Unter die Haut

… oder

Hasch mich ich bin der Mörder!

Was passiert, wenn man sich mit der bloßen Haut auf ein feines Gitter legt? Dann gibt es einen Abdruck, eine Prägung. Sie schneidet manchmal ein. Nach Stunden verschwindet sie. Normalerweise.

Und was ist mit einer Zuschreibung, der du immer und immer wieder ausgesetzt bist? Über Jahre, über Generationen?

Irgendwas von dieser Struktur geht dann doch unter die Haut, setzt sich fest.

Das ist, was die Leute hier verwechseln, wenn sie empört ausrufen, oder in die Kommentarspalten schreiben, viele Deutsch-Russen sind Rechtsextreme.

Einige sicher. Kein Volk, keine Gruppe bleibt in unserer Zeit von diesen braunen Gesinnungsgenossen verschont.

Doch. Warum klebt es an uns, wie Pech? Es gibt fließende Übergänge. Heimatliebe führt nicht immer zu Ausgrenzung.

Aber kann es durchaus. Falschverstandener Patriotismus, fehlgeleiteter Patriotismus. Falsch verstandene Betonung des Deutschtums, die in Ethnoreinheitsphantasien mündet.

Kann durchaus vorkommen, wenn du nicht aufpasst.

Doch. Wieso denken alle, die DaR sind besonders anfällig dafür? (Mag vielleicht daran liegen, dass Gruppen wie DaR für AfD eine besonders laute PR-Maschinerie am laufen haben? Oder es einfach opportun ist, nur über diese Gruppierungen zu berichten.)

Alle schreien nach einem nicht schwarz-weißen Denken. Nur hier verlässt sie plötzlich die Fähigkeit zu differenzieren.

Zugegeben. Viele Deutsche aus Russland haben ein Thema mit Heimat, Identität und Deutschsein. Sie zelebrieren ihr Deutschsein zuweilen auf extreme Weise. Mit alten Volksweisen und dirndlartigen Kleidchen. Oft mag das fremd und übertrieben wirken, aber es hat historische Gründe, steht alles in den Geschichtsbüchern.

Scherz.

Steht natürlich nicht dort. Denn außer der Leute vom Institut für digitalen Lernen mit ihren mBooks, hat sich keiner bis jetzt die Mühe gemacht, unsere Geschichte für die Schule aufzuarbeiten.

Wozu Unkenntnis und Unwissenheit führt, auch die der eigenen Geschichte, wissen wir ja…

Aber in vielen Quellen im Internet steht was dazu. Die muss man sich nur mühsam zusammensuchen.

Heimat und Deutschsein ist unser Thema. Aber macht es uns alle zu rechten Extremisten?

Wieso gewinnen die Leute den Eindruck, wir wären alle so? Das wird den DaR vorgeworfen, wenn sie betonen, wir sind doch Deutsche und stolz darauf. Dann denken hiesige Liberale gleich, Achtung, braune Gesinnung.

Ja, das kann, muss aber nicht sein.

Es kann mit der Prägung zusammenhängen. Siehe Vergleich mit dem Gitter. Eine Prägung, die dir als Deutschen in Russland zwangsläufig aufgedrückt wird. Nicht zu unterschätzen, was das mit Menschen macht.

Eigentlich ein spannendes Forschungsthema.

Wenn du also als verhasste, verschwiegene, unterdrückte Minderheit irgendwo lebst, im Schlimmsten Fall in einem Land, wo die deinigen als Feinde betrachtet werden, wo den Leuten als erstes „Heil Hitler“ und „Hände Hoch“ einfällt, wenn sie nach deutschen Wörtern gefragt werden, dann kann man sich vorstellen, wie diese Prägung ausfallen kann.

Dann bleibt es an dir hängen. Deine persönliche Identität wird von diesen Zuschreibungen geprägt. Das legt sich nicht so einfach ab. Nicht innerhalb von einer Generation.

Ein Freund hatte sich in Russland gut eingerichtet. Hatte nicht vor auszureisen. Mit einem deutschen Namen konnte er studieren und sich eine Existenz aufbauen. Bis, das war wohl schon in den 90ern, sein kleiner Sohn vom Spielen heimkam und sagte: Papa, bin ich ein Faschist? Warum?

Das hat ihm sein bester Freund gesteckt. Ein Junge, der eingentlich aus einer modernen, aufgekärten Familie kam.

Unausrottbar, solche Vorurteile.
Das war der Moment, in dem die Familie die Koffer für die Ausreise in den Westen gepackt hatte.

Bis heute existieren in Russland diese Zuschreibungen. Zumal noch immer unbekannt ist, warum die Deutschen nach Russland kamen, wann, was mit ihnen passiert ist.

Wenn Russen und Russinnen auf der Straße gefragt werden, wie die Deutschen nach Russland kamen, sagen noch immer viele, na die kamen um zu studieren, sie kamen zu Besuch und sind geblieben.

Was für ein Hohn. Zu Besuch!

Viele auf beiden Seiten glauben noch immer, dass es die Nachkommen deutscher Kriegsgefangener sind,  die  Gebiete im Altai und um Omskherum bevölkern.

Chände Choch!

Der Abdruck Faschist wird nicht so leicht verschwinden. Auch mit mehr Informationspolitik nicht. Zuschreibungen sind hartnäckig.

Wie sind die Deutschen in der Sowjetunion damit umgegangen?

Sie haben es umgeformt, aus dem Negativabdruck, aus dem einschneidenden Gittermuster auf der Haut etwas Positives gemacht. Strudel und alte Lieder, Traditionen und die Liebe zu einer Landschaft, die kaum einer von den Sowjetdeutschen je zu Gesicht bekommen hatte. Ein Schutzmechanismus, der sich nun gegen sie wendet.

Pech, dass in der Zwischenzeit, in den 70 Jahren, in Deutschland eine andere Entwicklung stattgefunden hat. Eine folgerichtige und notwendige. Doch nicht gerade eine günstige für die Heimkehrer.

Deutsch-Russen sind Rechtsextreme. Sie wollen auf Teufel komm raus Deutsche sein. So ist nun die Vereinbarung. Warum das so ist, was für Schicksalswege dahinter stehen, danach fragt keiner.

Und wir?

Schweigen. Was sollen wir denn tun. Schweigen, uns ducken, denn das können wir. Bloß nicht auffallen. Das kann böse enden.

Einer schreibt in den Kommentaren etwas zum Fall LISA:

RT Deutsch war eine der ersten Verkünder, wenn nicht der erste Verkünder! Auch ein Jahr später, war es noch bei RT Deutsch zu finden, was direkten Draht zum Kreml hat! Das ist so! Bei den Deutsch-Russen gibt es viele Rechtsextreme!

Diese beiden Verbindungen, Kreml und Rechtsextremismus kleben hier an uns. So wie Faschismus und Verrat an der Sowjetunion dort an uns geklebt haben. Das ist Pech.

Pech, das brennt wenns heiß ist, es brennt es sich ein, lässt sich nicht abwaschen.

Und was tun wir?  Wir regen uns darüber auf, dass uns die Leute und die Medien hier Deutsch-Russen nennen. Ist doch nur ein Wort mit Bindestrich. Hab dich nicht so!

Sind wir deshalb schon rechtsextrem?

Die Wahrheit liegt in den Schatten. In den Schattierungen.  Wie immer. Die freundlichen, offenen weltzugewandten unter uns werden nicht gesehen. Nur die aus voller Kehle rufen: die bringen uns die Messerstecher-Kultur ins Land. Volksaustauch!

Leichen im Keller – auf kreative Weise entsorgt. Oder auch nicht.

In einem Radiointerview, das kürzlich beim WDR lief, hat Luise Reddemann, eine Therapeutin, die sich seit langem mit Traumata beschäftigt, etwas sehr Kluges gesagt.

Die Ablehnung der Geflüchteten, basiere manchmal, nicht immer, aber manchmal, darauf, dass die Leute sich an ihre eigenen verdrängten Fluchterfahrungen und Diskriminierungserfahrungen erinnert fühlen.

Das Verdrängte zeigt sich im Gesicht der Fremden, die in Booten übers Mittelmeer kommen.

Und weils schmerzlich und verhasst ist, weil die Erinnerung nicht gewollt wird, werden negative Gefühle auf die fremden Menschen übertragen. Wut, Schmerz, Angst. Die ganze Palette.

Sie meinte nicht die DaR, aber es lässt sich sehr gut übertragen.

Oft stand in den Kommentaren in letzter Zeit: Aber die DaR kamen doch selbst als Fremde, warum verhalten sie sich so aggressiv gegen die Neuankömmlinge? (Wobei sich viele im Dialog der Kulturen engagieren, das darf nicht vergessen werden.)

Was die Therapeutin genannt hat, das mag nur ein kleiner Erklärungsversuch sein und deckt nicht alles ab. Aber er kommt mir schlüssig vor.

Denn sich mit dem Trauma befassen, das haben unsere Alten weder dort noch hier gelernt. Das weisen gerade die ab, die es am meisten brauchen. Sie sind schnell gekränkt und fertig. Verlagern die Probleme.

Es ist verjährt. Der alte Schmerz ist wie ein Kadaver, der 70 Jahre hinterm Sofa vor sich hin fault. Wer will sich damit abgeben? Zu spät.

„Begrabt die alte Gram doch endlich!“, möchte man ihnen zurufen.

Aber weil das Schweigen so lang darüber ausgebreitet war, weil es nicht sein durfte, dass sie Opfer waren, geht das nicht. Es ist kein Abschluss da. Noch nicht mal ein Anfang!
Im Osten nicht, noch immer nicht, und im Westen schon gar nicht. So taucht die Leiche immer wieder auf.

Lässt sich nicht unters Sofa schieben, sie lässt sich noch nicht mal in eine Statue eingipsen oder unter dem Pavillon begraben, wie in diesem Louis-de-Funes-Film.

Wohin damit?

Wir sind Opfer gewesen!

Nein!

Doch!

Oh!

Sorry, verjährt, sorry, uninteressant. Schaut nach vorne, lasst das Alte sein!

Solche Stimmen gibt es. Klar.

Aber sich dann wundern, wie viele von uns austicken, wie viele gegen andere agitieren, wie die Wut einzelne überflutet und sie blindwütig und gewalttätig werden.

Nein!

Doch!

Ohhh!

Naja, vielleicht lässt sich das Unliebsame, das Rechtsextreme, das Scherliche doch unter dem weißen Sofa verstecken. Es muss nur groß genug sein…

Was nicht vollständig erklärt, dass es hin und wieder doch rechtsextreme und völkische Gedanken unter den Deutschen aus Russland gibt. Aber sie sind mir ebenso fremd wie die der hiesigen Nazis.

Doch zum Glück, muss ich mir für deren Motivation nicht auch noch Erklärungen suchen.

In der Opferrolle – Der Thriller ‚Auf einmal‘ von Asli Özge

In Asli Özges Thriller von 2016 ist das Opfer eine Russlanddeutsche.

Nach einer Party bleibt Anna allein mit dem Gastgeber zurück. Sie rauchen gemeinsam auf dem Balkon, küssen sich. Auf einmal geht es der jungen Frau nicht gut. Sie fällt wie leblos hin. Karsten, der Gastgeber der Party, läuft in Panik zu einer nahegelegenen Klinik, doch diese ist geschlossen. Er hastet zurück, ruft den Notdienst, doch es ist bereits zu spät. Anna ist tot.

Natalia Belitski, die unter anderem eine Hauptrolle in dem Film Poka -heißt Tschüss auf Russisch zu sehen war, spielt hier die kurze aber prägnante Rolle der Anna. Sie lacht auf, sie hustet hinter vorgehaltener Hand – wir hören sie kein einziges Mal auch nur ein Wort sprechen in den 3 bis 4 Minuten, die ihr Auftritt dauert.

Ein Kunstgriff der Regisseurin. Ich wusste, bevor ich den Film sah, dass sie aus Russland kommt. Daher habe ich den Film angeschaut. Aber die anderen Zuschauer*innen werden anfangs darüber im Unklaren gelassen. Erst allmählich kristallisieren sich Dinge heraus. Dass sie sich selbst auf die Party eingeschlichen hatte, dass sie im Grunde niemand kannte, dass sie eine Deutsche aus Russland war, die einen Mann und ein kleines Kind hatte.

Die ganzen Ungereimtheiten und Unwahrscheinlichkeiten des Falles, der Prozess und der Verdacht, er wäre für ihren plötzlichen Tod verantwortlich, brechen dem Protagonisten Karsten (Sebastian Hülk) fast den Hals. Sie kosten ihn fast seine Stellung und seine Freunde. Auch Laura, die Frau mit der er zusammenlebt und die zum fraglichen Zeitpunkt auf Geschäftsreise war, kommt mit der Situation nicht klar.

Natalia Belitski als Anna. Als alle Gäste gegangen sind, stirbt sie ohne ersichtlichen Grund. Was ist da passiert?

Im Grunde geht es aber weniger um die Familie und Umfeld des Opfers – die sind austauschbar. Es hätte jede Gruppe sein können, die zugewandert ist, in prekären Verhältnissen lebt, in der die Strukturen patriarchal bestimmt sind und die Frauen früh heiraten und Kinder bekommen.

Der Film ist also keine Studie über Russlanddeutsche, sondern zeichnet ein genaues Panorama einer bestimmten Gesellschaftsschicht in einer unbestimmten deutschen Kleinstadt wenn ein undurchsichtiges und krisenhaftes Ereignis eintritt.

Dieses kustvolle Werk wird langsam erzählt, die Musik sparsam eingesetzt, die Bilder sind intensiv. Oft bestimmt bedrückendes Schweigen die Szenerie. Altena, die Kleinstadt, in der dieser Film situiert ist, mit den hügeligen und herbstlich gefärbten Wäldern, spielt mindestens eine ebenso  eindrückliche Rolle darin wie die menschlichen Darstellerinnen und Darsteller. Der Thriller entspricht nicht dem bekannten Tatort-Schema: Leiche, Suche, Aufklärung. Es taucht auch kein einziger Kommissar auf! In Feuilletons und auf Festivals wurde Auf einmal hoch gelobt. Wahrscheinlich dient er nicht dazu, den Krimi-Allerweltsgeschmack zu bedienen. Zu sperrig. Zu detailversponnen. Es passiert zu viel auf der psychologischen Ebene. Arthouse eben.

Mich hat er vor allem wegen seiner Darstellung der Russlanddeutschen gereizt.

Seine Versuche, Russisch zu vernuscheln zeigen deutlich, dass Sascha Alexander Geršak, der den Eheman der Toten spielt, kein echter Russlanddeutscher ist. Dennoch kommt er in der Rolle als Fabrikarbeiter Andrej ganz authentisch rüber, als Karsten ihn in seiner rumpeligen Wohnung am Rande von Schloten und Fabriksilohs besucht.

Karsten: Ich hab gar nicht gewusst, dass Anna aus Russland ist. Man hats überhaupt nicht mehr gehört.

Andrej: Anna hat sich immer große Mühe gegeben, um den Akzent loszuwerden. Als sie nach Deutschland kamen, haben sich ihre Klassenkameraden immer lustig über sie gemacht.

K: Und Sie? Sind Sie später hierher gekommen?

A: Wieso?

K: Naja, weil bei Ihnen merkt man irgendwie gleich, dass Sie nicht von hier sind.

A: Bist du von der Ausländerbehörde oder was?

Zugegeben, diese Reaktion und dieser Begriff könnte original von einem stammen, der türkische oder kroatische oder albanische Wurzeln hat. Ein Deutscher aus Russland würde sich an dieser Stelle wahrscheinlich auf seinen Stammbaum und die in der Sowjetzeit verbotene Muttersprache berufen. Dennoch werden die RD hier nicht klischeehaft überzeichnet sondern respektvoll  und ein wenig aus der Distanz dargestellt. Aber eben als im Elend hausende Underdogs. Wie gesagt, wichtig ist im Film die Mehrheitsgesellschaft und die Kritik an ihr. Özge wurde in Istambul geboren und lebt schon lange in Berlin, hat also selbst Migrationshintergrund und gehört hier einer Minderheit an. Ihr Blick auf die Mehrheitsgesellschaft ist schonungslos und sehr genau.

Szenen wie das Abendessen bei Karstens Eltern sprechen Bände.

Im April lief der Film auf ARTE, er hat wie gesagt, im Feuilleton und auf Festivals ganz gute Kritiken eingeheimst. Das Drehbuch basiert übrigens auf einem Fall, der sich vor einigen Jahren in Wirklichkeit abgespielt hat. Eine junge Frau verstarb 2008 aus unerklärlichen Gründen auf einem Fest unter nicht geklärten Umständen und ohne Anzeichen von Gewalt – sie hatte aber türkische Wurzeln.

Meine übliche Kritik, dass Russlanddeutsche in der deutschen Gesellschaft/den Medien nicht vorkommen und wenn, dann nur negativ konnotiert als AfDler oder Maffiosi, bewahrheitet sich also nicht mehr. Ich will später noch andere Romane oder Filme vorstellen, die von Nicht-Russlanddeutschen geschaffen wurden und in denen diese Gruppe eine Rolle spielt. Hoffentlich nicht immer die des Opfers.

The Trailer: https://www.youtube.com/watch?v=qwBFXi8hlYc

#Luenen.Nur.Ein.Einzelfall.

 

Am Morgen danach kommt die Meldung gleich an zweiter Stelle in den Nachrichten. Nach dem Bericht über den Einmarsch von Erdogans Truppen in kurdische Gebiete in Syrien. Mit Leopard-Panzern aus deutscher Produktion übrigens.

Lünen. Wo sonst über Kabul, Berlin und Los Angeles berichtet wird.

Es heißt: an einer Gesamtschule in Lünen habe ein Jugendlicher einen anderen erstochen. Der 15-jährige Angreifer galt als aggressiv und „unbeschulbar“. Er war mit seiner Mutter an die Käthe-Kollwitz-Schule gekommen, um in einem Gespräch mit der Sozialarbeiterin zu klären, ob er dort wieder aufgenommen wird. Vor etwa einem Jahr musste er diese Schule verlassen.

Käthe Kollwitz, Zwei miteinander ringende Männer, 1892

Ein ehemaliger Schüler ersticht seinen Mitschüler. Warum hatte er überhaupt ein Messer bei sich? Und. Was ist das für ein seltsamer Grund, der in allen Medien kollportiert wird, der andere hätte seine Mutter mehrfach provokant angesehen? Alles ist höchst undurchsichtig. Das Geschehen ist noch nicht richtig kriminalistisch untersucht worden, doch schon tauchen die ersten Meinungen und Urteile auf.


Dabei handelt es sich um einen tragischen Vorfall, der für alle Betroffenen höchst dramatisch ist. Die Schüler und Schülerinnen, das Lehrpersonal und die Eltern werden seelsorgerisch betreut. Nicht auszudenken, wie sich die Eltern des Jungen fühlen müssen, der am Dienastag morgen zur Schule ging und nie mehr wiederkommen wird.

Doch statt Mitgefühl zu zeigen, wird in sozialen Medien über die Nationalität des Täters spekuliert. Ein rechtspopulistisches Online-Magazin titelt: „15-jähriger Kasache tötet Leon (14) auf Schulflur“. Es ist nämlich so, dass der Täter zwar in Lünen geboren wurde, aber eine doppelte Staatsbürgerschaft besitzt. Seine Eltern sind aller Wahrscheinlichkeit nach Spätaussiedler und haben in Kasachstan gelebt. Dass die Familie des getöteten Jungen ebenfalls aus Kasachstan stammt, wurde in einigen Medien zunächst abgegeben, doch anschließend wieder entfernt. Vermutlich stimmt es auch gar nicht. Und irgendwie spielt es doch auch keine Rolle. Sollte es zumindest nicht. Oder?

Besorgte Bürger ereifern sich voll Schadenfreude, dass die Tat an einer „Schule ohne Rassismus“ verübt wurde, die einen offenen und freundlichen Umgang miteinander fördert, egal woher die Schüler*innen kommen. Und nun das: Ein Kasache sticht dort einen Deutschen ab.

Ihre Rechnung ist simpel: kasachischer Pass=Kasache=Moslem. Und auch gleich Messer. Gleich Gewalt. Gleich Merkel ist schuld.

Die rechtsgerichtete Presse schreibt in dem oben erwähnten Artikel, dass in Kasachstan 70% der Einwohner Suniten seien. Das stiftet Verwirrung. Ist der Täter ein Moslem?

Da er aber kein Moslem ist, werden nun andere Vorurteile aus der Mottenkiste gezogen. Aussiedler. Da war doch was?

Unintegrierbar. Parallelgesellschaft. Gewaltbereit (das bleibt also gleich, puh, gott sei Dank!). Schaut nur russisches Fernsehen mit Putins Fakenews. Und auch der vielzitierte Schäferhund im Stammbaum wird wieder hervorgekramt. Wie war das, haben die nicht damals bei der Einreise horrende viel Kohle bekommen?

Frau Zielisch ist übrigens Abgeordnete der AfD

Plötzlich geht es wieder um eine fremde Kultur. Wir gegen die. Dabei wollen die Aussiedler doch so gerne zum „wir“ werden. Dazugehören. Als Gleiche unter Gleichen.

Eine Situation wie in Kandel? Nein, nicht ganz. Als es klar wird, dass der Junge ein Aussiedler war, schweigen die Rechtspopulisten dann doch. Zumindest die offiziellen Stellen. Sie wollen die neugewonnen Wählerstimmen nicht wieder verlieren. Es wird keinen Trauermarsch geben.

Davon, wie sich die anderen AfD-Sympathisanten über das Kasachische und die Unkultur der Russen förmlich das Maul zerreißen, merkt man auf den Seiten von „Russlanddeutschen für die AfD“ herzlich wenig.
Sie ignorieren einfach die offen rassistischen Kommentare. Nach Tagen posten sie lediglich die Todesanzeige des Opfers. Mit Beileidsbekundungen darunter.

Wäre nicht spätestens jetzt der Moment, um innezuhalten? Um sich zu fragen, ob diese rechtspopulistische Partei wirklich eine gute Alternative für unsere Minderheit wäre? Denn wenns hart auf hart kommt, sind wir dann doch nicht die nützlichen, gut integrierten und wertebewussten Mitbürger, sondern werden schnell zu Iwans, Kasachen und Fremden, die mal einen deutschen Schäferhund hatten und zu Gewalt neigen, wenn unsere Ehre angekratzt wird.

Wäre nicht spätestens jetzt der Zeitpunkt zu merken, dass uns diese Herren und Damen Superdoitschen nicht für ihre Brüder und schon gar nicht für ihre Schwestern im Geiste halten?

Ich fürchte, das wird nicht geschehen. Die Suche nach Anerkennung, danach endlich anzukommen und aufgenommen  zu werden, scheint größer zu sein und wird sicher auch dieser Ent-Täuschung standhalten.

#Luenen wird irgendwann zu den anderen schrecklichen Nachrichten gereiht und abgehakt.

Schon nach dwei Tagen ist dieser Vorfall aus den Medien verschwunden. Dann kommen die Meldungen wieder aus Kabul, Berlin und Los Angeles. Jetzt bleiben die Familien mit dem Schock und der Trauer allein. Und werden merken, was ein einzelner Vorfall im Leben anrichten kann.


***

Einige der Kommentare aus Facebook, nur für diejenigen, die sie sich antun wollen:

Man liest bald nichts mehr anderers. Da ein gest0chere, da ein gest0chere, gehört bei deren Kultur scheinbar zu den Utensilien, die man täglich einstecken hat, wie unsereins ein Taschentuch oder einen Schlüssel.

– Sollte der Verdächtige ein Russlanddeutscher sein, dann möchte ich darauf hinweisen, dass er in einem kulturellen Umfeld in Kasachstan sozialisiert wurde, das keinesfalls „russlanddeutsch“ ist.

– Ja aber das ist unser neues Land… “ Ein land in dem wir gerne und gut leben “ Danke an unsere Eliten

– Seltsam aber die afd hat sich dazu noch nicht geäußert.abgesehen davon, mein Beileid an die Familie

– Die müssen erst mal schauen, ob der Kasache nicht zufällig auch Russlanddeutscher war.

– Ich weiß. Aber die sind ja der Meinung, dass mindestens die Eltern auch Deutsch sein müssen, damit die Nachkommen den deutschen Pass haben dürfen. Blutquatsch.

– Die AFD ist sowieso komisch. Zum Mordfall Marcel H. haben die sich, glaube ich, gar nicht geäußert. Und bei dem vergeigten Bombenanschlag auf dem Bus des BVB kam, glaube ich auch nichts mejr, als heraus kam, dass der Täter ein Russe, Deutschlandrusse o.ä. war.

– Soweit das aus den Medienberichten zu entnehmen ist, dürfte der Junge Russlanddeutscher sein – und die sind der AfD häufig nicht ganz abgeneigt… Dementsprechend werden die einen Teufel tun und sich dazu äußern.

– Der Täter war Nationalität Mensch. Das sollte für alles weitere reichen.

 

Wahl-o-Mann-o-Mann!

In den letzten Wochen standen die Russlanddeutschen Medienberichten zufolge im Verdacht, mehrheitlich der AfD zu verfallen. Wie die Lemmlinge. Sie seien verführbare Wähler und außerdem würden ihre konservativen Werte von dieser rechtspopulistischen Partei besser bedient werden als von den an sich konservativen Parteien.

Auf ARTE hatte sich Wladimir Kaminer zu Wort gemeldet und hat in heimeliger Kneipenatmosphäre ironisch-naiv das Narrativ RD=AfD noch befeuert. Er ist Experte in diesen Dingen, weil ja einige seiner Freunde Russlanddeutsche sind.

Die Festschreibung stand unverrückbar. Von Bericht zu Bericht journalistisch untermauert. Haben die alle voneinander abgeschrieben? Jedenfalls kursierten immer zwei gleiche Bilder. Das von der Demo um das Mädchen Lisa und eins von der Auslage des Kalinka-Supermarkts.

Trotz relativierender Stimmen und Berichte, trotz warnender Rufe in den sozialen Medien (z.B. der Seite ‚RD gegen AfD‘ und einer Ansprache des russischen Journalisten Nikolai Kameniouk, der die russischspachige Community eindringlich bat, nicht die AfD zu wählen) und einem Protestschreiben von russlanddeutschen Vereinen hielt sich dieses Narrativ hartnäckig bis zum Ende des Wahlkampfes – und nun drüber hinaus.

Oszillierend zwischen Putin und Hitler. Gehts noch?

Wirkliche Erhebungen und Fakten gibt es nicht oder sie gehen im öffentlichen Diskurs unter. Der Juniorprofessor für Migration und Integration der Russlanddeutschen Jannis Panagotidis hat kurz vor dem Wahlsonntag mit seinem Kollegen Peter Doerschler von der Bloomsburg University in einem Zeitungsbericht mit ein paar Mythen rund um das Thema Russlanddeutsche und AfD aufgeräumt. Sie haben herausgefunden, dass der Zuspruch kaum (bzw. im Rahmen statistischer Fehlermargen eigentlich gar nicht) über dem Durchschnitt anzusiedeln ist. Immer wieder gehörte Behauptungen, die AfD sei die beliebteste Partei unter den Russlanddeutschen entbehren somit jeder Grundlage.

Hier der Bericht darüber in der SZ: http://www.sueddeutsche.de/politik/bundestagswahl-die-afd-partei-der-russlanddeutschen-1.3676846

Statt der propagierten 100% sind laut ihren Befragungen also knapp 14% der Deutschen aus Russland, die mit der AfD sympathisieren. Im Bundesdeutschen Durchschnitt sind es 12,6%, also 1,4% weniger.

Am Tag nach der Wahl schien sich das Segel der öffentlichen Stimmungsmache gedreht zu haben. Plötzlich sind es nicht die 1.8 Mio wahlberechtigte Aussiedler, die den Rechtsruck im Bundestag verursacht haben sollen, sondern Millionen abgehängter ostdeutscher Männer. Sieh an. Doch dann tauchten wieder ein halbes dutzend Berichte über Aussiedler auf, die alte These widerkäuend.

Enstand kurz vor der Wahl, Russlanddeutsche gegen die AfD

Viel Mimimi um Nichts?
Nur zwei russlanddeutsche AfD-Kandidaten haben es mit einem Direktmandat in den Bundestag geschafft. Wenn sich noch mehr einen steilen Aufstieg in dieser Quereinsteigerpartei versprochen haben, so dürften sie nun enttäuscht sein.

Die Hoffnung, dass nach Bekanntgabe der Wahlergebnisse das pauschalisierende Bashing, gewürzt mit einer völligen Ignoranz der Befindlichkeiten und der Geschichte der russlanddeutschen Community endlich ein Ende hat, hat sich nicht erfüllt.

Bisher wurde jede Konferenz, jede Kampagne seitens der Russlanddeutschen, die nicht die mediale Festschreibung befeuert, von der Presse mit hartnäckiger Missachtung gestraft. Passte leider nicht in das typische Bild des rückwärtsgewandten, chauvinistischen Keulenschwingers, das sich in den letzten Monaten herausgebildet hatte.

Verfallen wir in eine Opferrolle, in dem wir behaupten, die Presse würde eine Hexenjagd veranstalten? Ja. Aber. Auch ein erklärter Paranoiker wird manchmal von feindlichen Agenten verfolgt. Und eine Volksgruppe, die über Generationen die Opferrolle innehatte, kann durchaus auch Opfer einer Hetzkampagne werden.

Um solchen pauschalisierenden Berichten in Zukunft etwas entgegenzusetzen, müssen wir uns viel mehr vernetzen. Angesichts des medialen Bashings ist es schon vielfach geschehen. Anscheinend noch nicht genug. Das wäre mal ein Schritt, um die Opferrolle und das Jammern endlich hinter uns zu lassen. Wir sind nicht der klägliche Rest, wir sind die Mehrheit. Mehr als die 14% (selbst mehr als 30%) und das sollte von der Öffentlichkeit zur Kenntnis genommen und gewürdigt werden.

Was uns bleibt.
Obwohl es offensichtlich ist, dass sich die AfD-Begeisterung der Aussiedler in statistischen Grenzen hält, gibt es diese Gruppe, die sich den Populisten anschließt.

Wir können es nicht leugnen, sondern müssen uns darüber klar werden, dass die Integration offensichtlich doch nicht so vorbildlich geklappt hat. Nicht überall, nicht bei allen.

So wie die Gesamtbevölkerung in diesem Land, müssen wir dem Fakt stellen, dass nicht alle vom europäischen Gedanken und dem Wertesystem einer offenen Gesellschaft mitgenommen worden sind. Der Auftrag wird sein, nach den Ursachen zu forschen und uns dem zu stellen.

Diese Wahl hat uns allen also eine realexistierende Steilvorlage gegeben.
Allen, die dieses Fleckchen Erde teilen.

Tatsache ist: In Lahr, Pforzheim und Calv, sogenannten Hochburgen mit einem hohen Anteil an russlanddeutscher Bevölkerung, schafft es die AfD auf den zweiten Platz nach der CDU.

Auch in den neuen Bundesländern gab es mehr Wählerstimmen für diese Partei. In Sachsen rutschte sie gar auf den ersten Platz.

Aber es wird nicht mehr unterschieden. Es scheint sich in den Köpfen festgesetzt zu haben, dass alle dumpfe Rassisten sind, die ‚Ossis‘ und die ‚Aussies‘. Die Männer aus dem tiefsten Osten und die Aussiedler, die aus dem noch tieferen Osten stammen. Die letzteren sind laut der aufgeklärten Öffentlichkeit: Erzkonservative, die sich selbst für bessere Deutsche halten und das endlich auch bestätigt bekommen haben von Höcke, Gauland und Co.

Halleluja, nach 20 Jahren nimmt sie endlich jemand für voll! Wenn sie sich da nicht mal täuschen. Willfährige Wahlhelfer waren sie, das ja. Aber ob die erhoffte Teilhabe am politischen System am rechten Rand gelingt?

Wie gesagt: es gibt keine hinlänglichen Studien über die Zahlen außerhalb der Hochburgen. Von dort, wo sich Deutsche aus Russland integriert und assimiliert haben.

An die 1.8 Millionen von uns waren wahlberechtigt.

In einigen sozialen Brennpunkten mit hohem Aussiedleranteil hat die AfD bis zu 30% geholt.

Lässt sich denn daraus auch schlussfolgern, dass es auch insgesamt dreißig Prozent der Deutschen aus Russland waren, die diese Partei gewählt haben?

Überall?
Auch in Hamburg?
Auch in Köln Chorweiler?
Auch in Homberg an der Efze?

In Hamburg hat die AfD beispielsweise in einem Viertel (Moorfleet) 40% bekommen. Von 61 Stimmen waren das 21, ist ein ganz kleiner Wahlkreis. Und auch in Stadtteilen wie Billbrook hat sie abgesahnt. Aber das bedeutet doch nicht, dass alle Bewohner*nnen der Hansestadt AfD-affin seien. Das ist absurd, wenn man sich die übrigen Zahlen anschaut. Was die Russlanddeutschen angeht, sind solche Schlussfolgerungen jedoch an der Tagesordnung.

Und selbst wenn es hochgerechnet doch 30% sein sollten, das patriotisch-völkische Drittel, das die Populisten am Ruder sehen möchte, es bleiben noch immer 1,2 Millionen, die die AfD nicht gewählt haben. Nur so am Rande.

Es ist ein Mythos entstanden, der Aussiedler und die Alternative für Deutschland aneinander kettet. BFF. Best friends forever. Oder eher Master and Servant. Allen vernünftigen Stimmen, die nach genauen Untersuchungen fragen, zum Trotz.

Er wird fortgeführt, dieser Mythos, weil es einfacher ist, eine Minderheit für das Versagen der Politik der letzten Jahre oder Jahrzehnte verantwortlich zu machen. Die Nazis sind immer die anderen. Die Hölle, das sind nicht wir.

Dennoch, eines ist nicht von der Hand zu weisen: Der schale Nachgeschmack bleibt, dass es einen Prozentsatz in unserer Community gibt, die Heimatliebe mit völkischem Gedankengut verwechseln. Die in die Hetztiraden gegen Andersdenkende und anders Aussehende mit einfallen. Die Frauen am liebsten in einer Rolle sehen, die es zuletzt im Biedermeier gab. Mit einer Stickarbeit am Kamin. Und ansonsten Kinder, Küche und Kirche.

Bei all der Verteidigungshaltung und den Relativierungsversuchen dürfen wir diese Tatsache nicht aus den Augen lassen. Wir müssen uns darüber klarwerden, wie wir mit diesem Problem umgehen. Als Einzelpersonen und auch in den Gruppen und Vereinen, in denen wir uns bewegen. Das wird die eigentliche Aufgabe sein. Uns mit diesem Prozentsatz, wie hoch er auch sein mag, auseinanderzusetzen.

Okroschka und die AfD

Die Russifizierung Europas schreitet voran! Und ich genieße das, denn gestern habe ich im (nichtrussischen) Supermarkt Kwas in Dosen gefunden. Von zwei verschiedenen Firmen sogar. Heute mache ich mal eine Okroschka-Suppe und teste, ob dieser Kwas was taugt. Das Rezept für die frische Sommersuppe mit Kartoffeln und Dill steht bei einem früheren Eintrag auf diesem Blog.

Auf anderen Kanälen wird ebenfalls eine schleichende oder galoppierende Russifizierung moniert. Russlanddeutsche tauchen als potentielle AfD-Wähler fast epidemisch in allen möglichen Artikeln und bei Sendungen wie Monitor im öffentlich-rechtlichen Fernsehen auf. Diese bucklige Verwandtschaft, die sich störrisch gegen jegliche Modernisierung und Anpassung an eine offene multikulturelle Gesellschaft sträubt. Die mit einem astreinen russischen Akzent oder auf Russisch gegen Fremde herzieht. So kommen wir rüber. Zwar ist der Ton ist nicht mehr so abweisend wie noch vor 20 Jahren und es werden sogar Aussagen getroffen, wie diese: Dann werden sich die Demokraten von rechts bis links über die Parallelgesellschaften, den Mangel an Demokratieverständnis der Migranten und ihre Beeinflussung durch den Kreml empören. Dabei sei jetzt schon bemerkt: Das sind die russischsprachigen Aktivisten, die sich für die demokratischen Werte einsetzen, und das ist die deutsche Politik, die sie dabei im Stich lässt.

Der vollständige Beitrag der FAZ vom Donnerstag ist hier zu finden. Dieser Artikel ist dabei noch einigermaßen differenziert.

Ein schaler Nachgeschmack bleibt dennoch.

Wenn eine Gesellschaft eine Gruppe in Ghettos pfercht, ihnen den Zugang zu qualifizierten Jobs und Bildungschancen wenn nicht sperrt, so doch erschwert, dann kommen ganz sicher keine zufriedenen und weltoffenen Bürger*innen heraus. So oder so ähnlich sehen das manche Kommentare auf Facebook zu diesem Artikel. Zumindest diejenigen, die nicht gegen Schäferhundrussen pöbeln.

Ich kann es nicht leugnen. Es scheint etwas an dieser Partei zu geben, das insbesondere Russlanddeutsche anzieht. Es steht noch aus, die Gründe dafür zu untersuchen.

Was mich allerdings wundert: aus dem Spektrum der vielen Menschen, der Schicksale und Einstellungen werden gerade diejenigen herausgefischt, die solch extremen Ansichten vertreten wie Eugen Schmitz oder Heinrich Groth, der behauptet bei Monitor so abstruse Sachen wie diese: den Deutschen sei es unter Adolf ja nicht so schlecht gegangen. Gegenüber dem russischen Sender RTDV hat er Anfang April gesagt: ich als Biologe weiß genau, was die Verunreinigung der biologischen Masse bedeutet. Der Mann ist einfach ein Extremist und soll nun alle Russlanddeutschen repräsentieren? Ich weiß genau, dass die Medien das besser hinkriegen könnten. Warum tun sie das nicht? Weshalb fehlt hier die nötige Differenzierung, die an anderer Stelle so stark eingefordert wird?

Traurig, dass kaum andere O-Töne gesucht und gefunden werden. Aber vielleicht sind progressive, gut integrierte Aussiedler*innen einfach zu banal? Passen nicht ins Konzept. Dienen nicht dem Aufbau eines simplen Feindbildes?

Und was ist unsere Volksgruppe eigentlich anderes als eine Okroschka-Suppe, denke ich und zupfe die feinen Äste vom Dill ab: Ein zusammengewürfeltes Gebilde aus vielen verschiedenen Zutaten. Die einen sind eben die Salzgürkchen für den säuerlichen Geschmack und andere die Kartoffeln, die breite Basis. Radieschen mit außen roter Haut und innen weißer Masse habe ich schon an anderer Stelle behandelt. Wer ist dann aber der Dill? Die sogenannten Kulturarbeiter*innen? Und wer kommt daher, wie eine scharfe Frühlingszwiebel? Der Kwas und der Schmand sind dann die beiden gemeinsamen Sprachen, das Fluidum, in dem alle schwimmen. Übrigens steht auf der einen Kwas Dose als Slogan: Refresh Yourselfsky! Was soviel heißen soll wie: Erfrisch dich selbskij. Witzig. Und: Kvass Drovje! Weniger witzig. Ein Männeken tanzt Kasatschök. Aus dem piefigen Armeleutegetränk ist ein trendiges veganes Produkt geworden. Leider ist dieser Kwas etwas zu süß für meinen Geschmack, da hätte ich auch gleich Malzbier nehmen können. Schmand habe ich auch nicht, werde wohl wieder griechischen Joghurt drauftun, damit schmeckt es ebenso gut.

Ist es so schwer zu begreifen, dass die Gruppe der Aussiedler nicht etwas Homogenes ist, sondern etwas ebenso Zusammengewürfeltes wie eine Okroschka, bestehend aus vielen Grüppchen und Individuen. Ein jeder und eine jede befindet sich an anderer Stelle im Prozess der Loslösung von der alten Heimat und dem sich Verwurzeln in der Neuen. Manche verleugnen das Russische in sich, andere distanzieren sich eher vom deutschen Anteil. Und dazwischen gibt es 2 Millionen 399 Tausend 998 weiterer Nuancen. Die pauschale Annahme, alle fänden Putin prima und die AfD wählbar, kann und will ich nicht akzeptieren, sie tut mir fast körperlich weh.

Aber mich fragt ja keiner. Pah! Dann geh ich eben weiterschnibbeln. Auf Wiedersehnje!

Der BVB-Bomber

Die seriöseren Medien nennen seine Herkunft nicht. Die Yellowpress hat ihn schon durchleuchtet, mit der Kirchengemeindenvergangenheit und dem Bubigesicht und eben dem Geburtsort im Ural. Ein Deutsch-Russe hat angeblich die Bombe am Mannschaftsbus des BVB gelegt. Sein Motiv: Börsenspekulation.


Die Nachricht hat in mir einiges ausgelöst: werden sie wieder Bashing betreiben, werden wieder alle, die aus dem wilden Osten kommen als Wilde abgeurteilt? Wird nun den Russlanddeutschen pauschal eine Mordlust untergeschoben? Anscheinend nicht.

Wieso trifft mich das? Bin ich nicht genauso wie die Sensationspresse, die entgegen dem journalistischen Kodex die Herkunft betont, sie ans Licht zerrt, als wäre sie der Auslöser für die Tat? Als wäre der Geburtsort und die Sozialisation zwangsläufig verantwortlich für die Entscheidungen von Leuten?

Bin ich nicht genauso wie die Presseleute, weil ich mich mit diesem Fall nun innerlich beschäftige? Und zwar erst seit dem ich weiß, dass er möglicherweise „einer von uns“ ist? Das ist dieselbe Denke, nur mit einem anderen Vorzeichen. Identifikation. Einordnung. Schublade auf, Schublade zu.

Alle diese Parameter – Börse – Fußball – Bombe – liegen mir so fern wie ein Ferienhaus in Timbuktu. Wieso suche ich nach Gemeinsamkeiten und fürchte, dass diese Tat irgendwie auf mich abfärben könnte?

Ich lese den Namen und denke, W., haben wir in der Verwandtschaft einen Namen, der mit W. anfängt? Nein. Ein Glück. Aber bei anderen Bombenlegern frage ich mich das nicht. Warum trifft mich diese Nachricht so persönlich, aber erst nachdem bekannt wurde, was für ein Landsmann dieser Sergej W. ist?

Ein Glück wird aus dieser Meldung keine Hetzkampagne gemacht. Im Moment passieren eben noch gewichtigere Dinge, die die Nachrichten bestimmen. Und: das Motiv ist auch nicht religiös begründet. Es sei denn, wir betrachten die Anbetung des Mammon als eine religiöse Spielart.

Dann käme zu dem Kanon von Attentätern, den kommunistischen, nationalistischen, anarchistischen und islamistischen nun auch noch die kapitalistische Variante. Wird nun im großen Stil der Kapitalismus verurteilt und abgeschafft?

Ich sollte mich davon abkoppeln. Aber ich kann es irgendwie nicht. Erst mal einen Tee.

Internet-Geplänkel und noch ein kulinarisches Intermezzo

Wir Russlanddeutschen essen nur russische Gerichte. Sprich, wir passen uns nicht an. Dieses Postulat lese ich gelegentlich. Wie neulich bei einer Diskussion in den sozialen Netzwerken. Im Thread hinter einem Artikel der Zeit, bei dem Aussiedler als identitätsverwirrte Russlandnostalgiker*innen dargestellt wurden, die durch russische Medien gehirngewaschen sind und den starken Kerl Putin toll finden und darüber hinaus sich in Russendiskos auf Highheels zu uralten Sowjetsongs drehen.

Es ist wirklich erschreckend, welches Bild die russischen Sender von Europa zeichnen. Aber in den Kommentaren gings nicht darum. Sie waren wie üblich so:

Sehen fast aus wie Tortellini diese Pelmeni. Aber nur fast…

Nun dann auf zurück zu Putin , wenns den Damen und Herren in Deutschland nicht gefällt.“

Nutzliche Idioten des russischen Despoten!“

Sie würden als stimmvieh für die CDU reingelassen und jetzt müssen wir es ausbaden“

…die wolga wartet! die aufgabe von journalismus ist zu fragen und aufdecken, nicht leugnen und verdunkeln. wer sich auf rt verlässt, den interessieren fakten nur preripher….“

Nix wie ab nach Russland.“

(Ich habe die Rechtschreibung und die Interpunktion so gelassen, wie sie war.)

Aber an anderer Stelle stand: Denn als Deutsche sehen sie sich nur wenn es um Vorteile und Demokratie geht, an sonst reden und atmen die russisch.

Darauf schrieb ich, woher er das wüsste und nicht alle seien so. Auf die Nachfrage, ob der Kommentator wohl schlechte Erfahrungen gemacht hätte kam, dass er vor einiger Zeit auf so Biker getroffen hätte, die ihn nicht reingelassen haben in einen Treff, nur wenn er die Tickets auf Russisch verlangt hätte. (Spannend zu erfahren, woher er Russisch konnte, aber das habe ich nicht gefragt.)

Er schrieb:

… es ist Fakt das die Rußlanddeutschen untereinander russisch sprechen, russische Musik und Filme schauen, russisches Fernsehen sehen und auch russisch kochen.
Das alles ist nicht verwerflich, es ist auch kein Haß von meiner Seite. Es ist nur objektiv gesehen und die Wahrheit. […] Der Zusammenhalt ist außergewöhnlich, Hut ab, aber in die falsche Richtung. “

Es gibt diese geschlossenen Gesellschaften, die sich hermetisch abriegeln, weil sie sich ausgeschlossen fühlen. Oder warum auch immer. Biker. Womöglich noch graue Wölfe.

Aber es gibt genug Aussiedler*innen, die sich gut eingelebt haben und mit diesem Land und diesen Leuten hier verbunden sind. Und trotzdem ab und zu so einen Film auf Russisch schauen.

Und was das russische, bzw. mittelasiatische Essen angeht, andere bringen doch auch Gerichte aus dem Urlaub mit und kochen gern italienisch oder thailändisch oder auch japanisch. Kokosmilch und Algen gibt es an fast jeder Ecke.

So kann man es doch auch betrachten, die Deutschen haben aus Russland eben auch kulinarische Anregungen mitgebracht. Aus ihrem mehr als 200 Jahre währenden „Urlaub“ dort. Unterbrochen von einigen mageren Jahren und Fastenzeiten, wie Hungersnöten und Kriegen oder den gelegentlichen Ausflügen in den Gulag und in die Sondersiedlungszonen. Da haben sich die Leute halt angepasst und landesüblich gekocht. Wenn Kohl da war, wurde halt Kohl genommen. Wenn Baumrinde da war, wurde halt Baumrinde genommen. Punkt. Nicht immer gab es kulinarische Highlights zu erwarten. Aber es sollte satt machen. Hat es oft leider nicht.

Seltsam aber, dass die berühmte Kartoffelschalensuppe oder Salate aus Unkräutern heute unter den Aussiedlern kaum verbreitet sind, sondern nur Speisen aus den „fetten Jahren“ wie Borsch‘ und Manty und natürlich Plow. Viele von uns können noch Tomaten und Paprika einlegen und kochen auch Kobra, das ist so eine scharfe Soße, ähnlich wie Sambal Oelek, noch selbst ein.

Es braucht Zeit, sich kulinarisch einzuleben. Ich denke an die ersten Spaghetti Bolognese, die meine Mutter, auf meinen sehnlichsten Wunsch hin zubereitet hatte. Selbst die schmeckten irgendwie russisch, obwohl Tomatensoße dran war. Aber die Soße erinnerte eher an das Innere von Pelmeni und an Frikadellen. Mit viel Zwiebeln und Pfeffer.

Und was sollen die Frauen, wenn sie hierher kommen, auch sofort anderes kochen, als das, was sie schon kennen? Ich spreche meist von Frauen, von Herrinnen über Haus und Küche. Es scheint, als hätten sie mit den Gerichten auch ein althergebrachtes Frauenbild im Gepäck dabei, das so von 1763 oder so stammt. Wirkt zumindest so. Aber es gibt auch rühmliche Ausnahmen, wie zum Beispiel Onkel Jos’ka, einen Freund meiner Eltern. Seine Canneloni schmecken wie beim Italiener. Nee, besser. Er räuchert auch Fisch selbst und keltert eigenen Kirschwein. Überhaupt ist DIY, also tu alles, was du kannst selber, auch ein Thema aus der Community. Das haben die Deutschen aus den Steppen ebenfalls mitgebracht, alles selbst zu machen, vom Räucherofen bis zum Hausausbau. Aber das ist eine andere Geschichte und soll ein andermal erzählt werden.

Ich frage mich, warum ich so empfindlich auf die Pauschalisierungen und dieses immerwährende Aussiedler-Bashing reagiere? Einer der Kommentatoren meinte auf den Einwand, der Zeitartikel sei etwas einseitig und woher die Autorin wohl diese Vorzeigeexemplare hätte:

Steht im Titel: „In Berlins größtem Club für Russlanddeutsche“ – Nicht jede Reportage, nicht jedes Portrait kann und muss alle Meinungen abdecken. Dafür gibt’s demographische Umfragen. Es steht ja auch nirgends im Text, dass ALLE so denken. Natürlich gibt es auch unter Russlanddeutschen ein breites Spektrum von Meinungen, und viele, die Putin ablehnen – aber es gibt eben auch das beschriebene Millieu, und es ist nicht klein; auch wenn das für so manchen schmerzhaft oder peinlich ist. Im Übrigen kommt die Autorin wohl selbst aus Russland.‘

Allerdings kommen mir  wirklich viele Artikel über Russlanddeutsche und wie sie sich geben unter die Nase. Komisch, aber sie fallen mir eben auf. Und die wenigsten von ihnen beleuchten die andere Seite des Spektrums.

Ich leugne es nicht. Es gibt sie. Die nur Russia Today schauen, die Biker, die sich weigern auf Deutsch zu antworten. Auch die Teenies, die keinerlei Geschichtsbewusstsein haben und glauben Wladimir Putin wäre ein weiser, gütiger Monarch. Ähem, ich meine natürlich Präsident, oder Kanzler? Was ist er nun seit der letzten Wahl? Es gibt sie, die AfD-Kandidatinnen mit russlanddeutschem Hintergrund, die Hitlerbildchen auf Whats-App versenden und hinterher meinen, es sei doch alles nur ein Scherz gewesen.

Aber bitte, liebe Presseleute und fleißigen Kommentierer*innen, das bildet doch nicht alle ab. Mich nicht und die meisten meiner Freunde und Freundinnen aus den Reihen der Aussiedler auch nicht. Ein Artikel kann nicht alle Meinungen abbilden. Aber in der Summe sind sie doch sehr tendentiös. Mal wieder.

Wir sind gut integriert. Auch wenn wir gern mal einen Teller Borsch‘ essen oder einen ganzen Topf mit Pelmeni (wer mag sie eigentlich lieber mit Essig?) vertilgen und dabei eine alte Sowjetschnulzette auf Youtube schauen. Schnulzette trifft es aber eigentlich nicht. Diese Machwerke mit ihrer ungeschlagenen Mischung aus Naivität und Abgeklärtheit, gibt es sonst kaum. Außer vielleicht im italienischen Autorenfilm der früher Fünfziger Jahre. Aber zu diesen Filmen passen nun wirklich eher Canneloni oder eine selbstgemachte Pizza. Abgesehen davon darf man nicht vorm Bildschirm essen! Das ist nun wirklich kulturlos. Habe ich das geschrieben? War alles bloß Fake-News.

Worthülse des Tages. 21. September:

wertkonservativ

Dieses Adjektiv stößt mir regelrecht auf, denn es wird in den letzten Wochen und Monaten dafür benutzt, Russlanddeutsche zu charakterisieren und zu erklären, warum die alle (ich betone alle! Denn Unterscheidungen sind nur was für Warmduscher) zur AfD laufen.

Sie haben Migrationshintergrund, also sind sie auf Sicherheit bedacht und eben w e r t k o n s e r v a t i v. Eigentlich was Schönes, Werte zu bewahren, aber darum geht es hier nicht.

Sie wollen keinen Sex vor der Ehe, also wählen sie AfD. Das ist die einfache Rechnung. Redakteure der taz haben vor dem Mix-Markt (Geschäft mit russischen Lenbensmitteln, es gibt drei davon in Berlin, da tummeln sich die Reporter immer, um typische Aussiedler*innen beim Pelmenikauf zu erwischen) eine Frau angesprochen, die einer dieser strengen religiösen Gruppierungen angehört, wo die Frauen Hauben tragen und niemals Hosen. Und die ist gegen Sex vor der Ehe und wird AfD wählen.

Damit ist doch alles geritzt. Eine für alle. 4 Millionen. Eine wertkonservative Masse. Ist Wertkonservatismus nun eine Umschreibung für Rassismus oder nicht?

Also. Zum Mitschreiben.

Russlanddeutsche sind alle: wertkonservativ, ferner wortpreservativ (denn mit Argumenten erreichst du sie nicht), ferner Wurstpersistent (oder hat jemand schon mal russlanddeutsche Vegetarier gesehen? Ganz zu schweigen von Veganer*innen – ja ich, und zwar einige. Wenige. Mindestens eine. Die war mal Vegetarierin, für mindestens 15 Jahre, dann hat sie sich auf ihre Werte besonnen und ist zu uns zurückgekehrt. Aber egal. Es geht um die Sache an sich!)

Und überhaupt sind sie entwicklungsresistent. Alles Hillbillies. Von dort, von der Wolga eben, liegt noch weiter weg als die Walachei. (Ätsch, seit 1941 lebt kein einziger mehr von ihnen an der Wolga, aber Kasachstan ist auch weit weit weg.)

Aber im Moment ist zumindest eine von ihnen wutimperativ und presseavertiv. Nämlich ich.

Denn das Dumme ist, diejenigen, die sowas in der Zeitung lesen, glauben das am Ende auch noch.

 

(P.S.: Liebe Wildgans, ich habe mir erlaubt, dein Format mit dem Wort des Tages zu entwenden und zu verfremden. Ich hoffe, du denkst jetzt nicht auch noch, ach, die wiedermal, alles Diebe, diese Aussiedler, einer wie die andere.Ich habe mich nur inspirieren lassen, konnte aber natürlich nicht lassen, zu dem Wort meinen Senf dazuzugeben…)

 

Viel Wind – Unser Mädchen aus Berlin

Irgendein Tief fegt über unsere Stadt hinweg. Seit Tagen pfeift es schon draußen. Ab und an zwischen Wolkenfetzen ein Stück unverhangenes Blau, wenn man Glück hat. Nass und kalt und dunkel, schon um drei, vier Uhr am Nachmittag, genau das richtige Wetter, um sich zu verkriechen. Was haben sie im Radio gesagt, zu viel Vitamin D ist nämlich auch nicht gut. Leute fallen öfter hin mit einer Überdosis davon und brechen sich häufiger was, genau wie mit einem Mangel.

von Winde verweht
Vom Winde verweht – der Fall Lisa, eine haarige Sache

Windmacherei. Panikmacher. Die große Welle machen. Der Januar war voll damit. Und jetzt eine kleine Ruhepause. Die Aussiedler werden wiedermal entlarvt als Fremdenhasser und Verführte vom russischen Fernsehen. Als russischsprechende Diaspora und Putins fünfte Kolonne, die kaum Deutsch können und gegen Ausländer hetzen. Am Anfang steht ein Mädchen, dass sich eine Lügengeschichte um ihr Wegbleiben gesponnen hatte. Und zwei Wochen später spricht der russische Außenminister von „unserem“ Mädchen in Berlin und aufgebrachte Russlanddeutsche demonstrieren gegen Gewalt an Kindern und lauschen den Reden der braunen Agitatoren, die aus ihren Löchern gekrochen kommen. Wer hat sie eingeladen? Das soll allen eine Lehre sein, sich aufbauschen zu lassen wie ein Betttuch auf einer Wiese. Das reinste Agit-Prop. Naja, gewohnt sind sie es ja, von früher. Aber welche Presse lügt? Welche Polizei vertuscht besser? Welcher Macht kannst du vertrauen? Dem eigenen Urteilsvermögen anscheinend nicht.

Ganz schön viel Wind hat er aufgewirbelt, dieser Fall Lisa. Von Vertuschung war die Rede. Ängste sind hoch gekrochen von Muslimen die sich zu dritt auf ein wehrloses Mädchen stürzen. Dabei hatte sie bloß Angst gehabt, nach Hause zu kommen, Schulprobleme wollte sie verbergen und hat bei einem Freund übernachtet. Ohne Sex. Auch nicht einvernehmlich. Solche Wellen kann es schlagen, wenn sich ein Kind eine Ausrede sucht und die Eltern die Geschichte aufgreifen und die Tante, oder die Pseudotante (?) für einen russischen Sender ein tränennasses Interview gibt. Gefundenes Fressen. Die Deutschen haben die Lage nicht im Griff. Seht, das passiert mit dem Multi-Kulti-Wahnsinn.

Die Trolle des Kreml haben ihren Auftrag erfüllt. Und was bleibt? Der fade Nachgeschmack. Das Bild vom Aussiedler an und für sich, der gegen andere Minderheiten und auf Flüchtlinge hetzt. Tendenziöse Berichte über Landsleute, die billigste Verleumdungen ausstoßen, null Kultur oder Weitsicht, aber mich repräsentieren sollen. Mischa steht in Jogginghose im russischen Supermarkt in Dinslaken und erläutert dem WELT-Redakteur seine WELT-Sicht. Ich seh ihn förmlich auf die Straße spucken.
Und das, was Wladimir Kaminer im Radiointerview mit dem NDR sagt, geht in dem ganzen Spektakel unter, dass wir froh sein sollen, dass von 6 Millionen (russischsprechenden Einwohnern in Deutschland) bloß etwas über dreihundert vor dem Kanzleramt standen. Lass es Tausend sein, die breite Masse ist das nicht. Und dass alle Aussiedlerfreunde von ihm nicht so sind. Nicht so rechts und putingläubig.

Und dass sich Teilnehmer der Demo schon vor Ort gegenüber einer Reporterin von der Deutschen Welle von den Agitatoren der NPD und der Pegida distanzieren, kommt bei der westlichen Presse gar nicht erst an.

Viel Wind gemacht, wiedermal. Um unser Mädchen.

Das arme Kind, das bleibt doch an ihr kleben wie Pech. Ein kleiner Teeniestreich und was für Konsequenzen! In Zeiten medialer Schnellstverbreitung darf man das nicht bringen. Arme Teenies.

Ein deutscher Comedian hat gefordert, dass alle Dreizehnjährigen sich von diesem Vorfall distanzieren sollten und wenn das nicht hilft, die Ausweisung aller Dreizehnjähriger. Vielleicht hat er recht. Die einzige Weise, wie man diese absurde Geschichte nehmen darf: mit Humor.

In der Heimat. Im Exil

Von der Problematik russisch-schreibender Autoren in Deutschland.

So ganz anders als bei uns...
So ganz anders als bei uns…

Sprache ist Heimat. Wenn ich jetzt aus klimatechnischen Gründen in die Hochebene der Anden auswandern müsste, würde ich mit meinem Rudiment-Spanisch vielleicht gerade mal, una tortilla, por favor, bestellen oder in der Zeitung, in die sie eingewickelt ist, einen kleinen Artikel über Drogenschmuggel lesen können. Ich wäre jedoch wäre weit davon entfernt, auf dem gleichen Niveau spanische Texte zu verfassen, wie ich es auf Deutsch gewohnt bin. Und ich meine damit nicht meine Flüchtigkeitsfehler.

Bei diversen Veranstaltungen der letzten Wochen habe ich russlanddeutsche Autoren kennengelernt, die auf Deutsch Gedichte und Prosa verfassen oder nur auf Russisch oder mal so mal so. Eigentlich wird Bilingualität als Plus oder Mehrwert angesehen. Aber im Fall der Autoren, die mit diesem Hintergrund in Deutschland in russischer Sprache schreiben, ist es leider anders. Sie finden kein Publikum.

Neulich sagte jemand zu mir, russlanddeutsche Literatur kann es nicht geben. Entweder jemand schreibt auf Deutsch, für ein deutsches Publikum und dann ist er ein deutscher Autor. Oder er schreibt auf Russisch für ein russisches Publikum und dann ist er ein russischer Autor.

Damit wäre zwar jedes Problem ausgeräumt, aber diese Sätze stellen das Ganze doch sehr verkürzt dar. Die Sachlage gestaltet sich bedauerlicherweise etwas komplexer.
Irgendwie habe ich den Eindruck, dass viele Russlanddeutsche sich in der Pflicht sehen, zu beweisen, wie deutsch sie nach Generationen in Russland noch sind. Hauptsächlich sich selbst. Und deshalb alles Russische verpönt ist. Zumindest bei einigen.

Möglich, dass es deshalb so selten vorkommt, dass Autoren aus ihrer Mitte öffentliche Lesungen in russischer Sprachen zelebrieren dürfen. Oder es liegt daran, dass solche Lesungen nicht beim deutschen Publikum ankommen? Aber bei allen Lesungen von russlanddeutschen Autoren, an denen ich teilgenommen habe, waren kaum Einheimische anwesend. Vom dem seinen guten Willen zeigenden Politiker und dem Tontechniker fürs Mikro mal abgesehen. Und fast allen anderen aus dem Publikum ist die russische Sprache geläufig. Sollte man zumindest annehmen. Außerdem wäre es doch möglich, einen Schauspieler dahin zu setzen, der für die in diesem Land Geborenen die deutsche Übersetzung liest.

Doch Hand aufs Herz:
Wenn jemand sagt, du, da ist ein brasilianischer Autor, der liest über den Karneval und die Candomble-Magie. Allerdings auf Portugiesisch, gehen wir hin? Oder, du, da ist ein russlanddeutscher Autor, der liest heute in russischer Sprache über die Verbannung in Sibirien und die Schulzeit unter Breshnew. Wo zieht es dich eher hin?

Egal auf welcher Sprache geschrieben und vorgelesen, da kommt noch die Unattraktivität all dessen dazu, das mit dem Begriff des Spätaussiedlertums zu tun hat. Irgendwie ist Samba und weiße Magie sehr viel sexier als Zwangsarbeit und weiße Haarbänder am Einschulungstag.

Da vermischt sich einiges, merke ich. Hab mich verrannt. Liegt es also doch nicht an der russischen Sprache? Ich habe keine Lösung dafür. Ich sehe nur, wie sich die Autoren in einer scheinbaren Pattsituation befinden, in einem paradoxen Exil. Kreativität will doch raus, Gedichte, Geschichten wollen geschrieben werden und fragen zunächst nicht nach der Mundart. Aber es ist schon tragisch, dass diese Erzeugnisse in beiden Ländern ungehört und ungelesen bleiben.

Und ich finde nicht, dass die Lösung wäre, ihnen entgegen zu brüllen: Lern doch erst mal Deutsch! Es gibt doch Zeitungen speziell für Aussiedler, die hauptsächlich auf russisch geschrieben werden. Wie die Neue Semljaki zum Beispiel. Auch im Netz.

Das zeugt von einem einem schizophrenen Verhältnis dieser Szene zur russischen Kultur und Sprache. Einerseits geht das im Kindheitsalter erlernte schneller, kommt leichter von der Zunge. Andererseits will man zeigen, dass man gut integriert ist.

Oder stimmt das Vorurteil doch, dass Russlanddeutsche keine Romane lesen? Und Gedichte schon mal gar nicht. Das kann ich nicht glauben, wenn ich keine wissenschaftliche Untersuchung dazu vor Augen habe. Außerdem, wer sagt, dass die Erzeugnisse russlanddeutscher Autoren nur fürs ebenso russlanddeutsche Publikum gedacht seien?

Dann liegt es wohl an der mangelnden PR?

In einem früheren Beitrag habe ich geschrieben, dass es kein Portal für russlanddeutsche Literatur mehr gibt. Falsch. Seit dem 1. Juli dieses Jahres kann man auf www.rd-autoren.de Autorenportraits und Ausschnitte aus Werken nachlesen. Bislang besteht diese Seite allerdings fast nur aus Beiträgen in russischer Sprache.

Die Initiatorin des Portals, Antonina Schneider-Stremjakowa findet es bedauerlich, dass sie keine bilinguale Seite anbieten kann. Sie sei erst in einem fortgeschrittenen Alter nach Deutschland gekommen und sehe sich eher als Trägerin der russischen Sprache. Neulich hat die Autorin einen Aufruf gestartet und um Unterstützung für die deutschsprachige Seite ihres Vorhabens gebeten.

In ihrem flammenden Appell schreibt sie unter anderem:

Литература Мира многонациональна: немецкая, английская, французская, казахская, еврейская и даже калмыцкая – не было и нет лишь литературы российских немцев, потому как официально не было и нет такого народа. А он был и есть – жаль, к нему относились чаще всего, как к людям второго сорта, хотя он всегда любил и считал своей Родиной обе страны – Россию и Германию.

Ich übersetze:

Die Weltliteratur ist vielnational: deutsch, englisch, französisch, kasachisch, jüdisch und sogar kalmykisch – es gab bloß nie und gibt bis heute keine Literatur der Russlanddeutschen, weil es dieses Volk offiziell nicht gibt und nie gegeben hat. Jedoch gibt es dieses Volk sehr wohl – nur schade, dass seine Mitglieder vor allem als Menschen zweiter Klasse angesehen werden, obwohl sie immer beide Länder geliebt und als Heimat betrachtet haben – Russland und Deutschland.

Ich würde nicht soweit gehen, zu behaupten, dass es die Russlanddeutschen offiziell nicht gab und nicht gibt. Sie rücken nur selten in den Fokus. Werden stets unter ferner liefen gehandelt. Auch in Russland mussten sie irgendwo gelistet worden sein, sonst wären in der Stalinzeit nicht so viele von ihnen abgeholt und hingerichtet worden. Aber ich verstehe schon, wie sie es meint.

Es bleibt die Frage, weshalb sich ihre Bücher bisher auf dem deutschen Markt nicht durchsetzen konnten. Ich komme immer wieder an den gleichen Punkt.

Ist es wirklich die fehlende Homogenität? Wenn es allein mehrere Sprachen gibt, in denen sie geschrieben sind?

Oder doch die Qualität des Geschriebenen? Aber die Gedichte sind toll! Leider oft unübersetzbar. Höchstens eine Nachdichtung ist möglich. Und die Romane? Einige Längen und komplizierte Sätze und Sachverhalte würde ein fähiger Lektor und eine fähige Lektorin doch schnell ausbügeln können. Leider finden sie, bis auf einige Ausnahmen, keinen Verlag.

Ich bin jedenfalls sehr gespannt darauf, welche Resonanz Frau Schneider-Stremjakowas offener Brief erhält und ob das Portal Zustimmung und Zuwendungen – auch von offizieller Seite – erfahren wird.

Ist es nicht faszinierend, dass die uralten Gräben und Trennungen sich bis in die Literatur auswirken? Obwohl. Das ist nicht wirklich verwunderlich. Wo sollen sich diese Diskrepanzen deutlicher zeigen als auf diesem Gebiet? Das unterdrückte, verlernte Deutsch der Väter. Das neuerworbene, literarische Russisch und die damit alle mitschwingende Kultur. Die Anpassung an ein sprachlich und soziokulturell neues Land. Auf dem Feld des literarischen Schreibens treffen sie alle aufeinander. Sprache ist Heimat. Und der Kampf der Heimaten wird eben hier ausgetragen und findet seinen Ausdruck in eben dieser Kunstform. Russisch-deutsche Literatur. Allein das Adjektiv verheißt bilaterale Spannungen, oder?

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