die Obrigkeit, alle Fahrer, alle Männer,
der Westen, alle Polizisten, sie, das Volk,
alle Dichter, alle Studenten und so weiter …
ich verallgemeinere nie,
aber die Menschen verallgemeinern gerne.

Sergej Tenjatnikow

Stellen Sie sich vor, Sie fotografieren eine Ansammlung von Menschen, eine Demo vielleicht. Die vorderen Personen sind noch einigermaßen deutlich auszumachen. Die im Hintergrund wirken dagegen unscharf. Sie verschwimmen zu einer Menschenmasse. Nehmen Sie dagegen ein Bild von einer kleineren Gruppe, beispielsweise einer Familie, werden die einzelnen Personen sichtbar, ihre Einzelheiten treten deutlich hervor. Noch mehr gilt das für Nahaufnahmen. Besonders bei den Portraits der niederländischen Meister. Die konnten das, den Charakter malen statt nur den Kopf.

Das alles klingt offensichtlich und banal, dennoch unterlaufen uns Generalisierungen. Wo wir doch in einer pluralistischen Gesellschaft leben, in der Individualität ein hohes Gut ist, wenn nicht das höchste überhaupt.

Im Fall der Deutschen aus Russland wiederholt sich diese Verallgemeinerung immer wieder. Mit fatalen Konsequenzen.

Pilzgeflecht

Eine Gruppe ist selten homogen. Dieses Begriffspaar homogen – heterogen wie abstrakt das klingt. Ein Bild wäre besser: Gehen wir davon aus, diese Gruppe, dieses WIR ist kein Granitblock, sondern eher wie ein unterirdisches Geflecht, ein rhizomatisches WIR-Gefüge. Ein Rhizom ist eigentlich ein Begriff aus der Biologie, er bezeichnet die Wurzeln von Pilzen unter der Erde. Die beiden Franzosen Gilles Deleuze und Felix Guattari haben das Rhizom bereits in den 70er Jahren des letzten Jahrhunderts in ihren philosophischen Diskurs aufgenommen und der Filmemacher Alexej Getmann hat bei einem Vortrag die kulturelle Verbundenheit der Deutschen aus Russland damit verglichen.
Demnach ist das WIR ein Zusammenschluss von vielen, einzelnen und auch Gruppen, die sich unterscheiden, aber auch Gemeinsamkeiten bilden. Es entstehen Knotenpunkte und Verdickungen dort, wo es Ähnlichkeiten und einheitliche Interessen gibt. Die einzelnen existieren für sich und sind trotzdem durch eine gemeinsame Erinnerungskultur oder andere Klammern miteinander verbunden. Zum Beispiel durch eine Sozialisation in den Sowjetstaaten oder durch die Erfahrung von Wanderungen von einer Kultur in die andere. Das Kulinarische scheint so eine Klammer zu sein. Doch selbst hier gibt es keinen Einklang. So zählen einige von uns nur Gerichte wie Krebble oder Strudel mit Sauerkraut zu unserem kulturellen Erbe. Andere haben slawische Nationalgerichte wie Borsch, Piroggen oder Pelmeni in den russlanddeutschen Küchenkanon aufgenommen und wiederum andere kochen auch mittelasiatische Speisen wie Plow oder Manty. Die entscheidende Frage ist, welche dieser Speisen gehören zu uns, welche Zugehörigkeiten zu anderen Kulturkreisen, und sei es durchs Essen, machen uns aus, bilden einen Teil unserer Identität? Eine starke Klammer sind natürlich auch die Zuschreibungen von außen.

Ein Stempel für alle
Anhand von ausgewählten Beispielen von früher und heute wird sichtbar, wie willkürlich solche Bezeichnungen sind und was für ein starkes kollektivierendes Element sie besitzen. So sah man unsere Leute in Russland ab 1914 und später ab 1941 in der Sowjetunion:

Spione
Diverssanten
Hitlers fünfte Kolonne
Volksfeinde
Kollaborateure
Faschisten
Fritzen

So sah man unsere Leute in Deutschland ab 1990 und ab 2016:

Passbeschenkte
Mitglieder der Russen-Maffia
Russen-Babuschkas (die berechtigte Frage: wer ist gefährlicher, Russen-Omas oder die Russen-Maffia?)
die mit dem deutschen Schäferhund
Putins fünfte Kolonne
AfD-Sympatisant*innen

Wie wir uns sehen:
Unsere Leute sind fleißige, sparsame Familienmenschen, sehr bescheiden, zuverlässig.

Diese Selbstwahrnehmung unterscheidet sich ziemlich stark von der Fremdwahrnehmung ist aber nicht weniger verallgemeinernd. Überhaupt unsere Leute.

die Unsrigen – die Hiesigen
wir – ihr
hier – drüben

Das sind so einige der Grenzmarkierungen, innerhalb derer wir (alle? einige von uns? die anderen, aber ich nicht?) uns bewegen.

Und dennoch, wenn wir näher ranzoomen, die einzelne Persönlichkeit in den Fokus nehmen, bemerken wir, dass die Identitäten nicht statisch, sondern schillernd sind. Das WIR ist divers. Unter uns gibt es welche, die schlau sind, welche die dumm sind, welche die spitzfindig und schnell beleidigt sind. Na gut, zugegeben, das sind wir alle, also schnell beleidigt.

Solche, die konventionell sind und solche, die pervers sind, divers pervers. Solche, die zart sind wie eine Elfe, auch Jungs. Auch unter den Unsrigen gibt es die Phantasievollen, Musikalischen und Sportlichen. Frauen, die sich weigern zu kochen, Männer, die sich in einem dezenten Anthrazitgrau die Nägel lackieren. Und es gibt genau diejenigen, die allen Klischees von Russlanddeutschen entsprechen. Ich habe selbst welche kennengelernt.
WIR, das sind nicht nur die Guten, Fleißigen, Sparsamen. Es gibt auch Faule und Verschwenderische und Hinterhältige darunter. Klar, auch den einen oder anderen Spion, warum nicht. Aber der größte Teil wurde unschuldig deportiert.
900.000 waren es insgsamt.


Doch ein Monolith?

Das WIR besteht aus vielen Individuen, es sei denn, von außen kommt eine determinierende Zuschreibung, die so starr und einschränkend ist, dass sie einer Pressform gleicht.

Nach der allgemeinen Spionomanie und antideutschen Haltung im Zarenreich, die 1914 ihren Höhepunkt erreicht, hat Stalins Gleichung von Fritz=Faschist=Hitlers Spion verheerende Auswirkungen auf die deutsche Minderheit im Land. Sie werden zu Kriegsbeginn zu zig-tausenden in Lager verbannt, die nicht so heißen, sondern Arbeitsarmee oder Sondersiedlung.
Einzelne Schicksale verschmelzen zu einem. Da ist der Transport in Viehwaggons. Da ist das Ausgeladen werden im Nichts. Kälte, Hunger, Gewalt – alles sehr große Gleichmacher. Jede Familie, jedes Schicksal wird dadurch austauschbar. Und doch, aus der Nähe am eigenen Leib erlebt, wenn es dich selbst, deine Mutter, deinen Bruder oder dein Kind trifft, wird es schnell wieder sehr persönlich.
Fällt es deshalb so leicht, die Russlanddeutschen als Masse zu sehen, weil sie durch dieses gleichmachende Trauma gegangen sind? Reicht eine äußere Pauschalisierung, wenn sie mit genug Gewalt vertreten wird, aus, um jede Individualität auszumerzen?

Haben WIR, also die Unsrigen, diese negative ethnische Zuschreibung so sehr eingestanzt bekommen, das wir sie verinnerlicht, dass wir sie als bestimmendes Merkmal in unsere Identität aufgenommen haben? Aus der äußeren Beschimpfung Faschisten ist vermutlich auch die innere Wahrnehmung: „Wir sind deutsch, wir sind fleißig, ehrlich und sparsam“ geworden. Aus reinem Selbstschutz heraus.

Was viele nicht wissen: in der Sowjetunion gibt es seit 1934 in jedem Pass die fünfte Linie für die Nationalität. Diese fünfte Linie hat drüben Menschen deutscher Herkunft zu wirklichen Passdeutschen gemacht. Du konntest deinen Vornamen zu Wolodja oder Walja ändern, konntest dir jeden Akzent abtrainieren, aber die fünfte Linie hat trotzdem dein Leben bestimmt. Im Guten, oder, wie im Falle der Deutschstämmigen, eher im schlechten. Das war die herrschende Realität.

Dann – Tadaaa – reisen diese geplagten Passdeutschen nach Deutschland aus. Zu den vermeintlich Unsrigen, also Ihrigen. Was für ein großes Hallo da entstanden ist. Denn die Hiesigen waren dabei, eine neue Realität zu schaffen: nach der Ethnomanie der Nazis waren sie dabei, sich vom ethnozentristischem Denken zu befreien. Da kommen hunderttausende Zerlumpte mit ihrer amputierten Sprache daher und behaupten, WIR sind Deutsche wie IHR. Von der Geschichte dieser Leute wusste niemand etwas. Und WIR – gewohnt, uns zu ducken und über uns zu schweigen, haben weiter geschwiegen. Übrigens, das nur am Rande, allein wegen der ethnischen Zugehörigkeit wäre wohl niemand aufgenommen worden. Die Tür in den Westen hieß nicht Bello, der deutsche Schäferhund, sie hieß Kriegsfolgeschicksal. Aber das ist im öffentlichen Diskurs leider untergegangen. Auch hier hat sich die Unschärfe der Masse gegen uns gewendet. Dabei ist auch das einfach wie banal. Wer den Fokus wieder auf den einzelnen Menschen richtet, verwandelt Generalisierungen zu dem, was sie in Wirklichkeit sind: zu lächerlichen Krücken. Dann tritt der einzelne Kopf wieder deutlich hervor, mit all seinen Merkmalen und Eigenschaften. Dann braucht es keine Zuschreibungen mehr, die jedes individuelle Merkmal verschwimmen lassen. Wie ein kaputtes Objektiv.

Unter die Haut

… oder

Hasch mich ich bin der Mörder!

Was passiert, wenn man sich mit der bloßen Haut auf ein feines Gitter legt? Dann gibt es einen Abdruck, eine Prägung. Sie schneidet manchmal ein. Nach Stunden verschwindet sie. Normalerweise.

Und was ist mit einer Zuschreibung, der du immer und immer wieder ausgesetzt bist? Über Jahre, über Generationen?

Irgendwas von dieser Struktur geht dann doch unter die Haut, setzt sich fest.

Das ist, was die Leute hier verwechseln, wenn sie empört ausrufen, oder in die Kommentarspalten schreiben, viele Deutsch-Russen sind Rechtsextreme.

Einige sicher. Kein Volk, keine Gruppe bleibt in unserer Zeit von diesen braunen Gesinnungsgenossen verschont.

Doch. Warum klebt es an uns, wie Pech? Es gibt fließende Übergänge. Heimatliebe führt nicht immer zu Ausgrenzung.

Aber kann es durchaus. Falschverstandener Patriotismus, fehlgeleiteter Patriotismus. Falsch verstandene Betonung des Deutschtums, die in Ethnoreinheitsphantasien mündet.

Kann durchaus vorkommen, wenn du nicht aufpasst.

Doch. Wieso denken alle, die DaR sind besonders anfällig dafür? (Mag vielleicht daran liegen, dass Gruppen wie DaR für AfD eine besonders laute PR-Maschinerie am laufen haben? Oder es einfach opportun ist, nur über diese Gruppierungen zu berichten.)

Alle schreien nach einem nicht schwarz-weißen Denken. Nur hier verlässt sie plötzlich die Fähigkeit zu differenzieren.

Zugegeben. Viele Deutsche aus Russland haben ein Thema mit Heimat, Identität und Deutschsein. Sie zelebrieren ihr Deutschsein zuweilen auf extreme Weise. Mit alten Volksweisen und dirndlartigen Kleidchen. Oft mag das fremd und übertrieben wirken, aber es hat historische Gründe, steht alles in den Geschichtsbüchern.

Scherz.

Steht natürlich nicht dort. Denn außer der Leute vom Institut für digitalen Lernen mit ihren mBooks, hat sich keiner bis jetzt die Mühe gemacht, unsere Geschichte für die Schule aufzuarbeiten.

Wozu Unkenntnis und Unwissenheit führt, auch die der eigenen Geschichte, wissen wir ja…

Aber in vielen Quellen im Internet steht was dazu. Die muss man sich nur mühsam zusammensuchen.

Heimat und Deutschsein ist unser Thema. Aber macht es uns alle zu rechten Extremisten?

Wieso gewinnen die Leute den Eindruck, wir wären alle so? Das wird den DaR vorgeworfen, wenn sie betonen, wir sind doch Deutsche und stolz darauf. Dann denken hiesige Liberale gleich, Achtung, braune Gesinnung.

Ja, das kann, muss aber nicht sein.

Es kann mit der Prägung zusammenhängen. Siehe Vergleich mit dem Gitter. Eine Prägung, die dir als Deutschen in Russland zwangsläufig aufgedrückt wird. Nicht zu unterschätzen, was das mit Menschen macht.

Eigentlich ein spannendes Forschungsthema.

Wenn du also als verhasste, verschwiegene, unterdrückte Minderheit irgendwo lebst, im Schlimmsten Fall in einem Land, wo die deinigen als Feinde betrachtet werden, wo den Leuten als erstes „Heil Hitler“ und „Hände Hoch“ einfällt, wenn sie nach deutschen Wörtern gefragt werden, dann kann man sich vorstellen, wie diese Prägung ausfallen kann.

Dann bleibt es an dir hängen. Deine persönliche Identität wird von diesen Zuschreibungen geprägt. Das legt sich nicht so einfach ab. Nicht innerhalb von einer Generation.

Ein Freund hatte sich in Russland gut eingerichtet. Hatte nicht vor auszureisen. Mit einem deutschen Namen konnte er studieren und sich eine Existenz aufbauen. Bis, das war wohl schon in den 90ern, sein kleiner Sohn vom Spielen heimkam und sagte: Papa, bin ich ein Faschist? Warum?

Das hat ihm sein bester Freund gesteckt. Ein Junge, der eingentlich aus einer modernen, aufgekärten Familie kam.

Unausrottbar, solche Vorurteile.
Das war der Moment, in dem die Familie die Koffer für die Ausreise in den Westen gepackt hatte.

Bis heute existieren in Russland diese Zuschreibungen. Zumal noch immer unbekannt ist, warum die Deutschen nach Russland kamen, wann, was mit ihnen passiert ist.

Wenn Russen und Russinnen auf der Straße gefragt werden, wie die Deutschen nach Russland kamen, sagen noch immer viele, na die kamen um zu studieren, sie kamen zu Besuch und sind geblieben.

Was für ein Hohn. Zu Besuch!

Viele auf beiden Seiten glauben noch immer, dass es die Nachkommen deutscher Kriegsgefangener sind,  die  Gebiete im Altai und um Omskherum bevölkern.

Chände Choch!

Der Abdruck Faschist wird nicht so leicht verschwinden. Auch mit mehr Informationspolitik nicht. Zuschreibungen sind hartnäckig.

Wie sind die Deutschen in der Sowjetunion damit umgegangen?

Sie haben es umgeformt, aus dem Negativabdruck, aus dem einschneidenden Gittermuster auf der Haut etwas Positives gemacht. Strudel und alte Lieder, Traditionen und die Liebe zu einer Landschaft, die kaum einer von den Sowjetdeutschen je zu Gesicht bekommen hatte. Ein Schutzmechanismus, der sich nun gegen sie wendet.

Pech, dass in der Zwischenzeit, in den 70 Jahren, in Deutschland eine andere Entwicklung stattgefunden hat. Eine folgerichtige und notwendige. Doch nicht gerade eine günstige für die Heimkehrer.

Deutsch-Russen sind Rechtsextreme. Sie wollen auf Teufel komm raus Deutsche sein. So ist nun die Vereinbarung. Warum das so ist, was für Schicksalswege dahinter stehen, danach fragt keiner.

Und wir?

Schweigen. Was sollen wir denn tun. Schweigen, uns ducken, denn das können wir. Bloß nicht auffallen. Das kann böse enden.

Einer schreibt in den Kommentaren etwas zum Fall LISA:

RT Deutsch war eine der ersten Verkünder, wenn nicht der erste Verkünder! Auch ein Jahr später, war es noch bei RT Deutsch zu finden, was direkten Draht zum Kreml hat! Das ist so! Bei den Deutsch-Russen gibt es viele Rechtsextreme!

Diese beiden Verbindungen, Kreml und Rechtsextremismus kleben hier an uns. So wie Faschismus und Verrat an der Sowjetunion dort an uns geklebt haben. Das ist Pech.

Pech, das brennt wenns heiß ist, es brennt es sich ein, lässt sich nicht abwaschen.

Und was tun wir?  Wir regen uns darüber auf, dass uns die Leute und die Medien hier Deutsch-Russen nennen. Ist doch nur ein Wort mit Bindestrich. Hab dich nicht so!

Sind wir deshalb schon rechtsextrem?

Die Wahrheit liegt in den Schatten. In den Schattierungen.  Wie immer. Die freundlichen, offenen weltzugewandten unter uns werden nicht gesehen. Nur die aus voller Kehle rufen: die bringen uns die Messerstecher-Kultur ins Land. Volksaustauch!

Leichen im Keller – auf kreative Weise entsorgt. Oder auch nicht.

In einem Radiointerview, das kürzlich beim WDR lief, hat Luise Reddemann, eine Therapeutin, die sich seit langem mit Traumata beschäftigt, etwas sehr Kluges gesagt.

Die Ablehnung der Geflüchteten, basiere manchmal, nicht immer, aber manchmal, darauf, dass die Leute sich an ihre eigenen verdrängten Fluchterfahrungen und Diskriminierungserfahrungen erinnert fühlen.

Das Verdrängte zeigt sich im Gesicht der Fremden, die in Booten übers Mittelmeer kommen.

Und weils schmerzlich und verhasst ist, weil die Erinnerung nicht gewollt wird, werden negative Gefühle auf die fremden Menschen übertragen. Wut, Schmerz, Angst. Die ganze Palette.

Sie meinte nicht die DaR, aber es lässt sich sehr gut übertragen.

Oft stand in den Kommentaren in letzter Zeit: Aber die DaR kamen doch selbst als Fremde, warum verhalten sie sich so aggressiv gegen die Neuankömmlinge? (Wobei sich viele im Dialog der Kulturen engagieren, das darf nicht vergessen werden.)

Was die Therapeutin genannt hat, das mag nur ein kleiner Erklärungsversuch sein und deckt nicht alles ab. Aber er kommt mir schlüssig vor.

Denn sich mit dem Trauma befassen, das haben unsere Alten weder dort noch hier gelernt. Das weisen gerade die ab, die es am meisten brauchen. Sie sind schnell gekränkt und fertig. Verlagern die Probleme.

Es ist verjährt. Der alte Schmerz ist wie ein Kadaver, der 70 Jahre hinterm Sofa vor sich hin fault. Wer will sich damit abgeben? Zu spät.

„Begrabt die alte Gram doch endlich!“, möchte man ihnen zurufen.

Aber weil das Schweigen so lang darüber ausgebreitet war, weil es nicht sein durfte, dass sie Opfer waren, geht das nicht. Es ist kein Abschluss da. Noch nicht mal ein Anfang!
Im Osten nicht, noch immer nicht, und im Westen schon gar nicht. So taucht die Leiche immer wieder auf.

Lässt sich nicht unters Sofa schieben, sie lässt sich noch nicht mal in eine Statue eingipsen oder unter dem Pavillon begraben, wie in diesem Louis-de-Funes-Film.

Wohin damit?

Wir sind Opfer gewesen!

Nein!

Doch!

Oh!

Sorry, verjährt, sorry, uninteressant. Schaut nach vorne, lasst das Alte sein!

Solche Stimmen gibt es. Klar.

Aber sich dann wundern, wie viele von uns austicken, wie viele gegen andere agitieren, wie die Wut einzelne überflutet und sie blindwütig und gewalttätig werden.

Nein!

Doch!

Ohhh!

Naja, vielleicht lässt sich das Unliebsame, das Rechtsextreme, das Scherliche doch unter dem weißen Sofa verstecken. Es muss nur groß genug sein…

Was nicht vollständig erklärt, dass es hin und wieder doch rechtsextreme und völkische Gedanken unter den Deutschen aus Russland gibt. Aber sie sind mir ebenso fremd wie die der hiesigen Nazis.

Doch zum Glück, muss ich mir für deren Motivation nicht auch noch Erklärungen suchen.

Eine Pizza für zwei Tage…

… oder die drei wilden Küsse des Iossif Wissarionowitsch Stalin.

Nachhaltig. Stalin küsst den sowjetischen Piloten Wassilij Molokow

Er lässt mich nicht los, der schnauzbärtige Diktator, er hält mich mit seinem festen Griff umfangen. Und sein Schatten liegt immer noch auf meinem Weg. Blutiger Schatten. Krowawaja Tenj.
Ich werde pathetisch. Aber hey, ich darf das. Anders lässt sich das ganze Krüschzeug nicht verpacken. Soll ich da etwa ein Schleifchen drum binden?
Noch immer macht das was mit mir.

Dabei liegt diese Geschichte sehr, sehr weit zurück. Bald nun schon um die 80 Jahre oder mehr. So alt bin ich noch nicht mal. Aber es prägt mich, in einem kollektiven Sinn, in einem wir im Gegensatz zum ich Sinn. Also wir.

Bevor wir also aus der Sowjetunion weg sind, haben wir vom Woschdj, vom ehrwürdigen Führer der Werktätigen Iossif Wissarionowitsch Stalin noch drei Küsse zum Abschied bekommen. Auf dass wir das Land und diesen Mann niemals vergessen. Ein Kuss auf die rechte Wange, dann einer auf die Linke und dann wieder rechts.

Drei Markierungen über das eigene Leben hinaus, denn nichts anderes waren die Küsse Stalins, auch wenn sein Ableben schon mehr als ein halbes Jahrhundert her ist.

Ich hab da mal eine Liste gemacht.

Kuss No.1:
Der Kuss der Todesangst

In Zeiten des Terrors konntest du wegen Kleinigkeiten abgeholt werden. Verrat und Schweigen, die Angst vor willkürlichen Verhaftungen waren an der Tagesordnung. Alle erlebten das so, auch die Bolschewiken der ersten Stunde. Minderheiten wurden verfolgt, die Todeslisten mussten geschrieben und abgearbeitet werden. Der Todessoll musste erfüllt werden.

1938 gab es in der Ukraine die sogenannte Deutsche Operation. Das war die erste ethnische Operation des Genossen Stalin. Danach folgten noch viele. Zahlen. Erschießungen. angebliche Spionage. Arbeitsarmee. Kollektive Beschuldigungen. Keine sehr einfache Zeit, keine, die dir das Vertrauen in deine Zukunft eingibt. Über die Klammer der Generationen hinweg treibt dieser eisige Kuss Angst in die Seelen.

Die Zahlen – auch ohne Sprachkenntnisse zu verstehen.

Das ist der eisige GuLag-Kuss, der Kuss eines Genozids, der nicht so genannt wird, der generationsübergreifend wirkt und macht, dass die Menschen mit eingezogenem Kopf und voller Misstrauen durch die Welt stapfen. Dass sie so langsam vorwärtskommen, als würden sie durch meterhohen Schnee laufen. Es gibt Ausnahmen.
Oder nein, diese Schwere der Last zu spüren, das ist wohl die Ausnahme. Bei den Jüngeren. Die ältere Generation wandelt noch in meterhohem Schnee, auch wenn die Sonne knallt und es draußen mehr als 30° heiß ist. Fast ohne Ausnahme.

Wenn man die Zahlen betrachtet, ist sicher nicht nur Genosse Stalin für das alles verantwortlich, denn es fing schon mit dem ersten WK an. Aber es gibt in der Tabelle auch eine Lücken, zum Beispiel die Lücke zwischen 1937 und 1941, in die die Deutsche Operation fällt. Es sind also mehr Opfer zu beklagen. Und damit sind nur die Toten abgedeckt, nicht die Waisen, nicht die Verbannten, nicht die zerstörten Familien.

Kuss No. 2:
Der Kuss Stummheit

Der zweite Kuss ist besonders perfide. Er nimmt dir deine Identität. Er löscht deine Sprache aus und raubt dir die Erinnerung. Ja, ich weiß, nicht schreien! Nicht die Augen verdrehen, bitte. Identität wird überbewertet und wir alle jagen nach Seifenblasen des Selbst und so.

Aber hier geht es um ganz einfache Dinge. Um Verbote.
Mit diesem Kuss wollte Stalin sicherstellen, dass sich die angeblichen Faschisten in seinem Land nie wieder erheben. Und wie machst du das? Isoliere sie und nimm ihnen die Sprache, die Möglichkeit der Kommunikation, die Möglichkeit der Erzählung dessen, das war.

Wie war das noch? Nie wieder sollen Deutsche erhobenen Hauptes über die russische Erde wandeln. Die Maßnahmen sind schlicht. Verbiete ihnen deutsch zu sprechen und verbiete ihnen dahin zu ziehen, wohin sie wollen. Auch nach Aufhebung der Kommandatur-Aufsicht. Sie durften nicht frei ziehen, nicht in die angestammten Siedlungsgebiete, nicht in die großen Städte und schon gar nicht ins Ausland.
Die meisten blieben einfach an den Orten ihrer Verbannung oder zogen in die südlichen Republiken, nach Usbekistan oder Kasachstan.

Die Lücke, das große Loch zwischen 1941 und 1956, tilgt alles andere. Danach gibt’s kein Bewahren von Kultur und Sprache mehr, nur noch das Bergen von Scherben. Das Aufsammeln von Mehlresten in den Ecken der Scheune. Kolobok, Kolobok, ich fresse dich!

Als willfährige Bauern sind sie zu gebrauchen, die Fritzen. In ländlichen Gebieten sollen sie bleiben, Hühner züchten, Weizen anbauen, Baumwolle pflücken. Kolchosen und Sowchosen sollen sie zum Blühen bringen. Mal wieder. Aber nicht in ihrer Sprache auf der Straße reden, keinen Unterricht darin haben und nichts Gedrucktes produzieren. Und wehe, sie erwähnen in ihren Schriften auch nur das Wort: Wolga. Dann, Kolobok, pass nur auf!

Ab 1957 gibt es vereinzelt Schriften, die auf Deutsch erscheinen und das Leben des Proletariats und der Bauern preisen. Neues Leben oder Freundschaft heißen sie. Diejenigen, die dichten finden hier Zuflucht. Dennoch sind die Menschen, die diese Zeitungen lesen könnten, weit zerstreut. Familien, Freunde durch abertausende von Kilometern entfernt. Als Verbindung was? Eisenbahn? Telefon? Briefe? Nichts, was man nicht kontrollieren oder zensieren kann. Und dennoch ganz geht die Sprache nicht unter. Und das ist eine ziemliche Leistung.

Titelbild der Freundschaft von 1966

Identität. Ja oder nein?

Bitter. Warum sollten wir nach Identität suchen? Fragen heute einige. Zurecht. Doch.

Ist es gut, wenn Leute nicht wissen, was vor ihrer Geburt passiert ist? Wenn sie nicht wissen, woher sie kommen und welche Gründe es für ihre Situation gibt? Ich finde schon, dass es wichtig ist.

„Vielleicht würde es uns guttun, diese Suche nach der Identität sein zu lassen.“

Das sagte Juli Zeh in einem Interview in „Psychologie heute“.

Und Jan Fleischhauer schrieb vor einiger Zeit im Spiegel:

Was ist Identitätspolitik? Identitätspolitik ist das Versprechen, dass sich das, was einem im Leben an Widrigkeiten begegnet, auf die Herkunft zurückführen lässt. Wenn ich weiblich bin oder schwarz oder irgendwie anders als die anderen um mich herum, dann darf ich davon ausgehen, dass es nicht die eigentliche Unzulänglichkeit ist, die mich am Fortkommen hindert, sondern die Vorurteilsstruktur der Mehrheit.

Ein Problem dieser Form von Weltwahrnehmung ist ihre strenge Subjektivität. Wie immer, wenn man sich von seinen Gefühlen leiten lässt, ist nicht ganz klar, was Wahn und was Wirklichkeit ist.

Warum nicht? Netter Gedanke. Warum nicht einfach alles hinter sich lassen. Das hieß für uns ab 1960, in der Masse der Sowjetmenschen untergehen, lesen, was sie lesen, reden wie sie reden, denken was sie denken.
Geht aber nicht. Weil die Vergangenheit sich nicht abschütteln lässt. Weil sie dich, oder dein Kind oder dein Enkelkind einholen wird. Deshalb. Weil diese Identität eine ist, die schmerzt oder beißt oder dich zu Gewalt und Trunksucht treiben kann.

Ja, es ist billig, die eigene Herkunft für alles verantwortlich machen zu wollen, lieber Jan, der du dir nonchalant ein Tüchlein um den Hals bindest oder süffisant deine maßgeschneiderten italienischen Lederschühchen betrachtest. Auch du hast dir eine Identität geschustert. Gibs zu!
Du schreibst so erlesen über Identität und hattest nie deine Schwierigkeiten damit als junger, mittlerweile nicht mehr ganz so junger, wohlhabender weißer Mann in Europa zu leben. Ach, lassen wir das.

Viele der Alten aus der russlanddeutschen Community wollten verdrängen. Verständlicherweise. Viele aus der jungen Generation wissen nichts von Verbannung, vom Hunger und vom meterhohen Schnee der Angst. Sie kennen die Listen des Todes nicht. Sie fragen sich nur, woher ihre Wut kommt. Vielleicht noch nicht mal das.

Und übrigens, es ist eine Sache, sich komplett identisch zu machen mit der Herkunft, sich mit einer Gruppe zu identifizieren bis zur völligen Verschmelzung oder sich zu verbinden. Mit der Geschichte, mit den Einzelschicksalen der Leute oder mit ihrer Art zu leben. Ohne Symbiose. Ohne zu verschmelzen. Alles eine Frage der Dosis.

Kuss No. 3:
Kuss der Bodenständigkeit

Der Kuss, der einen nachhaltigen Abdruck hinterlassen hat, aber dessen Wirkung schwer zu beschreiben ist. Vor allem ohne jemandem gewaltig auf die Füße zu treten…
Er ist so ziemlich das Gegenteil von einem Musenkuss.

Neulich sagte eine Freundin, sie glaube, dass die Deutschen aus Russland (also in ihrer kollektiven Mehrheit, du und ich sind davon ausgenommen!) keine Wahrnehmung dafür ausgebildet hätten, was Kunst oder Literatur für einen Wert haben. Welche Zeit es braucht, um diese Dinge zu schaffen und welche Wirkung sie haben auf, na auf alles.

Das liegt nicht nur an dem Verbot, zu studieren. Dieses Verbot betraf nicht alle und nicht Studiengänge wie Ingenieur oder Agrarwissenschaftler oder Lehrerin.
Es liegt nicht nur an dem Verharren in den ländlichen Gebieten, die erzwungene Landflucht. Die erzwungene Meidung von schillernden Kosmopolen mit ihrem kulturellen Angebot und ihren Verlockungen zum Lotterleben.
Es liegt nicht nur an dem Rückzug ins ländlich oder religiös Traditionelle als Reaktion auf die ethnischen Repressalien. Oder die Hinwendung zu Gott als Anker, wenn ich es positiv ausdrücken soll.

Wer sich die Existenz neu aufbauen muss, immer und immer wieder, schaut nicht stundenlang auf den Mond und schreibt ein paar Zeilen dazu. Schade eigentlich. Aber is so.

Es ist nicht eins von diesen Dingen. Aber ein wenig von alldem bildet den Kompott, der all den Gebildeten und Müßiggängern misstrauen lässt. Bildet die Grundlage der Hinwendung zu allem Praktischen. Haus. Traditionen. Und die Familie steht über allem.
Zeitvertreib ist Zeitvertreib und darf nach Feierabend geschehen. Musikmachen ja, aber nur auf Hochzeiten, nur nebenbei. Wichtig sind Jobs, mit denen man Geld verdienen kann. Alles andere darf Hobby bleiben.

Und die Bohème? Kann man das essen? Kann man das gegen Essen eintauschen? Nein? Dann ist sie nichts für uns.

Nichts Unsicheres wie Theater oder Bücherschreiben, Gott bewahre. Auch hier gibt es löbliche Ausnahmen, die anderen Extreme, die Träumerinnen und Weltreisenden. Aber ich spreche nicht über dich. Ich spreche auch nicht über mich. Ich spreche über ein kollektives wir. Und das hat eigene Gesetze.

Das Luftige, das Verrückte, das Gewagte und das unsinnig Spielerische der Kunst. Sie alle haben keinen wert, wenn es ums Überleben geht. Und das ist sehr, sehr schade.

Denn nur diese Disziplinen schöpfen aus den Träumen und den Trümmern und weben eine eigene Geschichte. Bilden eine Erzählung, die wichtig ist für ein kollektives wir.

Die Realität war wieder eine andere. Hier in Deutschland. Da wurden auch die unmusischsten Diplome nicht anerkannt. Und so blieb den Ingenieuren nichts übrig als Taxi zu fahren und den Lehrerinnen blieb die Putzstelle, oder mehrere. Auch das trägt nicht immer dazu bei, das schöpferische ICH zu fördern.

Doch diese bürokratischen Hürden, in Deutschland und in Russland, die formen die Menschen. Hinterlassen Einkerbungen, Verbitterung bleibt, Kränkungen werden zugefügt. Sie alle müssen irgendwie verarbeitet werden, denn sonst werden sie weitergereicht.
Wenn es wenigstens nur ein Kuss wäre. Aber alle drei. Wie kannst du die Angst überwinden, wenn du stumm bleibst? Wie kannst du deine Geschichte erzählen, wenn du auf deine existentiellen Nöte zurückgeworfen wirst?

Auch das sind noch Abdrücke der Bruderküsse des Iossif Wissarionowitsch.

Nachsatz:

Warum will ich immer über Pizza schreiben? Welchen Gedanken hatte ich Mitte Mai, als ich dies alles notiert hab? Vielleicht so:

Ein Trauma ist wie eine Pizza, beides lässt sich am nächsten Tag auch noch kalt genießen.
Ok, nicht gerade pulitzerpreisverdächtig, aber hey, ich darf das.

Böses Blut

Ich habe mich nun so lang mit diesem Thema beschäftigt. Herkunft. Dieses: du gehörst hier hin, ich dahin. Und die gehören zusammen, die nicht. Dabei bin ich mehr als meine Herkunft.

Alles eine Frage des Blutes?

In anderen Zusammenhängen ist Blut, ist die Erwähnung des Blutes völlig unbelastet. Bei Vampirfilmen, da spielt Blut eine zentrale Rolle. Das Blut macht die Vampire unsterblich. Alles dreht sich darum.

Wenn es um indigene Völker, Ureinwohner Nordamerikas oder die Maori geht, ist Blutzugehörigkeit identitätsstiftend und positiv besetzt. Die Verbindung zu den Ahnen über das Blut ist eine kulturelle Eigenheit, gehört zur Tradition und wird nicht hinterfragt oder gar tabuisiert.

Da ist auch diese Rubinrot-Smaragdgrün-Serie. Ein  Zeitreise-Gen ermöglicht das Springen in andere Jahrhunderte. Der Clou: es sind Blutstropfen, die die Zeit-Maschine zum Laufen bringen und die beiden durch die Zeit reisen lassen. Ihr Blut macht Gwendolen und Gideon zu etwas Besonderem. Zumal sie auch noch Adelshäusern entstammen.
Die Geschichte ist zwar von einer Deutschen geschrieben, aber nach London verschoben. Im Film reden sich deutsche Schaupieler*innen mit Tante Maddie und Mister Börnhard an. Nur so funktioniert das. Nicht auszudenken, das Ganze würde in München spielen. Die Bedeutung des Blutes darf bei uns nicht hervorgehoben werden. Es ist verpönt, zu sagen, dass Blut Identität stiften kann.

Richtig so. Weil es eigentlich Unsinn ist. Blut ist bei allen rot. Rubinrot. Es gibt nur diverse Blutgruppen. Aber die sagen über den Wert und die Besonderheit eines Menschen nichts aus.

Es wurde in der Vergangenheit so viel Schindluder mit Blut und Boden getrieben, dass es nicht mehr geht, über Blutzugehörigkeit zu schreiben.

Deutsche aus Russland (in Folge DaR genannt) haben da Pech gehabt.

Nach Jahrzehnten der Ausgrenzung wegen ihres Blutes, wegen ihrer Zugehörigkeit kommen sie nach Deutschland, das sie die Heimat der Vorväter nennen, und hier ist Deutschsein verpönt. TABU. Geschweige denn das Gerede über gleiches Blut.

Einmal im Leben möchten sie dazugehören, nicht mehr bespuckt, geschubst, übergangen werden, nur weil sie Deutsche sind, und nun das.

Das ist wirklich eine Ironie des Schicksals.

Fakt ist, wenn ich, als Bürgerin dieses Landes, anfange, über mein Deutschsein zu sprechen, wirkt es deplatziert und falsch. Wenn ich über meine Zugehörigkeit zur deutschen Ethnie schreibe, ist es falsch. Weil die Begriffe wie Ethnie und Rasse direkt im Rassismus münden. Weil sie im harmlosesten Fall ausgrenzend sind. Weil zu viel geschichtliche Schlacke dranhängt.

Und das ist auch richtig so. Der aufkeimende Nationalismus mit allen dazugehörigen Nebenwirkungen zeigt, dass Einteilung nach Ethnien eine Falle ist. Es hat nicht von der Hand zu weisende Gründe, dass ethnische Zugehörigkeit nicht die Rolle spielen darf, die sie vor 70-80 Jahren mal hatte.

Aber wie gehe ich damit um, wenn ich meine Herkunft ausloten will? Wenn meine Identität so mosaikartig zusammengesetzt ist, so zerrissen dass es ein Bedürfnis ist, da eine Linie reinzubringen? Wie benenne ich die Dinge? Wem schade ich damit?

Wie gehe ich damit um, dass es offiziell zwar egal ist, woher jemand kommt und wie jemand aussieht, dann aber einer meiner Liebslingsschriftsteller in „Tschick“ einen Aussiedler als Hauptfigur einsetzt, der Schlitzaugen hat und im Film von dem Sohn eines mongolischen Botschafters gespielt wird? (Weil die Castingagentur in Russland gezielt nach mongolisch aussehenden Aussiedlern gesucht hat und nicht fündig geworden ist. Das Ganze treibt so absurde Blüten!)

Wo ist hier die Grenze? Darf ich mich bei „Tschick“ über Rassismus aufregen? Darf ich Herrndorf Rassismus unterstellen, wenn ich sage Russlanddeutsche und Mongolen sind zwei unterschiedliche, ja was? Wenn ich nicht mehr Volk sagen darf. Sie sehen unterschiedlich aus.
Bin ich hier gleich die Rassistin? Er hat doch über Schlitzaugen geschrieben. Nicht ich.

Auf jeden Fall begebe ich mich damit in gefährliches Terrain. Es ist eine Gratwanderung.

Kann denn die Sehnsucht nach Anerkennung Sünde sein?

Obwohl die DaR eine wegen ihrer Ethnie ausgegrenzte Minderheit waren, dürfen sie also nicht auf ihre ethnische Zugehörigkeit pochen. Dabei ist die wichtigste Motivation einiger von ihnen: das Dazugehören zum großen Ganzen. Zum deutschen Volk. In Zeiten der Verfolgung war es der Faden, der Strohhalm, an den sie sich geklammert haben. Sie haben aus der negativen Zuschreibung als ‚Fritzen und Faschisten‘ für sich etwas Positives gemacht, mit akkurat auf Kante gestellten Kissen und Krebbele und Schnitzel-Suppen und Liederabenden.

Vor diesem Hintergrund herrscht in der Gruppe der DaR zumeist ein Unverständnis darüber, dass sie mit solchen Aussagen, mit solchen Begriffen wie Deutschsein, Heimat und Blutzugehörigkeit verbrannte Erde betreten.

Die Zugehörigkeit zu ihrer Volksgruppe gewinnt bei ihnen, und das wird aus der Geschichte der DaR nur zu verständlich, eine zentrale Bedeutung. Sie sagen, mia sin doch deitsch, anstatt zu sagen, wegen Ethnie, wegen diesem Scheißnationalitätenkram wurden wir schikaniert, super, dass es egal ist. Weg damit!

Das Deutschsein ist ihnen mit der Peitsche eingeprügelt worden, mit Feuer eingebrannt, mit Spucke ins Gesicht geschleudert. Das sitzt. Und plötzlich soll es egal sein?

Manchmal kommt es mir vor wie eine Art Stockholm-Syndrom. So wie Entführungsopfer sich mit den Tätern (oder in seltenen Fällen Täterinnen) identifizieren und deren Weltsicht übernehmen, haben die DaR das Prinzip der Blutzugehörigkeit angenommen und zu ihrem eigenen gemacht. Sie haben das, weswegen sie ausgegrenzt und deportiert, wie Sklaven behandelt wurden, endlich akzeptiert und in das eigene System integriert. Sie haben diese Mechanismen verinnerlicht und kriegen sie nicht so leicht raus.

Mia sin ja deitsch! Mia habe gelitte!
Und nun soll das nicht mehr gültig sein? Wie das?

Doch auf Ethnie ausgerichtetes Denken kommt hierzulande eben nicht an. Oder wird falsch interpretiert. Diejenigen, die in der Sowjetunion fälschlicherweise für Faschisten gehalten wurden, kommen hierher und werden ebenfalls in diese Ecke geschoben. Wobei es sicher wirklich DaR gibt, die rechtsradikal sind. Keine Frage.

Aber nicht alle sind so, nicht 2,4 Mio Menschen. Nicht alle, die sich in Archiven nach ihren Großeltern erkundigen, nicht alle, die in Russland mit einer Rührung im Herzen deutschsprachige Bücher gelesen haben.

Doch von der aufgeklärten Mehrheitsgesellschaft wird ein Kleben an der eigenen nationalen Identität nicht akzeptiert. Und Punkt. Und es wird leider nicht hinterfragt, woher das kommt. Also: Stempel drauf, fertig.

Vielleicht bin ich mit meinem Denken noch nicht am Ende, vielleicht täusche ich mich grundlegend. Bin blind und sehe nur das Naheliegende. Meine Leute. Das wird sich zeigen.

Die Gruppe und ich.

Die Unsrigen. Die Hiesigen. Die anderen.

Was habe ich mit denen gemein? Mit all den Aussiedlerinnen und Aussiedlern, deren Lebenszweck es ist, ein Häusle zu bauen und Kinder aufzuziehen. Wo Männer noch Männer zu sein haben und Frauen noch Frauen und vor allem Mütter, das heißt treusorgend, familienzusammenhaltend und sonst: hübsch aussehen und Klappe halten!

Was habe ich mit denen zu tun, die über Genderwahn ablästern und Asylsuchende unsere Goldstücke nennen?

Wenn und nicht das gleiche Blut verbindet, was dann? Eine Schicksalsgemeinschaft? Sind wir überhaupt verbunden? Wie?

Klar, ohne diese verwandtschaftliche Bindung wäre ich jetzt nicht hier, nicht das, was ich bin.

Also wieder: Identität. Herkunft. Sumpf?

Ein junger Journalist schreibt, ohne nationale Identität zu leben sei ok.

Vielleicht hat er recht, auch hier mögen Menschen unterschiedlich ticken. Ohne die Betonung auf Herkunft zu leben, mag möglich sein, für einige, die zu den Privilegierten gehören. Die was anderes haben, mit dem sie sich identifizieren können. Die das hinter sich lassen können. Die Herkunft, die Familie, den Stamm. Die von außen nicht immer wieder darauf zurückgeworfen werden. Dann ist es leicht, zu sagen, das alles kann mich mal.

Wenn ich will, kann ich auch so leben. Unbeschwert. Mir sieht und hört man meine Herkunft nicht an. Ich kann aufgehen in dem Teig, in der hellhäutigen, akzentfrei Deutsch sprechenden Masse mit dem richtigen kulturellen Background. Mein Vorname? Gut, eine Laune der Eltern. Niemand fragt nach.

Wenn du aber dunkel bist, schrägstehende Augen hast oder gebrochen sprichst, kommst du nicht so leicht davon. Wenn du einen türkisch klingenden Namen hast, wirst du immer darauf angesprochen, immer ausgeschlossen. Mal mehr mal weniger. Das habe ich in einem Büro mal erlebt, in dem ich Aushilfe war. Beim Mittagessen musste sich Bülent andauernd Witze über Türken und Ausländer anhören und hat gegrinst, war nicht auf Konfrontation aus. Dabei war er studierter Volkswirt und hatte anderes zu bieten, als nur sein Türkischsein. Darauf sind die Kolleg*innen leider nicht eingegangen. Heller Rassismus mit leichter Tendenz zur Bösartigkeit. Er hat es stoisch ertragen. Aber es hat sicher Spuren in seiner Seelenlandschaft hinterlassen.
Ich blieb unerkannt. Damals bin ich mit meiner Herkunft nicht hausieren gegangen. Habe die Füße still gehalten, den Kopf eingezogen, um nicht ins Visier zu geraten. Vielleicht gut so.

In einem ZEIT Artikel (29.11.2018) über Aggressivität standen einige spannende Dinge zum Thema Anerkennung und Ausgrenzung:

Noch wichtiger als der Testosteron-Kreislauf sei für aggressives Verhalten „die Sehnsucht nach Anerkennung und Teilhabe. Sie ist eine der stärksten Triebfedern des Menschen überhaupt.“

Weiter steht hier:

„Ausgrenzung schmerzt. Diese Erkenntnis stelle den ‚Durchbruch im Verständnis der menschlichen Aggression‘ dar, sagt der Neurobiologe Joachim Bauer. Denn Schmerz ist einer derjenigen Reize, die am zuverlässigsten Aggression auslösen. Und das gilt nicht nur für körperliche Wunden, sondern auch für seelische. ‚Fehlende Zugehörigkeit zu einer Gruppe und Zurückweisung durch andere Menschen sind die stärksten und wichtigsten Aggressionsauslöser.‘“

Dann heißt es da noch, dass Jungen und Männer von der Demütigung, nicht dazuzugehören, am stärksten betroffen sind. Der Grund dafür liege in dem Idealbild, dass die Gesellschaft den Männern (und Jungen) aufzwingt.

„Wenn er der gängigen Erwartung nach besonders stark, autonom und dominant sein soll, schmerzen Geringschätzung oder Missachtung umso heftiger.“

Nun. Ich denke an all die Artikel der Neunziger und Zweitausender Jahre, die jungen Aussiedlern (ohne Gendersternchen diesmal!!!), die wild und aufsässig geworden sind, eine Nähe zu maffiösen Strukturen bescheinigt haben. Die sie als unzivilisierte Söhne der Steppe und als kulturell fremd diffamiert hatten. Sie wurden ausgegrenzt. Und haben aggressiv reagiert. Von wegen fremde Steppenvölker und ihre Unkultur!
Und jetzt stehen syrische und afghanische Männer an dieser Stelle.

Jetzt habe ich einen Schlenker in eine andere Richtung gemacht. Wut und Zugehörigkeit. Und kriege den Dreh zurück nicht mehr.

Macht nichts. Eigentlich gehört das alles doch zusammen.
Einerseits ist Identität und Zugehörigkeit etwas, das der Seele gut tut. Teilhabe, Integration in eine Gruppe, Frieden finden, sich selbst finden. Super Sache.

Andererseits kann es fatal sein. Ausgrenzend, demütigend. Für andere oder für dich, wenn sie dich ausgrenzen. Schmerzende Nichtdazugehörigkeit, die zu aggressivem Verhalten führt.

Diese Sache ist doppelbödig, ein zweischneidiges Schwert wie alles eigentlich. Ein Zuviel, ein zu starkes Festhalten an Herkunft und Gruppenzugehörigkeit kann Menschen zugrunde richten, blind machen. Aber ganz ohne zu leben, das schaffen nur wenige. Und selbst hier: ist es vielleicht eine Illusion, zu glauben, dass sie gut auskommen, ohne sich mit irgend einer Gruppe zu identifizieren. Und wenn es die Gruppe der absoluten Individualisten ist. Die auf sich auf ihre Weise alle gleichen.

Was mach ich jetzt damit? Ich meine, ich persönlich? Gedanken wälzen und versuchen, mich nicht zu sehr mit allen Aussiedlern und Aussiedlerinnen zu identifizieren? Wir haben viel gemeinsam. Uns berühren die gleichen Themen. Aber ich bin nicht = sie. Doch wenn ich mich mit ihnen befasse, komme ich nicht umhin, über solche Themen wie Identität, Herkunft und Ethnie nachzudenken. Und ringe darum, Worte dafür zu finden.

Ich gehöre über meine Familie zu den Deutschen aus Russland, ich habe es mir nicht selbst ausgesucht. Sie sind eine der Gruppen geworden, die mir am Herzen liegen. Weder gut noch böse. Einige aus dieser Gruppe finde ich ausgesprochen doof andere liegen mir, ticken wie ich. Total banal eigentlich. Aber ich darf diese einfache Erkenntnis nicht aus den Augen verlieren, sonst werd ich aggressiv! Und das gibt nur böses Blut…

Unser Lädchen

„Erschießen muss man dich, auf der Stelle erschießen!“, schreit Vater. Die Augen treten ihm fast aus seinem roten, verschwitzten Gesicht. Die wenigen Strähnen auf seiner Stirn sind ganz durcheinander und kleben schweißnass an der Kopfhaut. Er reißt Flasche für Flasche aus dem Regal und wirft sie mit einer Kraft auf den steinernen Fußboden des Supermarktes, die sie ihm nie zugetraut hätte. Eine süßlich riechende Lache übersät mit zahllosen Glasscherben breitet sich neben dem Regal aus. Sein neuer Hut liegt mitten in der Pfütze.

Melitta seufzt. Vielleicht hätte sie ihn doch zu Hause lassen sollen, als sie noch schnell los ist, um etwas für Silvester zu besorgen.

Dabei hat er schon seit heute Morgen so verloren und nervös gewirkt, dass sie dachte, es würde ihn auf andere Gedanken bringen, wenn er mit zum Einkaufen kommt. Morgen ist der 31. und natürlich hat sie noch nicht alles eingekauft. Sie ist eben nicht eine отличная хозяйка, eine perfekte Hausfrau, wie ihre Schwägerinnen, wie eigentlich alle in ihrem direkten Umfeld. Bei ihr jedenfalls bersten die Kühltruhen und Schränke nicht schon seit Tagen vor Lebensmitteln und es ist nicht alles bis auf die letzte kleine Erbse vorbereitet.

Außerdem hat sie gestern mit einem Blick in den Spirituosenschrank festgestellt, dass sie weder Schampanskoje noch Wodka-Flaschen haben, die noch nicht angebrochen sind. Seit sie in einer eigenen Wohnung leben, haben sie diese Schrankwand im Wohnzimmer mit einem verschließbaren Fach, extra für Wein und Knabberzeug. Früher in Krasnojarsk standen die Flaschen einfach oben auf dem Küchenschrank, sodass die Kinder da nicht drankamen. Oder sie standen nicht, sondern wurden von den Besuchern gleich mitgebracht, bevor sie geleert wurden. Im Winter hatten sie alles, was gekühlt werden musste auf dem Balkon deponiert, der mit seinen Glasfenstern und Sperrhölzern wie ein selbstgezimmerter Wintergarten aussah. Melitta erinnerte sich an all die Silvester, die sie damals gefeiert hatten, mit dreißig Leuten in der kleinen Zweizimmerwohnung. Das waren Feste gewesen! Sie blickt auf die zwei fast leeren Wodkaflaschen, die noch vom letzten Fest übrig geblieben sind und die Flasche mit georgischem Weißwein. Sie selbst trinkt diesen süßen Wein sehr gern und kann nicht verstehen, wie Menschen trockene Weine oder Bier runterkriegen können. Eigentlich wäre es Olegs Job, für den Alkohol an Silvester zu sorgen, aber seine Firma steckt gerade mitten in einem Umzug und er hat einfach nicht den Kopf frei dafür. Also wird sie sich darum kümmern müssen.

Dieses Jahr werden sie das Neujahr mit dem Vater verbringen. Die Kinder sind bei Freunden, sie und Oleg feiern zu Hause wie in den letzten Jahren zuvor mit Lida und ihrem Mann und mit Mischa, Olegs Kumpel, den er noch aus seiner Ausbildung kennt. Sie hat schon die meisten Zutaten für den Salat Olivier. Einen Venaigrette-Salat will sie auch noch zubereiten und Hering im Pelzmantel machen. Das übliche eben. Sie werden sich am frühen Abend ‚Ironie des Schicksals‘, den sowjetischen Silverster-Kultfilm von 1976 ansehen. Hoffentlich hat Olegs Vater da nichts gegen. Kann sein, dass er die Nase rümpft, denn der Film ist ja eine rein russische Tradition. Soll er doch. Sie kann ihm sein Neujahrsfest ja nicht so gestalten, als wäre er noch in seinem Dorf am Molotschna-Fluss. Nein, sie feiern so wie immer. Nach dem Essen wird Mischa seine Gitarre herausholen und sie singen einige Lieder von früher, auch auf Russisch. Und nach Mitternacht werden sie auf ihren Balkon treten, der ganz ohne die Verkleidungen auskam, und sich das Feuerwerk ansehen.

Ganz wichtig: gesüßte Kondensmilch.

Die anderen werden sicher auch die eine oder andere Flasche mitbringen, doch es geht nicht an, dass der Schrank komplett leer ist. Also fährt sie noch mal los zum Stadtrand, Schampanskoje und Wodka holen. Dort zwischen den Hochhäusern, direkt an der Zufahrtsstraße zur Autobahn, befindet sich Nascha Lawka (Unser Lädchen), eine Filiale der russischen Supermarktkette, wie es sie außerhalb der Zentren mittlerweile überall gibt. Malossoljnye Ogurzty, also nur ganz wenig gesalzene Gürkchen und Sprotten kann sie bei dieser Gelegenheit als Sakusski (Beisnacks zum Wodka) auch besorgen und vielleicht auch noch ein paar Süßigkeiten. Die nimmt sie eigentlich immer mit, wenn sie dort ist.

Sie lädt den Gehwagen in den Rover, hilft Vater beim Anziehen und dann fahren sie los. Wie zu erwarten ist der Supermarkt an diesem Tag unglaublich voll. Mit Vater im Schlepptau schiebt sie sich an den blumigen Tassen und dickbäuchigen Samowars vorbei, den Kühltruhen mit hausgemachten Pelmeni und russischen Wurtssorten, die würziger sind und noch fettreicher als die Würste hier.

Vater bleibt stehen, sie kann aus dem Augenwinkel beobachten, wie er sich eine DVD anschaut und den Kopf schüttelt. Diese Märkte bedienen eben nicht nur die kulinarische Nostalgie, sondern die Sehnsucht nach verlorener Alltagskultur. Sie führen populäre Filme, Romane und Hits aus Russland und der Sowjetunion in ihrem Sortiment. Aber die Lücke werden sie doch nicht füllen. Hier ist hier und dort ist dort. Ob mit ‚Wir Kinder vom Arbat‘ in voller Länge oder ohne.

Als ihre Mutter noch lebte, hat sie ihr in diesem Laden eins dieser bunten Blumentücher gekauft, die sie auch nach langen Jahren in Deutschland noch immer gern getragen hat. Oft ist sie nicht hier, man kriegte ja all die Sachen auch in normalen Geschäften. Und eine отличная хозяйка, die was auf sich hält macht eh alles selbst. Piroschki und Pelmeni, eingelegte Paprika und Kobra und setzt sogar Kwas aus Schwarzbrot in einem dafür vorgesehenen Gefäß an.

Nachdem sie die Gürkchen und die Sprotten in ihrem Einkaufkorb gelegt hat, nimmt sie Kurs auf die Spirituosenabteilung. Sie geht an den die Reihen mit aus der Föderation importierten Erzeugnissen vorbei und an Flaschen mit kyrillischen Buchstaben, die aus Brennereien auf deutschen Boden stammten. Geführt von Landsleuten, die sie nur für den europäischen Markt produzieren. Welcher war noch mal der gute Wodka? Dieser hier mit dem blaugrünen Etikett oder der daneben? Wenn Oleg über ihre Wahl meckern sollte, würde sie ihm sagen, dass er ihn das nächste mal doch bitte selbst besorgen könne…

Plötzlich horcht sie auf, hinter ihr zerbricht etwas. Sie duckt sich instinktiv und dreht sich um. Da steht Vater mit einer der Flaschen in der Hand und wirft sie mit voller Wucht zu Boden. Er ruft Dinge, die sie nur zum Teil verstehen kann, so aufgeregt und schrill ist seine Stimme. Sein Mund ist seltsam verzerrt.
„Bärtiger Despot! Da hast du, du Schwein!“
Krach, noch eine Flasche landet auf dem Boden.
„Nimm das, Satan!“
Noch eine.
So kennt sie ihn nicht. Sein Augen wirken gehetzt, nein, nicht gehetzt, geht es ihr durch den Kopf, sein Blick ist eher der eines verzweifelten Kindes. Derselbe Schmerz und dieselbe Hilflosigkeit wie bei allen Kindern in Kriegsgebieten.

„Vater, was haben Sie?“ Sie geht zu ihm hin. Nimmt ihm die Flasche aus der Hand. ‚Wodka Suliko‘ steht auf dem bunten Etikett. Und darüber, nicht weniger farbenfroh und in bester sowjetrealistischer Manier gepinselt, der lächelnde Iossif Wissarionowitsch Stalin selbst mit seinem prächtigen Schnurrbart.

Unter ihrer Berührung fällt der alte Mann in sich zusammen.
„Den Vater haben sie geholt,“ stammelt er in einem wimmernden Ton, „den Onkel haben sie geholt, den anderen Onkel auf der Stelle erschossen. Sein Sohn war keine zwei Jahre alt gewesen. Fort, alle fort.“ Er schüttelt sich und weint unhörbar.

Sie versucht, ihn zu beruhigen. Die anderen Kunden sind längst näher gekommen, einige zücken schon ihre Handys. Auch die Kassiererinnen oder Verkäuferinnen kommen angerannt, trauen sich aber nicht näher an den Tobenden heran. Bis auf eine besonders dralle, besonders energische Frau in weißem Ladenkittel, die sich durch die Menge schiebt.

„Was ist denn das hier für ein Chaos? Was zum Teufel machen Sie denn da?“, dröhnt sie auf Russisch, „Sind Sie verrückt? Er gehört eingesperrt!“

„Nein, er nicht, aber Sie, wenn sie sowas hier in die Regale stellen“, sagt Melitta betont auf Deutsch und drückt der Frau die Flasche Stalin-Wodka in die Hand. Sie nimmt den Vater beim Ellenbogen, hebt seinen Hut vom Boden auf und will sich mit ihm an den Leuten vorbei schieben.

Aber die üppige Blondine ist noch nicht fertig, kehlig und mit dem Befehlston eines Natschalniks ruft sie:

„Warten Sie, Женщина (meine Dame, gute Frau), nicht so eilig. Wir müssen erst ihre Personalien aufnehmen. Sie müssen das alles bezahlen! Was glauben Sie denn, das wird noch Konsequenzen haben!“
„Das wird es,“ sagt Melitta mit der sachlichsten Stimme, die ihr in diesem Moment zur Verfügung steht und zieht ihre Visitenkarte aus der Seitentasche, „Meine Tochter ist Juristin, wir werden Sie verklagen. Sie… Ihr Chef wird sich dafür noch zu verantworten haben. Sie hören von uns, verlassen Sie sich drauf. Kommen Sie, Vater. Alles gut, es ist vorbei.“ Und sie führt den alten Mann vorsichtig zum Ausgang, den Gehwagen mit der anderen Hand schiebend. „Fort, alle fort“, stammelt der nur apathisch vor sich hin. Den Einkaufskorb lässt Melitta einfach in der Wodka-Lache stehen. Nun, dann werden sie dieses Jahr eben auf die wenig gesalzenen Gürkchen verzichten müssen.

Hier und Dort. Zwei Kindheiten.

‚Kindheitsverläufe in Systemen, wie sie unterschiedlicher nicht sein können, dort das stalinistische und nachstalinistische Sowjetregime und hier das Nachkriegsdeutschland unter Adenauer. Verliefen die Kindheiten dadurch wirklich so unterschiedlich oder gab es auch Gemeinsamkeiten? Machen Sie sich in den Erzählungen ein eigenes Bild.‘

Oberflächliche Gemeinsamkeit der damaligen Bilder: Schwarz-Weiß; Foto: Vitaliano Bosetti.

So lautet der Klappentext zum Buch „Kindheiten in Deutschland und Russland“. Zwei Bonner Autorinnen, Monika Mannel und Agnes Gossen haben es gemeinsam geschrieben. Der Vergleich ist spannend. Unbeschwert waren beide Kindheiten nicht. Beide werden von Armut und Entbehrungen überschattet.

Dies hier ist keine Rezension im eigentlichen Sinne. Ich habe bloß über die Unterschiede zwischen den beiden Kindheiten nachgedacht. Ich habe bloß die Aufforderung im Klappentext zum Anlass genommen und angefangen, mir ein eigenes Bild zu machen. Die Publizistin Rose Steinmark hat eine richtige Buchbesprechung dazu verfasst, wer mag, kann sie hier nachlesen.

Zwei Autorinnen, ungefähr die selbe Zeit – sie wachsen in den Fünfziger-Jahren auf – die eine im Bonner Umland, die andere im Ural. Doch der Klappentext beschreibt den Unterschied nicht annähernd. Agnes Gossen spricht ja nicht nur über eine typische Kindheit im Sowjetregime. Nicht wenn das Kind zu einer unterdrückten Minderheit gehört und in einen Verbannungsort aufgewachsen ist.

Kindheit im Ural: Agnes auf dem Schoß der Mutter, links

Berichte über russlanddeutsche Kindheiten gibt es viele, aber in diesem Buch ist es gerade der Vergleich, der die Lektüre lohnenswert macht. Und wie gesagt, bei all den Gemeinsamkeiten, die Unterschiede sind doch augenfällig.

Was ist gemeinsam? Die Nachkriegszeit, der Armut, sogar der Dialekt, auf der einen Seite das Platt der Mennoniten, auf der anderen die Bonner Mundart. Es geht zwar immer wieder ums Überleben. Der Mangel, die Nahrung, Heizmaterialien spielen in fast allen Geschichten eine erhebliche Rolle. Briketts auf der einen und Maiskolben oder Stroh auf der anderen Seite.

Während Monika Mannel kleine Episoden schildert, die aus ihrer damaligen Mädchenperspektive eine überschaubare Kinderwelt zeigen, und alle Beteiligten im breitesten Bönnsch parlieren lässt, gehen die Geschichten von Agnes Gossen immer wieder über sie als Person hinaus.
Sie bindet sich ein in die Schar der Großtanten, die ausgewandert sind, die Anzahl der Männer in der Familie, die verbannt oder erschossen wurden. Auch ein Erlebnis mit dem Puppenwagen gehört eher in die Kindheit ihrer Mutter als in ihre eigene. Es sind nicht nur die eigenen Streiche und Erlebnisse, sondern Geschichten, die lange vor ihrer Geburt geschehen sind, Familienlegenden, die weitergetragen werden. Teilweise handeln sie von Leuten, die sie nicht selbst kennengelernt hat, die aber in der Familie noch immer eine Rolle spielen.

Sie ist sich immer der anderen bewusst und schleppt einen ganzen Stammbaum mit sich herum. Doch das ist nicht der einzige Unterschied in den Erzählweisen.

Zwar gibt es bei den Kindern der Verbannten auch Kinderstreiche. Da wird eine verbotene Frucht aus dem Garten geklaut,  da wird auf Bäume geklettert und sich auf die erste Klasse gefreut. Doch die Eltern, die Erwachsenen werden nicht infrage gestellt. Das geht auch nicht, immer steht im Raum,  dass diese durch ein schweres Schicksal gegangen sind. Es gibt kaum Abgrenzung zu der vorhergehenden Generation, keine Abnabelung oder Trotz ihr gegenüber. (Zumindest werden sie in dieser Phase der Kindheit nicht spürbar.)

Traumatisierte werden nicht kritisiert oder infrage gestellt. Gegen Eltern, die so gelitten haben, kann es keine irgendwie geartete Auflehnung geben.
Wie denn, wenn du sie nicht böse anblicken kannst, ohne dass sie in Tränen ausbrechen. Wenn die Oberfläche so dünn ist und darunter gleich der Abgrund gähnt? Das spüren Kinder.

Diese Kindergeneration hat gelernt, auf die Eltern einzugehen, sie zu schonen, ihre Gedanken weiterzuspinnen und zum Teil auch für sie das Leben zu organisieren.

In den Geschichten von Monika Mannel nimmt das Kind dagegen eine eher distanzierte Haltung den Erwachsenen gegenüber ein, es gibt die strenge Mutter, die dicke Hausnäherin.

Tante Cordula watschelte und schnaufte beim Laufen. Wenn Mutter uns dabei erwischte, wie wir hinter Tante Cordulas Rücken lachten, dann gab es Ohrfeigen. Also hielten wir Kinder uns im Beisein der Erwachsenen zurück. War Tante Cordula abends auf dem Rückweg, so überlegten Hans, Lisa und ich, wie lange es noch dauern würde, bis sie platzte und das Fett aus ihr herauslaufen würde. S 67

Freche Kindergedanken, Streiche. Wir gegen sie. Obwohl auch hier ein großer Einschnitt hinter ihnen liegt: der Krieg.

Dennoch fehlen solche Freveltaten auf der Ural-Seite. Wie kann sich ein Kind über Erwachsene lustig machen, die durch die Hölle gegangen sind? Die sich und ihr Leben und ihre Gesundheit aufopfern, um noch ein wenig Normalität und Behaglichkeit zu schaffen.

Gewiss, nicht alle waren und sind so. Aber diejenigen, die bei wie auch immer traumatisierten Eltern aufgewachsen sind, werden diese Sätze nachvollziehen können. Die Bande zur Familie auch zu der Eltern-/Großelterngeneration sind sehr stark. Es ist nicht nur die Erziehung, die sie prägen, sondern auch die Umstände. Kinder von Verbannten eskalieren nicht, machen keine Szenen. Denke ich zumindest.

Es heißt in anderen Texten oft, dass in Aussiedler-Familien Konflikte kaum ausgetragen würden. Die Position des einzelnen wird geopfert zugunsten einer fragwürdigen Harmonie. Vielleicht liegt einer der Gründe darin begründet. Womöglich macht diese besondere Verbindung der Kinder zu ihren Eltern einen Teil der Mentalität aus.

es braucht so wenig für ein Kinderlachen….

Auf den ersten Blick wirken die Lebensläufe ähnlich, die beiden Autorinnen sind ungefähr ein Jahrgang. Es sind nur wenige Jahre, die sie trennen. Und doch kommen mir die Kindheiten so verschieden vor, als stammten sie aus zwei verschiedenen Zeitaltern.

Noch etwas, das ins Auge fällt. Auch wenn Kinder überall Kindersachen machen, wie auf Bäume klettern zum Beispiel. Die Welt von damals ist vollständig verschwunden. Es gibt keine Kontinuität zu heute. Was mich berührt. Die Dinge, die Szenen, die Gespräche aus beiden Kindheiten sind heute nicht aufzufinden. Die Strenge oder die Armut beispielsweise. Und wenn es sie heute gibt, dann zeigen sie sich auf andere Weise. Damals waren die Vergnügungen rar und müssen von den Kindern selbst kreiert werden. Unvorstellbar im Zeitalter der digitalen Spielkameraden und Unterhalter.

Apropos Kontinuität. Eine andere Sache ist wohl mehr als erstaunlich. Die Wege, die ein Gebäck zurücklegen kann. Oder seine Zubereitung.

In der letzten Geschichte beschreibt Agnes Gossen, wie sie in Bonn ein Gebäck wiederentdeckt, dass sie aus ihrer Kindheit im Ural kennt, das sogenannte Tweeback.  So wird uns die wundersame Reise vor Augen geführt, die ein Backrezept nehmen kann. Von den vertriebenen Hugenotten in ein preußisches Dorf bei Danzig gebracht, dort von den aus den Niederlanden angesiedelten Mennoniten aufgegriffen und bis in die Gegenden hinter den Ural mitgenommen, wo es die Mutter der Autorin traditionsgemäß immer Samstags gebacken hatte.

Plattdütsches Tweeback nach einem alten hugenottischen Rezept

Um dann in Bonn, in einer französichen Bäckerei als Brioche von ihr wiederentdeckt zu werden. Die Reise eines Kuchenrezeptes um die Welt. Auch das ist Kultur. Mich erinnert die Episode ein wenig an die Madeleines von Marcels Proust, auch hier geht es um ein Wiederaufflackern der Vergangenheit. Allerdings auf eine ganz andere Weise. Genauso und doch anders.

So weite Wege, so unterschiedliche Erlebniswelten. So verschiedene Kindheiten. Oder doch nicht? Doch wie schon der Klappentext nahelegt: Verliefen die Kindheiten dadurch wirklich so unterschiedlich oder gab es auch Gemeinsamkeiten? Machen Sie sich in den Erzählungen ein eigenes Bild.

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Wer mehr über das Buch „Kindheiten in Deutschland und Russland“ nachlesen möchte, die Publizistin Rose Steinmark hat eine sehr schöne Rezension dazu verfasst.

Monika J. Mannel und Agnes Gossen
Kindheiten in Deutschland und Russland
Geestverlag 2018, 184 Seiten, 12,50 Euro
ISBN 978- 3-86 685-666-0

In der Opferrolle – Der Thriller ‚Auf einmal‘ von Asli Özge

In Asli Özges Thriller von 2016 ist das Opfer eine Russlanddeutsche.

Nach einer Party bleibt Anna allein mit dem Gastgeber zurück. Sie rauchen gemeinsam auf dem Balkon, küssen sich. Auf einmal geht es der jungen Frau nicht gut. Sie fällt wie leblos hin. Karsten, der Gastgeber der Party, läuft in Panik zu einer nahegelegenen Klinik, doch diese ist geschlossen. Er hastet zurück, ruft den Notdienst, doch es ist bereits zu spät. Anna ist tot.

Natalia Belitski, die unter anderem eine Hauptrolle in dem Film Poka -heißt Tschüss auf Russisch zu sehen war, spielt hier die kurze aber prägnante Rolle der Anna. Sie lacht auf, sie hustet hinter vorgehaltener Hand – wir hören sie kein einziges Mal auch nur ein Wort sprechen in den 3 bis 4 Minuten, die ihr Auftritt dauert.

Ein Kunstgriff der Regisseurin. Ich wusste, bevor ich den Film sah, dass sie aus Russland kommt. Daher habe ich den Film angeschaut. Aber die anderen Zuschauer*innen werden anfangs darüber im Unklaren gelassen. Erst allmählich kristallisieren sich Dinge heraus. Dass sie sich selbst auf die Party eingeschlichen hatte, dass sie im Grunde niemand kannte, dass sie eine Deutsche aus Russland war, die einen Mann und ein kleines Kind hatte.

Die ganzen Ungereimtheiten und Unwahrscheinlichkeiten des Falles, der Prozess und der Verdacht, er wäre für ihren plötzlichen Tod verantwortlich, brechen dem Protagonisten Karsten (Sebastian Hülk) fast den Hals. Sie kosten ihn fast seine Stellung und seine Freunde. Auch Laura, die Frau mit der er zusammenlebt und die zum fraglichen Zeitpunkt auf Geschäftsreise war, kommt mit der Situation nicht klar.

Natalia Belitski als Anna. Als alle Gäste gegangen sind, stirbt sie ohne ersichtlichen Grund. Was ist da passiert?

Im Grunde geht es aber weniger um die Familie und Umfeld des Opfers – die sind austauschbar. Es hätte jede Gruppe sein können, die zugewandert ist, in prekären Verhältnissen lebt, in der die Strukturen patriarchal bestimmt sind und die Frauen früh heiraten und Kinder bekommen.

Der Film ist also keine Studie über Russlanddeutsche, sondern zeichnet ein genaues Panorama einer bestimmten Gesellschaftsschicht in einer unbestimmten deutschen Kleinstadt wenn ein undurchsichtiges und krisenhaftes Ereignis eintritt.

Dieses kustvolle Werk wird langsam erzählt, die Musik sparsam eingesetzt, die Bilder sind intensiv. Oft bestimmt bedrückendes Schweigen die Szenerie. Altena, die Kleinstadt, in der dieser Film situiert ist, mit den hügeligen und herbstlich gefärbten Wäldern, spielt mindestens eine ebenso  eindrückliche Rolle darin wie die menschlichen Darstellerinnen und Darsteller. Der Thriller entspricht nicht dem bekannten Tatort-Schema: Leiche, Suche, Aufklärung. Es taucht auch kein einziger Kommissar auf! In Feuilletons und auf Festivals wurde Auf einmal hoch gelobt. Wahrscheinlich dient er nicht dazu, den Krimi-Allerweltsgeschmack zu bedienen. Zu sperrig. Zu detailversponnen. Es passiert zu viel auf der psychologischen Ebene. Arthouse eben.

Mich hat er vor allem wegen seiner Darstellung der Russlanddeutschen gereizt.

Seine Versuche, Russisch zu vernuscheln zeigen deutlich, dass Sascha Alexander Geršak, der den Eheman der Toten spielt, kein echter Russlanddeutscher ist. Dennoch kommt er in der Rolle als Fabrikarbeiter Andrej ganz authentisch rüber, als Karsten ihn in seiner rumpeligen Wohnung am Rande von Schloten und Fabriksilohs besucht.

Karsten: Ich hab gar nicht gewusst, dass Anna aus Russland ist. Man hats überhaupt nicht mehr gehört.

Andrej: Anna hat sich immer große Mühe gegeben, um den Akzent loszuwerden. Als sie nach Deutschland kamen, haben sich ihre Klassenkameraden immer lustig über sie gemacht.

K: Und Sie? Sind Sie später hierher gekommen?

A: Wieso?

K: Naja, weil bei Ihnen merkt man irgendwie gleich, dass Sie nicht von hier sind.

A: Bist du von der Ausländerbehörde oder was?

Zugegeben, diese Reaktion und dieser Begriff könnte original von einem stammen, der türkische oder kroatische oder albanische Wurzeln hat. Ein Deutscher aus Russland würde sich an dieser Stelle wahrscheinlich auf seinen Stammbaum und die in der Sowjetzeit verbotene Muttersprache berufen. Dennoch werden die RD hier nicht klischeehaft überzeichnet sondern respektvoll  und ein wenig aus der Distanz dargestellt. Aber eben als im Elend hausende Underdogs. Wie gesagt, wichtig ist im Film die Mehrheitsgesellschaft und die Kritik an ihr. Özge wurde in Istambul geboren und lebt schon lange in Berlin, hat also selbst Migrationshintergrund und gehört hier einer Minderheit an. Ihr Blick auf die Mehrheitsgesellschaft ist schonungslos und sehr genau.

Szenen wie das Abendessen bei Karstens Eltern sprechen Bände.

Im April lief der Film auf ARTE, er hat wie gesagt, im Feuilleton und auf Festivals ganz gute Kritiken eingeheimst. Das Drehbuch basiert übrigens auf einem Fall, der sich vor einigen Jahren in Wirklichkeit abgespielt hat. Eine junge Frau verstarb 2008 aus unerklärlichen Gründen auf einem Fest unter nicht geklärten Umständen und ohne Anzeichen von Gewalt – sie hatte aber türkische Wurzeln.

Meine übliche Kritik, dass Russlanddeutsche in der deutschen Gesellschaft/den Medien nicht vorkommen und wenn, dann nur negativ konnotiert als AfDler oder Maffiosi, bewahrheitet sich also nicht mehr. Ich will später noch andere Romane oder Filme vorstellen, die von Nicht-Russlanddeutschen geschaffen wurden und in denen diese Gruppe eine Rolle spielt. Hoffentlich nicht immer die des Opfers.

The Trailer: https://www.youtube.com/watch?v=qwBFXi8hlYc

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