Macht und Wort – Mitten im Sturm

Haben Worte, hat Poesie die Macht das Leben zu beeinflussen?

„Mitten im Sturm“ ist ein Film von 2009, nach den Memoiren der Dichterin und Literaturprofessorin Evgenia Ginsburg entstanden, die in der Zeit stalinistischen Terrors aus nichtigen Gründen verhaftet, in einem 7 Minuten Prozess zu 10 Jahren verurteilt und in einen Gulag verfrachtet worden war. Ohne Kontakt zu ihrer Familie. Bis auf den Brief, der ihr mitteilt, dass ihr ältester Sohn in der Leningrader Blockade verhungert ist.

Sie überlebt. Ständig kreisen Gedichte und Ausschnitte aus Büchern in ihrem Kopf. Auch für ihre Mitgefangenen rezitiert sie Verse und ganze Passagen klassischer Literatur in den trostlosen Baracken des Gulags. Ein Gedicht taucht immer wieder auf in diesem Film. Es ist „Man gab mir einen Körper“ von Ossip Mandelsam.


Zerlumpte Gestalten in einer
grauweißen Landschaft. Bisher habe ich darüber bloß gelesen oder Erzählungen gehört. Meine Großmutter, die Großtanten und andere Frauen der Sondersiedlungen wurden Sommers wie Winters in den Wald getrieben, um Holz zu fällen. Dieser Film gibt mir die Bilder dazu, mit Ton und in Farbe. Und er ist kaum auszuhalten für mich.

Russlanddeutsche Gefangene im Wald, Collage von Nikolaus Rode

Absurd finde ich den marketingtechnischen Zusatz auf dem DVD-Cover: Für alle Fans von Schindlers Liste, Das Leben ist schön, Der Pianist und Sophie Scholl.
Danke ergebenst. Werber! Besser wäre eine Warnung gewesen, wie auf den Zigarettenschachteln: Dieser Film könnte ihre posttraumatischen Erinnerungen ersten und zweiten Grades wieder hervorrufen.

Oder: Nur in Gesellschaft und mit einigermaßen stabiler seelischer Konstitution konsumieren. Machen Sie Pausen.

Oder: Lassen Sie es sein. Überlassen Sie die Auseinandersetzung mit diesem Thema der nächsten Generation. Wenn es nicht anders geht, halten Sie Taschentücher in Reichweite.

Ich habe Pausen gemacht und ich habe ihn bis zum Ende gesehen. Die Taschentücher habe ich vergessen.

Irgendein Feuilleton warf dem Film vor, für ein Melodram zu wenig emotional zu sein:
Für eine erkenntnisreiche, differenzierte Betrachtung von Geschichte ist der Film damit ebensowenig geeignet, wie er zum veritablen Melodram taugt. Dafür fehlt ihm schlicht die Emotionalität, was angesichts der geschilderten Schicksale schon eine erstaunliche Fehlleistung ist.

Es ist wahr, der Eindruck, der entsteht ist verhalten, kühl und vorsichtig. Ohne diese ruhige und distanzierte Betrachtungsweise hätte ich mir den Film überhaupt nicht ansehen können, ohne mich winden zu müssen, ohne dass sich mein Inneres so zusammenzieht, dass ich aus dem Raum fliehen muss.

Außerdem, was erwarten die? Was sollen die Leute im Lager machen? Ständig ausflippen, in Tränen ausbrechen, hysterisch lachen? Sie spalten ihre Gefühle ab, um in dieser unmenschlichen Umgebung überleben zu können. Emotionen müssen Pause machen, weil die Kraft nur zum reinen Lebenserhalt reicht. Ich möchte mal sehen, wie die Dame, die den Film zu kühl findet, es schafft im Lager sensibel und offenporig zu bleiben. Das Erlebte ist zu groß für Gefühle. Zu Schrecklich.

Umgekehrt. Die verhaltene Distanziertheit ist die Stärke des Films. Das leichte Zurücktreten und Betrachten. Dabei tut es dem Stoff gut, dass eine europäische Crew ihn bearbeitet hat. Eine Niederländerin als Regisseurin, eine Engländerin als Genia Ginsburg, deutsche und polnische Schauspieler*innen in weiteren Hauptrollen und den Nebenrollen.

Das schafft eine wohltuende Distanz.

Und vor allem tut es der Geschichte gut, dass sie von einer Frau inszeniert wurde. Aus der Sicht einer Frau. Wenn ich mir nur den Trailer eines anderen Gulagfilmes ansehe, Kraj (Landstrich, 2010) von Sergej Utchitel, wird mir vor lauter heroischer Muskelmännlichkeit und den verrohten Stimmen nur übel. Die Frauen dort sind bloße willfährige Opferobjekte. Die Männer protzen rum. (Hier könnte ich einen Emoji einbauen, der grüne Masse speit, weiß nur nicht wie.)

Ach, apropos Männer. Bei „Mitten im Sturm“ gibt es einen russlanddeutschen Arzt, dargestellt von Ulrich Tukur. Er ist Mitgefangener, kennt sich aus mit Heilkräutern der Tundra und Evgenija Ginsburg verliebt sich in ihn. Auch im waren Leben wurde Anton Werner ihr zweiter Ehemann.

Emily Watson und Ulrich Tukur als Genia und Anton

Es gibt sehr starke poetische Momente in diesem Film. Die niederländische Regisseurin Marleen Gorris arbeitet mit subtilen filmischen Mitteln und setzt Gegenstände gekonnt ein. Das rote Tuch, das rote Kleid, die Spiegelscherbe. Ihr wird Arbeitslager-Ästhetik vorgeworfen, aber für mich wird diese Umgebung greifbar und nah.

Pathos und Emotionslosigkeit. Das attestieren viele Rezensionen in Deutschland diesem Werk. Und dass es naiv ist, zu glauben, dass Gedichte in einer solchen Situation überhaupt Raum gehabt hätten und irgendeine Auswirkung. Also die Leute retten würden.

In einem Interview, das Nadeshda Mandelstam, die Witwe des Dichters in den Siebziger Jahren in Amerika gibt, sagt sie in etwa: Wer kann nach Dostojewskij noch an die Macht des geschriebenen Wortes glauben.
(Vermutlich meint sie, wie konnten solche Greuel geschehn, wo es doch schon Dostojewskijs Worte in der Welt geb.)

Beides ist wahr. Dichtung kann niemanden aus dem Gulag rausholen. Und dennoch kann sie es. Und wenn die Verse nur für einige Momente das Gehirn beschäftigen und ablenken.
Wie diese  zum Beispiel:

Man gab mir einen Körper

Man gab mir einen Körper – wer
sagt mir, wozu? Er ist nur mein, nur er.

Die stille Freude: atmen dürfen, leben.
Wem sei der Dank dafür gegeben?

Ich soll der Gärtner, soll die Blume sein.
Im Kerker Welt, da bin ich nicht allein.

Das Glas der Ewigkeit – behaucht:
mein Atem, meine Wärme drauf.

Die Zeichnung auf dem Glas, die Schrift:
du liest sie nicht, erkennst sie nicht.

Die Trübung, mag sie bald vergehn,
es bleibt die zarte Zeichnung stehn.

(Ossip Mandelstam)

Der Dichter war selbst ein Opfer der stalinistischen Säuberungsaktionen und starb 1938 in einem Lager bei Wladiwostok.

Infos und Trailer auch hier: http://www.mittenimsturm-derfilm.de/

Der ganze Film ist übrigens hier zu sehen. aber ich warne Sie. Nur im Zustand seelischer Ausgeglichenheit konsumieren. Und die Taschentücher nicht vergessen!

https://www.youtube.com/watch?v=75VM8EUyd0M

Babuschka

Babuschka. Die Großmutter ist die Hauptperson in diesem starken Song von Dima German.
Ich habe mir überlegt, ihn zu übersetzen, aber ich glaube er ist wirkungsvoller so – ohne Sprache.
Möglich, dass die Übersetzung dem Lied etwas wegnehmen würde.

Nur einige Bilder, die ich beim Hören aufgeschnappt habe:

Ich sehe meine Babuschka mit einem Säugling auf dem Arm.
Ihre Stiefel mit frischem Blut besprenkelt.

Ein irregewordener Alter auf seinen Knien.
Halb bellt er, halb schreit er.*

Nicht weinen Kindchen, weine nicht.
Schlüpf‘ nur unter meinen Schal ich werde dich sanft wiegen.

Es geht um die Vergangenheit, die ich nicht kenne, die auch mich immer wieder einholt. Vielleicht habe ichs auch anders verstanden. Mich jedenfalls hat das Lied tief bewegt.

*das ist aber wahrscheinlich der russische Soldat, der so brüllt und den Alten mit allerlei Schimpfwörtern traktiert…

Die Oma am Keyboard – Maria Pusch

Es ist schon ziemlich schizophren, an einem Tag schreibe ich über Schnittke und seine vernichtende Einstellung zum Schlager und kurze Zeit später poste ich ein fiktives Interview mit der Schlagerkönigin Helene Fischer. Egal wie entgegengesetzt sie sind, beide gehören zu meiner russland-deutschen community. Und obwohl ich so gar nicht auf Schlager stehe, fasziniert mich dieses Phänomen Helene Fischer doch sehr. Denn mit ihrem Gute-Laune-Image widerspricht sie so sehr meinem Bild von Aussiedlern und wie sie zu sein haben, dass ich da genau hingucken will. Ich rede oft von Trauma, das Generationen übergreift und da kommt eine junge Frau, die so gar nichts Verhuschtes, Verbittertes und Verhaltenes hat und macht einfach ihr Ding. Ich glaube noch nicht mal, dass es in der Geschichte ihrer Familie weniger Repressionen gab. Aber vielleicht haben sie einen Weg gefunden damit umzugehen? Mit Humor? Mit Musik? Oder es ist einfach der Segen der späten Geburt?

Aber um das Thema Musik noch etwas abzurunden: am kommenden Sonntag spielt Zhenja Urich in Hamburg beim Festival 48 Stunden Wilhelmsburg (siehe Termine). Seine rockigen Balladen habe ich vor einigen Wochen schon vorgestellt. Und diesmal will ich auch wirklich hingehen.

Dazu also später mehr.

Wenn wir schon bei musikalischen Phänomenen sind, hier ist ein Video von Maria Pusch, einer wolgadeutschen Sängerin, Poetin und Komponistin. Da sitzt diese liebe Oma im Kopftuch an ihrer Elektroorgel und trällert russische und deutsche Lieder, von denen sie viele selbst komponiert hat. Sie ist mittlerweile über 90 und hat über 90 clips auf Youtube gestellt. Chapeau, liebe Maria Pusch, ich hoffe Sie werden uns noch viele weitere Jahre mit ihrer schönen Stimme beglücken:

Mein Heimatland, von und mit Maria Pusch
Mein Heimatland, von und mit Maria Pusch

Bei einem der Kommentare dazu hat sich ein BBC-Journalist aus London zu Wort gemeldet, er hat den Clip seinen Kollegen vorgespielt und ihnen allen standen die Tränen in den Augen. Na, dann wird’s doch hoffentlich bald eine BBC Dokumentation über diese bemerkenswerte Oma geben!

Es gibt eben nicht immer nur die zwei Seiten eine Medaille. Manchmal ist es eher ein Würfel mit sechs Seiten oder ein Oktaeder oder dieses Gebilde mit 20 Flächen, das Liebhaber von Rollenspielen so gern benutzen um ihre magischen Potentiale auszuklamüsern. Es bleibt spannend.

Letzte Ruhe in Chudschand

Meine Tante ist kurz vor ihrer Ausreise nach Deutschland von Kasachstan aus noch Mal nach Leninabad geflogen, da war es gerade wieder in Chudschand umbenannt worden, denn 1992 hatte Lenins Sowjetreich längst aufgehört zu existieren.

Sie wollte auf den christlichen Friedhof von Chutschand, um vom Grab unserer Oma ein wenig Erde mitzunehmen. Sonnengetrocknete Gebirgserde aus dem Dreiländereck von Usbekistan, Tadschikistan und Kirgistan, unweit des Stausees Kairakkum. Ich selbst war nie im Leben dort, aber in einem Film habe ich die Gegend, ohne es zu wissen, schon mal gesehen. Der gefeierte Kinofilm „Luna Papa“ wurde nämlich fast vollständig in Chutschand gedreht. Bei uns wurde er nur gezeigt, weil Moritz Bleibtreu in einer der Hauptrollen zu sehen ist. Das wäre überhaupt eine gute Quizfrage fürs Fernsehen: Was hat Moritz Bleibtreu mit meiner Großmutter Melitta gemeinsam?

Doch zurück zur eigentlichen Geschichte: Meine Tante ist also hin, um ein wenig Erde zu holen, weil irgendjemand ihr das geraten hat, wer weiß, ob ihr jemals wieder zurückkehrt, hat er gesagt, ihr werdet’s sonst noch bereuen.

Vor der Übersiedlung noch Erde mitzunehmen war wohl so üblich bei den Russlanddeutschen, es muss in den 90iger Jahren viel davon über die Grenze gekommen sein. In Einweckgläsern, Filmdosen, Cremeschachteln oder in geschnitzten Holzkisten mit altslawischen Motiven. Wer weiß, wie viel davon aus Versehen verschüttet wurde. Nicht auszudenken.

Deutscher Friedhof in Duschanbe copyright: abenteuerosten
Deutscher Friedhof in Duschanbe
copyright: abenteuerosten 2007

Nun hatten wir aber in Deutschland noch keine Grabstätte, um Großmutters Erde endgültig zur Ruhe zu betten und ihr Mann, unser Großvater, war damals auch noch sehr lebendig, also bat die Tante unsere Eltern, ihr zu helfen und Großmutters symbolische Überreste in einem, wie sag ichs am besten, Leihgrab zwischenzulagern. Aber es sollte selbstverständlich einer Person mit dem gleichen Vornamen gehören. Damit man es besser wiederfinden kann und überhaupt.

Unsere Mutter war damals der Ohnmacht nahe, als die Tante das Einweckglas mit Großmutters Erde vor sie hingestellt hat. Sie hatte regelrechte Panik davor, dass etwas davon auf den Teppich fallen könnte. Sie als Russin hat uns immer strengstens verboten egal was vom Friedhof mitzunehmen. Das gehört sich nicht. Das bringt Unglück, nachher klebt da noch was dran von den bösen Geistern!

Also war es, wie man sich denken kann, meiner Mutter ein starkes Anliegen, diese Erde, bei allem Respekt, so rasch es geht aus dem Haus und in ein passendes Grab zu bekommen. Doch genau das war nicht so einfach. Metas, Hedis und Charlottes gab es zuhauf, aber keine einzige Melitta, im gesamten Umkreis nicht. Warum hat Oma bloß nicht Maria geheißen, oder Anna oder wenigstens Martha.

Doch dann, nach vielen langen Spaziergängen auf den Gottesackern diesseits und jenseits des Rheins hat mein Vater doch noch eine Melitta gefunden. Und was für ein Zufall, auch sie ist im Jahr ’57 gestorben, nur ihr Sternzeichen und ihr Geburtsjahr waren andere. Und ja, die Lebensumstände natürlich auch. Nordrheinwestfalen ist ja nicht Tadschikistan.

Und so wurde unsere Großmutter symbolisch aus dem uranhaltigen Boden von Chudschand, vormals Leninabad, in die nasskalte Meerbuscher Friedhofserde gesenkt, wo sie für fünf Jahre ausharrte, bis mein Großvater verstarb und sie noch einmal in sehr homöopatischer Dosis diesmal in ihre gemeinsame Ruhestätte überführt werden konnte.

Zwar steht auf ihrem neuen Grabstein noch immer ein falsches Geburtsdatum, alte Zeit, neue Zeit, wer soll sich da auskennen mit dem Julianischen Kalender, sie ist ja noch vor der Revolution zur Welt gekommen. Aber was machen diese zwei Wochen schon aus? Wenigstens stimmen ihre Sternzeichen: Eine Skorpiongeborene im Jahr des Hasen. Wenn man den Astrologen glauben schenkt, sind beide Zeichen keine Freunde von großen Veränderungen oder Ortswechseln, aber wer kann es sich schon aussuchen.

Melitta jedenfalls nicht. Es hat so viele hin und hers gegeben in ihrem kurzen Leben. Anfang des Krieges Flucht aus der Ukraine, nach einem kurzen Aufenthalt im zerbombten Deutschland dann die Zwangsumsiedlung in den Ural, bis ihr Mann es schafft, sie zu sich nach Sibirien in ein anderes Lager zu holen. Nach der Aufhebung der Kommandatur einige Monate im warmen Tadschikistan, bis zu ihrem plötzlichen Tod im Krankenhaus von Leninabad. Und selbst nach ihrem Tod hat sie ja noch mehrmals umziehen müssen, bis sie an ihrem endgültigen Bestimmungsort angekommen ist. Bis zu nächsten Migrationswelle zumindest.

Nach dieser Erfolgsgeschichte mit dem Erdaustausch ist übrigens noch ein angeheirateter Onkel zu meinen Eltern gekommen und hat, nach dem er ein Geschenk, einen glänzend neuen Dampfkochtopf für Manty eine echte Mантоварка aus seiner Tasche ausgepackt hat, noch mal vier Einmachgläser auf den Tisch gestellt.

„Ich habe gehört, ihr habt die Melitta umgebettet,“ hat er gesagt „Ich möchte euch bitten, auch mir dabei zu helfen, ich habe auch Erde mitgebracht von drüben aus Frunse und aus Taldy-Kurgan.“

Meine Mutter schnappte nach Luft, „Nicht hierher, sonst fällt es noch runter! Pass doch bitte auf!“

„Das hier sind Großonkel Theophil und Cousine Eugenie und die beiden Schwestern von der Tante Emilie, mit Namen Evangelina und Krezenzia Cramer“, hat er gesagt und meine Mutter erwartungsvoll angeschaut, „Ich habe gehofft, dass ihr mir helfen könnt, die letzte Ruhestatt für sie zu finden.“

Brief an meine Großmutter

Liebe Großmutter, liebe Oma Melitta,

Liebe Großmutter, liebe Oma Melitta,

ich nenne dich Oma, dabei bist du jünger gewesen als ich jetzt, als du gestorben bist. Ich nenne dich Oma, dabei habe ich dich nie kennengelernt, leider. Du warst kaum 42 als du in dieses Krankenhaus gekommen bist in Tadschikistan, Duschanbe hieß die Stadt. Eine Magen-OP. Und am nächsten morgen hat dir eine Hilfskraft, die nicht lesen konnte, was zu trinken gegeben. Dabei stand auf dem Patientenblatt ausdrücklich, kein Wasser. 1957 war das. Die Kommandatur war grade aufgehoben worden und ihr konntet das Arbeitslager, die Sondersiedlung in Sibirien nach zwölf Jahren endlich verlassen. Keine 42 bist du geworden, und hattest sechs Kinder. Die jüngste grade mal zwei. Meine Tante. Sie ist jetzt auch schon viel älter als du es warst und wirklich Großmutter geworden.

Du hast Schlimmes erlebt und Schlimmes gesehen. Und ich, ich schreibe über Trauma und bin nicht traumatisiert. Ich schreibe über meine Ahnen und kenne sie kaum. Ich schreibe über ein Dorf in der Ukraine, wo du gelebt hast, vielleicht sogar in dem du geboren bist und ich war nie dort gewesen. Und wie sich die Situation dort grade entwickelt, werde ich so schnell auch nicht dahin kommen. Mit dem Krieg. Mit den ganzen militärischen Eingriffen und Menschen, die fliehen.

Mein ganzes Projekt kommt mir vor wie ein Strohfeuer. Eine Sammlung von losen Blättern. Nichts Beständiges. Nur Flecken von Wissen auf einem gigantischen Tuch. Wie das ganze Leben, eine Ansammlung von Flecken auf der Hose. Das ist ein Spruch, den mal ein Großvater geprägt hat, irgendein Großvater, nicht meiner.

Was weiß ich von dir? Außer dass alle deine Kinder dich verehren. Du bist früh Waise geworden. Mit fünf wurdest du einer anderen Familie anvertraut, Bauern, weil deine Eltern beide innerhalb von kürzester Zeit an Typhus gestorben sind. Deine Schwester kam in eine Lehrerfamilie, du auf den Bauernhof, wo du schuften musstest. Aber auch viel gelernt hast. Haushalt und Kochen, wie man melkt. Durftest du auch Kind sein? Gab es Pausen in denen du mit den anderen Kindern der Familie gespielt hast oder war alles streng und grau und Arbeit? Es gibt keinen mehr, der mir das erzählen kann. Ich habe deine Schwester Irma kennengelernt, da war ich knapp über zwanzig, aber meinst du ich hab sie damals gefragt? Jetzt ist sie tot. Fast alle aus deiner Generation. Neulich ist ein Kind aus Maries Klasse zum 100. Geburtstag von ihrer Uroma gefahren. Aber in unserer Familie ist keiner 100. Zu viel passiert. Zu schlecht gelebt.

Gab es auch lichte Zeiten? Warst du in deiner Jugend mal außerhalb des Kolonie? Bist du bis nach Odessa gekommen? Ich hab gehört, dort war in den 30iger Jahren Jazz-mäßig unglaublich viel los. Aber hast du dir aus Jazz überhaupt was gemacht? 1935 habt ihr geheiratet. Der Opa und du. Es gibt kein Foto, nichts, was mich an dich erinnert als du jung warst. Du hast deinen Kindern Namen gegeben, die nicht typisch waren in der Kolonie. Sonst wurden die alten Namen weitervererbt. Jakob und Johann und Daniel. Wenn du wüsstest, dass sie seit einigen Jahren so en vogue sind, dass man sie in den Städten auf allen Spielplätzen hört. Auch Emil. Vor zwanzig Jahren undenkbar. Daniel war eigentlich schon länger in. Aber du, du hast diese Tradition unterbrochen. Andere junge Frauen auch und ihr habt euren Kindern für die damalige Zeit moderne Namen gegeben. Willi und Kurt und Walter, Nelli und Erika. Woher kanntet iht sie? Wart ihr doch nicht so abgeschnitten? Gab es Radio aus dem Mutterland? Oder irgendwelche Magazine? Habt ihr eine deutsche Zeitung gelesen? Oder ist es über morphogenetische Felder zu euch herüber geschwappt, was grad Mode ist in Europa.
Du wirst nicht wissen was das ist, morphogenetische Felder von Rupert Sheldrake. Ich fürchte, wenn wir uns gekannt hätten, hätten wir uns nicht so richtig viel zu sagen gehabt. Du hast deine Kinder streng und konsequent erzogen, sagen deine Töchter, du hast alles beisammen gehalten. Die Familie, die beweglichen Güter, deine Gedanken. Aber nachts, hat mein Vater erzählt, nachts hast du dich immer in den Schlaf geweint.

Ich hätte dich gern kennengelernt, auch wenn ich fürchte, dass du meine chaotische Ader, mein mit dem Kopf-in-den-Wolkentum nicht gut heißen würdest. Aber wer weiß?

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Meine Oma kurz vor der Verschleppung mit ihren beiden ältesten Söhnen.

Wenn ich Bilder von dir sehe, es gibt welche aus den Vierzigern, beim Fotografen aufgenommen, mit Bluse uns Brosche, du bist wunderschön, noch jung. Aber mit traurigem Blick. Damals in dieser Ostdeutschen Grenzstadt, ihr habt es geschafft, nach Deutschland zu kommen und du hast in einem Kindergarten als Köchin gearbeitet. Drei deiner Kinder bei dir, drei, die überlebt haben. Und du hast drauf gewartet, dass dein Mann aus der Gefangenschaft zurückkommt. Ihr hattet schon die Fahrkarten in den Westen heißt es, und du hast die beiden großen Jungs täglich raus geschickt, Ausschau halten, ob nicht bei den Kolonnen der Gefangenen, die durch die Stadt stolperten, der Papa dabei wäre. Einen Tag zu lang hast du gezögert. Denn dann kam die rote Armee und alles wurde anders.

Mein Leben verlief unbeschwert. Relativ gesehen. Ich habe einen Kulturschock erlitten. Das ja, ich bin von einer unerklärlichen Krankheit befallen worden und fast erblindet, aber ich habe nicht erlebt, dass mir meine Kinder unter der Hand wegsterben. Ich habe nicht in den Wäldern Holzhacken müssen für keinen Lohn. Als Sklavin der Sieger des Großen Vaterländischen Krieges. Und ich wurde auch nicht von einem Angehörigen der Befreiungsarmee vergewaltigt, während er die Pistole auf meinen fünfjährigen Sohn gehalten hat. Ich kannte die Geschichte mit zwanzig. Und ich habe gezittert anfangs, weil mir der sexuelle Akt nie anders als eine mit Pistole erzwungene Vergewaltigung vorkam. Lange Zeit nicht. Bis ich mich entspannen konnte, weil ich ja in Friedenszeiten lebe. In einer promiskuitiven Gesellschaft, Postachtundsechziger und per se nicht prüde oder verklemmt. Angeblich. Und den älteren Frauen habe ich in meiner Jugend immer ins Gesicht geschaut und mir vorgestellt, wie sie wohl mit fünfzehn oder zwanzig oder fünfundzwanzig ausgesehen haben mochten, als der Krieg vorbei war und ob sie sich rechtzeitig haben retten können, in irgendein Kellerloch oder in den Wald. Aber oft habe ich gedacht, nein, nicht geschafft, sie ist wohl vergewaltigt worden. Und jetzt steigt sie hier aus der Straßenbahn, die Haare leicht lila verfärbt und in beigen Klamotten. Unauffällig. Eine Tarnung.

Aber jetzt kann ich Frauen ansehen, ohne an Vergewaltigung zu denken. Vielleicht liegt es auch daran, dass aus deiner Generation kaum mehr wer übrig ist. Höchstens noch die, die den Krieg als Kinder erlebt haben. Und die hattens auch schlimm. Das weiß ich.

Und stell dir vor. Es ist wieder Krieg in der Ukraine. Als hättest du nicht genug geweint.

 

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