Nummer fünfundvierzig

Es war die Parade zum wichtigsten Feiertag des Landes, dem Tag des Sieges. Bevor der Präsident auf der Empore am zentralen Platz der Hauptstadt seine Rede hält, geht er medienwirksam die Reihe der ordenbehangenen Veteranen und der beiden Veteraninnen ab und lässt sich von ihnen die Hand schütteln. Das ist der erste Fehler. Ein Greis, dessen eine Gesichtshälfte in dem alten Krieg von einem Geschoss zerfetzt worden war, ergreift seine Hand, als wäre sie ein rettender Anker und hört gar nicht mehr auf, sie zu schütteln. Die Lippen des Mannes bewegen sich, er redet und redet. Er scheint nicht zu merken, dass sein Tyrann weiter will, dass er es eilig hat, schnell auf das Podest will, wo ein kleiner Hocker für ihn aufgestellt ist, damit er von unten imposant wirkt und nicht wie einer, der kaum über den Rand der Ballüstrade hinwegsehen kann. Auch das mit dem Hocker wird sich als ein grober Fehler erweisen.

Üblicherweise werden für diese Veranstaltung alle Veteranen, die noch übrig sind, handverlesen. Es sollen ja regimetreue Anhänger und nicht irgendwelche verbitterte Stinkstiefel sein, die unpatriotische Zweifel hegen. Doch leider haben die Wachkräfte an diesem Tag etwas übersehen. Eine der beiden Omas wurde nämlich vom geheimsten aller Geheimdienste dem HNaA ausgetauscht, als sie auf die Damentoilette ging. Sie wurde gefesselt und geknebelt und eine andere hat ihren Platz eingenommen. Eine Alte sieht aus wie eine andere. Und wird auch gar nicht so genau angeschaut. Auch das erweist sich als fatal.

Genau darauf haben die Österreicher spekuliert und ihre beste Doppelagentin ins Rennen geschickt, die schon im kalten Krieg für den Westen spioniert hat und sich auf ihre alten Tage als Besitzerin eines exklusiven Nagelstudios in der Hauptstadt des Regimes niedergelassen hat.

Als der Potentat an ihr vorbeigeht, und ihr die Hand schütteln will, ergreift sie mit beiden Händen seinen ganzen Arm. In diesem Moment sticht sie mit einer feinen Giftnadel, die an ihrem Kunstnagel befestigt ist, durch den teuren Despotenmantel hindurch in des Despoten Arm. Er merkt nichts.

Das Gift breitet sich langsam aus, während er zur Tribüne schreitet und huldvoll auf die Masse herabschaut. Der Diktator räuspert sich, beginnt seine Rede darüber, wie er zwei Brüdervölker vereinen will, von denen eins gar nicht vereint werden will. Nein, sowas aber auch. Auf einmal gibt er so einen kleinen erstickten Laut von sich und kippt über das Steingelände, von dem aus schon seine diktatorischen Vorgänger den Massen zugewunken haben, sechs Meter in die Tiefe.

Genau in diesem Augenblick schreit die versammelte Menge: Urrrraaa! Urrrrraaaa! Urrrrrraaaaaa!

Autor: Scherbensammlerin

Zwei Länder - verschiedene Identitäten - viele Sichtweisen. Ich sammle Informationsscherben über die Vergangenheit und Gegenwart und füge sie zu einem Mosaik aus Worten und Bildern.

2 Kommentare zu „Nummer fünfundvierzig“

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