Das unsterbliche Regiment

Der 9. Mai 1945. Für die einen ist es das Kriegsende, für die anderen der Tag des Sieges. Auch in diesem Jahr.

Rostow am Don 2013, Foto: Wikipedia

Seit einiger Zeit werden in einigen Städten der Russischen Föderation Märsche organisiert, um die Erinnerung an diejenigen Großväter hochzuhalten, die im großen vaterländischen Krieg gegen den Faschismus gekämpft und gesiegt haben. Der Ursprung lässt sich nicht ganz festlegen, möglicherweise 2011, möglicherweise früher, möglicherweise im sibirischen Tomsk hat diese Bürgerinitiative begonnen. Sie nennt sich Бессмертный полк also unsterbliches Regiment und ist laut Wikipedia.ru eine historisch-patriotische Bewegung. Ihr wichtigstes Ziel: … сохранение в каждой семье личной памяти о поколении Великой Отечественной войны.

Sprich: die Bewahrung der persönlichen Erinnerung an die Generation des Großen Vaterländischen Krieges in jeder Familie.

2015 sind in Moskau 500 000 Menschen marschiert, haben Bilder und Namen ihrer Großväter und Großmütter hochgehalten und Hymnen gesungen, wie das bekannte Lied „Kraniche“ – in Russland ein Kultlied aus einem Kultfilm zum Thema Krieg. Das unsterbliche Regiment ist übrigens eine nicht weniger bekannte Hymne, daher hat die Bewegung ihren Namen. Auf der dazugehörigen Website im Netz sind vor zwei Jahren 270 000 Einträge von Veteranen und Opfern verzeichnet worden.

Nun haben die russischen Landsmänner im Ausland (die sog. соотечественники) auch in anderen Ländern angefangen, solche Erinnerungsfestzüge abzuhalten. Zum Beispiel in Belarus und in Makedonien, in Südossetien, in Schweden, der Schweiz, in Österreich und ja  – auch in Deutschland. Dem Land, das die Rote Armee damals eingenommen hat. Übrigens gemeinsam mit drei anderen Alliierten, die nach 1945 noch nie einen Siegeszug hier abgehalten haben, oder laufen am 9. Mai Engländer durch die Einkaufspassagen und halten Flaggen hoch?

Aber im letzten und vorletzten Jahr marschierten unsterbliche Regimenter mit russischen Fahnen bereits durch Berlin und Hamburg. Es kamen keine 500 000 aber immerhin einige hundert Teilnehmende zusammen. Für 2017 sieht die Planung vor, die Demonstration auf weitere Städte wie Frankfurt oder München und besondere Stätten wie Dachau auszuweiten.

Auf der Site der russischen Gemeinde in Hamburg steht zum Marsch vom letzten Jahr:
Zum Gedenken an die Veteranen des 2. Weltkriegs beteiligten wir uns an der Aktion „unsterbliches Regiment“. Es war gleichzeitig ein Zeichen gegen den Krieg und für die deutsch-russische Freundschaft.

Aktion Das unsterbliche Regiment 2016 in Hamburg, Foto: Russische Gemeinde Hamburg

Ich frage mich, ob man die Freundschaft nicht auch anders feiern kann, als mit einem Zug durch die Innenstadt, russische und sowjetische Flaggen schwenkend und glorifizierende Kriegshymnen singend. Eine Mini-Siegesparade im Land der Besiegten. In einem Land, das sich mehr der Aufarbeitung der Täterschaften widmet als der Würdigung von Opfern aus eigenen Reihen.

Ein Marsch in Moskau oder Tomsk mag wirklich Ausdruck persönlicher Trauer bedeuten, in den Straßen Berlin bekommt er einen ganz anderen Beigeschmack. Überhaupt stellt sich die Frage, ob ein Aufmarsch mit Flaggen das Mittel der Wahl ist, um gefallene Angehörige zu würdigen und zu betrauern?

Dmitrij Chmelnizki, ein in Berlin lebender Historiker schreibt zu einem Bericht der Zeitung «Русская Германия» (Russisches Deutschland) über die Aufmärsche in Deutschland auf Facebook: Должны быть две демонстрации. Одна с портретами победивших дедушек, а другая, навстречу, с портретами изнасилованных бабушек.

Es müsste zwei Demonstrationen geben. Eine mit den Bildern der gesiegt habenden Großväter und eine andere, entgegenkommende, mit den Portraits der vergewaltigten Großmütter.

Bitter, aber er hat recht. Vielleicht sollte ich da aufkreuzen mit dem Foto meiner Großmutter väterlicherseits, die gegen Kriegsende von einem unbekannten Rotarmisten vergewaltigt wurde, während er mit der Pistole auf meinen fünfjährigen Vater zielte.

Man mag zu dem Hype des Zweiten Weltkrieges in Russland stehen, wie man will, ich finde die Idee, dieses Konzept nach Deutschland zu exportieren und hier eins zu eins übernehmen zu wollen, eher unangebracht.

Hinter dem Post zu dem Bericht von Russkaja Germanija findet sich auch ein weiterer Kommentar eines Users mit einem amerikanisch klingenden Namen: Русские фашисты торжествуют над немецкими, которые победили уже своих фашистов.

Russische Faschisten triumphieren über die deutschen, die ihrerseits ihre eigenen Faschisten besiegt haben.

Auch ein Fundstück zum Thema unsterbliche Regimenter: Der Journalist Aleksandr Twerskoi fragte vor einigen Tagen auf 15Minuten:
А где те деды, которые работали в НКВД, стреляли в спину в заградотрядах, надзирали в ГУЛАГах?

Und wo sind die Opas, die beim NKWD gearbeitet haben, anderen als Sonderermittler in den Rücken geschossen und in den Gulags Aufsicht geführt?

Wo bleiben hier die süßen, stolzen Erinnerungen der Nachkommen? ‚Mein Opa hat alle seine Nachbarn angeschwärzt. Und dann noch seine Ehefrau. Wir danken ihm dafür!‘ […] ‚Und mein Opa hat auf dem Butowski Platz an die 20 Leute erschossen, einige Kinder und Großmütterchen waren sogar auch darunter, ich danke ihm für all das. Heute wohnen wir nicht weit entfernt. Wir erinnern uns, sind stolz drauf. Leben in seinen Spuren.‘

Egal wie ich es wende und drehe, dieser Umzug wirkt nicht wie eine reine Bezeugung von Trauer. Was soll daran für den Frieden sein? Was für die Freundschaft? Da sind doch persönliche Treffen von Veteranen der ehemals feindlichen Armeen etwas anderes. Begegnungen. Kommunikation. Keine Machtdemonstrationen.

Und noch etwas kommt erschwerend dazu: alle russischsprechenden Menschen hierzulande werden zu einer Masse zusammengezogen. Sogar in größeren Zeitungen und in irgendwelchen Studien über die Mediennutzung wird nicht unterschieden: Russlanddeutsche, in Deutschland lebende Russen oder jüdische Kontingentflüchtlinge, alle gelten als eins.

Wenn nun genuine Russen auf die Straße gehen, um ihre heldenhaften Großväter zu feiern, heißt es, Deutschrussen oder Russlanddeutsche hätten sich nicht integriert. Dabei waren ihre Großväter noch bevor sie an die Front konnten, deportiert worden um in der Trudarmija zugrunde zu gehen. Andere wurden als Volksdeutsche in die Wehrmacht verpflichtet und sind keine Veteranen der glorreichen Roten Armee. Obwohl es natürlich auch Ausnahmen gab und wirklich einige auf der russischen Seite gekämpft haben.

Es fällt Außenstehenden schwer, die Zugehörigkeiten und die Seiten zu erkennen. Mich würde es allerdings wundern, wenn von diesen 4000 oder 5000 Menschen, die kommenden Dienstag an acht Standorten Flagge zeigen und Bilder hochhalten werden, überhaupt Deutsche aus Russland mitmarschieren.

Wenn in russischen Vergnügungsparks der Sturm auf einen Miniaturreichstag simuliert wird, ist das eine Sache, wenn Helden des großen Vaterländischen Krieges durch Hamburger Straßen getragen werden, finde ich es mehr als grenzwertig und ganz und gar nicht stimmig. Nur so ein Gefühl.

 

 

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