Die Geschichte von Lew

Ein Zeitzeugenbericht eingeflochten in einen Essay-Roman. Ein großes Thema sachlich dargebracht. Dieses Buch ist eine Reise zu einem sehr wichtigen und bis heute verdrängten Kapitel der russischen Geschichte.

Wir verstehen nicht, was geschieht. So heißt der neue Roman von Viktor Funk. Es ist ein Zitat aus dem Buch und könnte auch auf uns und unsere Zeit angewendet werden. Im Roman steht dieser Satz zuoberst in einem Brief, den ein GuLag-Insasse im April 1953 an seine Verlobte schreibt, keine vier Wochen bevor es mit Stalin zu Ende geht.

Lew als junger Mann. Foto von: unrecht-erinnern.info

Worum geht’s?
Alexander List, ein junger Historiker aus Deutschland bekommt über Memorial in Moskau den Kontakt zu Überlebenden des GuLag-Systems, um sie zu interviewen. Mit einem von ihnen, Lew Mischenko, begibt er sich auf die Reise nach Petschora, eine Stadt im hohen Norden. Dort war in der Stalinzeit das Lager gewesen, in dem Lew neun Jahre eingesessen hat.

Der Grund von Lews Inhaftierung ist ebenso typisch wie hanebüchen: er war Kriegsgefangener in deutschen Lagern und hat überlebt. Und ist zurück in die Sowjetunion.
Damals wurden alle, die Hitler entkommen waren, und zurückkehrten, in Lager gesteckt. Denn laut der verqueren Logik des damaligen Regimes, konnten sie nur Verräter und Kollaborateure des Nazisystems sein.

Was den jungen Wissenschaftler bei seiner Arbeit umtreibt, ist die Frage: wie war es möglich dieses System, diese Hölle zu überleben? Woraus haben die Menschen die Kraft geschöpft, weiterzumachen?

Petschorlag. Nicht am 1. Mai.

Bei Lew scheint es unter anderem der Briefkontakt nach außen gewesen zu sein, zu seiner Tante und zu seiner Cousine Swetlana, die er später sogar heiraten wird. Eine GuLag-Strafe ohne Briefkontakt war das härteste, das du bekommen konntest. Nach der Lektüre dieses Romans wir es konkret, warum das so ist. Lew jemanden von außerhalb des Lagers. Er war zwar neun Jahre im Lager, aber mit Briefrecht. Oder nein, es waren geschmuggelte Briefe über einen Freund, der dort angestellt war, der das Lager verlassen konnte. So war das!

Lew hatte viel Glück. Immer traf er auf Leute, die ihn unterstützten, hielten, deckten, wie der sudetendeutsche Aufseher im Nazilager, der ihn unter die Fittiche nimmt, ihm eine bessere Arbeit verschafft, auch hier. Eine einzelne Person und schon hast du einen Lichtblick, deine Chancen steigen, du überlebst. Ist es wirklich das? Ist es das, was das Überleben möglich macht?

Funk beschreibt die teils unmenschlichen Ereignisse auf eine sachliche Weise, zurückhaltend ohne Groll. Er lässt die Personen über ihre Erlebnisse sprechen. Oder schweigen.

Auch ich verstehe oft nicht, was geschieht. Wir leben in Zeiten, in denen Russland Organisationen wie Memorial zu unerwünschten Auslandsagenten erklärt, in denen jegliche Opposition ausgelöscht wird und Menschen wegen des Hochhaltens eines weißen Blattes Papier ins Gefängnis kommen. Da ist eine solche Geschichte wichtiger denn je.

Es gibt im gesamten Roman kaum Ausschmückungen. Wir erfahren, dass es im Hotel dunkelrote Vorhänge gibt. Wir erfahren etwas über die Stadt Petschora von einem Taxifahrer. Aber es bleibt mager.
„Warum ist die Straßenbeleuchtung ausgeschaltet?“, fragte Alexander.

„Kein Geld“, sagte der Fahrer, „die Stadt spart.“ Er fuhr langsam, wich Schlaglöchern aus und schwieg. Nach einigen Minuten bog er nach links ab, dann hielt er, stieg aus und lief einige Meter eine Straße nach rechts. Er kam zurück, stieg wieder ein und sagte: „ Das Hotel haben sie restauriert, aber die Straße ist immer noch so beschissen wie früher. Idioten.“
S64

Funk bleibt sparsam mit Beschreibungen, und auch sparsam mit Emotionen. Handlungen werden beschrieben, Gespräche. Auch die Briefe triefen nicht. Und sind dennoch. Stark. Ganz pragmatisch und sachlich beschreibt er Vorgänge, die einem sonst das Blut gefrieren lassen würden.

„Zu meiner Zeit war darin die Lagerverwaltung. Unsere Fenster hier gehen nach Osten. Da vorne war das Lager, nur ein paar hundert Meter entfernt. Der Zaun war drei Meter hoch, aus Holz, Brett an Brett, kein Blick nach draußen, kein Blick nach drinnen. Stacheldraht, Wachtürme. Irgendwo waren die Latrinen. Wir durften hin, wenn wir mussten, aber es gab bestimmte Wege, die wir nicht verlassen durften. Einmal ging Jakowlew, ein Gefangener aus der Sägebrigade nachts raus und wollte nicht zur Latrine laufen. Es war Winter, kalt. Er stellte sich irgendwo hin. Dann ein Schuss. Und Jakowlew war tot.“
S 65

So entsteht eine journalistisch angehauchte Fiktion, ein Zeitzeugenbericht in Romanform mit eingebauter Reise mit der Transsibirischen Eisenbahn. Denn Lew bittet den jungen Wissenschaftler mit ihm an die Stätte seiner Verbannung zu fahren. Funk schildert Tatsachen, man findet keinerlei überflüssigen Beschreibungen, eigentlich gar keine Beschreibungen, weder von Landschaften noch von irgendwelchen Innenansichten von Seelen. Sie sitzen im Abteil, sie trinken Tee, sie reden. Und doch wird die Wucht der Zeit vermittelt. Der Protagonist ist, genau wie der Autor ein unbeteiligter Betrachter, einer der schaut, sammelt ohne zu werten. Und vor allem, der sich selbst komplett herausnimmt. Einmal taucht bei Alexander eine Erinnerung an ein Unglück aus seiner eigenen Familie auf. Sonst zeigt er nichts von sich. Er hat einen Rucksack. Er trinkt Tee. Er hört sich die Aufzeichnungen an.

List fragt, warum Lew in seinem Notizbuch, in dem er Ende der Achtziger seine Erinnerungen festhält, nie über seine Gefühle spricht. Und lässt selbst in diesem Buch die Gefühle außen vor.
Der Stil passt irgendwie zu der Gefühlslage des Physikers Lew. Auch er lamentiert nicht, er beobachtet, sucht einen Ausweg und bringt heisenbergsche Vergleiche, wenn es um seine Gefühle von damals geht:

„Kennen Sie das Unschärfeprinzip?“

„Sie meinen Heisenberg? Ich kann entweder den Ort oder die Geschwindigkeit des Teilchens feststellen, nicht beides. Das?“

„Das ist die einfachste Erklärung, aber das genügt. Mit dem Menschen ist es nicht anders, denke ich heute. Entweder Sie leben in dem Moment, oder Sie denken über Ihre Angst, Hoffnung oder Verzweiflung nach. Und damals hatte ich keine Zeit zum Nachdenken. Ich hatte keine Zeit darüber klar zu werden, was in mir vorgeht. Nicht, dass ich nichts fühlte. Es war das Gegenteil. Die Gefühle waren so intensiv, dass ich nicht über sie nachdenken konnte“, erklärte Lew. Er atmete tief. Seine Schultern hoben und senkten sich.
S. 44

Mehr wird uns als Erklärung nicht gegeben. Ein Paradox: Lew selbst nennt die Umstände seines Lebens Glück. Aber an den entscheidenden Stellen, hatte er ja auch Glück, traf gute Menschen. Wurde nicht erschossen. Er traf die Liebe seines Lebens, blieb mehrere Jahrzehnte mit ihr zusammen, nachdem er in Freiheit war.

Obwohl das Buch stellenweise so wirkt, ist es keine Reportage, folgt einer Handlung, richtet sich nach den Gesetzmäßigkeiten eines Romans. Aber es gibt keine verschiedenen Zeitebenen. Nur das, was die Zeitzeugen im O-Ton erzählen, die Briefe, das Notizbuch. Was ich meine ist, es wird nicht gesprungen. Die Perspektive bleibt in der Gegenwart. Alles wird nur durch die Menschen und ihre Erzählungen gespiegelt.

„Was willst du mir zeigen?“, fragte Lew.
„Wir gehen morgen zum Friedhof, da hat die Stadt eine kleine Gedenktafel aufgestellt.“
„Das ist gut. Sowas sollten sie auch in Moskau machen, aber richtig. Sie müssen auf dem Platz, wo diese hässliche Dscherschinskij-Statue stand, einen Obelisken aufstellen und darauf die Namen aller Gulag-Gefangenen eingravieren. Wie hoch müsste dieser Obelisk sein? Was für eine Zukunft hat dieses Land, wenn es seine Vergangenheit leugnet?“
S88

Der Friedhof von Petschora

Auf Website von Viktor Funk gibt es auch weitere Infos über den Roman und seine Entstehung. So fügt sich alles zusammen. Lews Bildnis, die Briefe, das Foto von den Büchern der Gefangenen.

Es existiert sogar eine eigene Website mit der Lebensgeschichte des echten Lew:

Mit Bildern und Lebenslauf und einem Video, in dem er als Zeitzeuge auftritt. Wir hören seine Stimme, wir erleben, wie ruhig er aus seinem Leben erzählt. Das ist wie extra Material zu dem Roman. Ich finde es immer bereichernd, sich die Menschen hinter den Geschichten anzuschauen, besonders wenn diese Geschichten auf dem wirklichen Leben basieren. Der Autor sagt irgendwo in einem Interview, dass er einiges verändert hat, nicht nur die Namen, auch die Briefe hat er umgeschrieben. Aber er schöpft eben aus einem real existierenden Fundus.

Das Video:

Lew als Zeitzeuge berichtet über seine Erlebnisse in Deutschland.

Viktor Funk war in den Nuller Jahren und 2017 selbst in Moskau und Petschora, hat mit Überlebenden gesprochen, die Orte und Archive aufgesucht. Jetzt sind die Archive wieder geschlossen und Organisationen, die sich wie Memorial um die Aufarbeitung der tragischen Geschichte kümmern, sind die Hände gebunden.

Es ist wohl eine echte Ausnahmesituation, ein echter Glücksfall, dass dieser Briefwechsel aus dem GuLag erhalten geblieben ist, so dass sich Memorial und forschende Wissenschaftler daraus bedienen können. 2012 ist schon einmal ein Buch entstanden, das auf diesen Briefen basiert, ein wissenschaftliches. Es heißt: „Schick einen Gruß, zuweilen durch die Sterne“ von Orlando Figes.

Das Buch von Viktor Funk fokussiert sich nicht nur auf die Briefe allein. Es geht auch um die gemeinsame Reise von Lew und Alexander an den Ort unterwegs, an den Lew verbannt worden war. Mit der Trassibirischen Eisenbahn. Aber so anders ist dieser Bericht als die der üblichen Transsib-Touristen. Nicht zu vergleichen. Denn immer wieder lauscht Alexander seinen Aufzeichnungen, liest die Briefe oder bekommt von Lew Informationen aus erster Hand über sein Leben und Überleben im GuLag.

Petschora, das ist etwa zwei Tagesreisen von Moskau entfernt. Eine Stadt in der Republik Komi, 1946 als Sammelpunkt zum Verschicken von Arbeitsgefangenen an andere finstere Orte entstanden, nach Workuta zum Beispiel. Diese Stadt wurde von Häftlingen gebaut. Und heute? Schulkinder sagen patriotische Sprüche vor patriotischen Denkmälern auf. Wir sind stolz auf die Vergangenheit unserer Stadt.

Heutige Kinder am Heldenehrenmal


Heute leben hier die Nachkommen der Bewacher und der Bewachten. Auch das wird im Roman thematisiert.

Sonst höre ich eher Kritik daran, dass solche Verbannungs- und Lagergeschichten mit viel Pathos und sehr vorwurfsvoll erzählt werden.
Hier ist es nicht der Fall. Lew wurde ein großes Stück Lebenszeit gestohlen, seine Jugendjahre aber er empfindet keine Bitterkeit. Er hatte Swetlana. Siebzig Jahre kannten sie sich, betont er. Später waren da seine Kinder. Freunde fürs Leben, die er in diesen Extremsituationen gewonnen hat. Ein bescheidenes Leben in Moskau. Es ist doch einiges gut gegangen, trotz des unmenschlichen Umgangs mit den Menschen unter Stalin und danach.

Nicht nur für Russland, das sich vor seiner Vergangenheit versteckt, auch für unser Land sind solche Erzählungen von Wert. Denn es gibt ein weiteres wichtiges Thema, das in diesem Buch behandelt wird: Die Sache der Ostarbeiter und Ostarbeiterinnen. Das was im Krieg mit den slawischen Kriegsgefangenen und Zwangsarbeitern und Arbeiterinnen im nationalsozialistischen Reich geschah, bleibt bei uns noch zu sehr unter dem Radar.

Natascha Wodin hat das in ihren späteren Büchern beschrieben– sie ist selbst Kind zweier Ostarbeiter, die nach dem Krieg in Deutschland geblieben sind. Aber sonst bleibt es ein vergrabenes Stück Geschichte, ein Thema, über das wenige Bescheid wissen.

Zwischendurch erinnert sich Alexander an Gespräche mit anderen Zeitzeugen, die er früher besucht hatte. Das, was sie erzählen, wird immer wieder eingeflochten. Eine der interviewten Frauen, Katja Iwanowa, antwortet auf die Frage, warum die Gefangenen in den Untersuchungsgefängnissen ihre Namen und die Strafe in die Wände ritzten: „Damit die anderen es wissen, damit etwas von uns bleibt.“ S112
Darum sind solche Bücher wichtig. Auch ein schöner Titel übrigens… Damit etwas bleibt.

Bei aller Sachlichkeit hatte ich beim Lesen an einigen Stellen einen Kloß im Hals. Oft nicht bei den grausamen Schilderungen des Lagers, sondern wenn etwas gut ausgegangen war, wenn es Hilfe gab.

Die Organisation Memorial wurde erst letztes Jahr als feindlicher Agent eingestuft, darf faktisch nichts mehr. So geht das Land mit der eigenen Erinnerungskultur um. Um so wichtiger sind leise Bücher wie dieses, die beim Lesen ein sehr lautes Echo im Innern hervorrufen.


Viktor Funk,
Wir verstehen nicht, was g
eschieht

Verbrecher Verlag Berlin
Hardcover, 156 Seiten
Preis: 20,00 €
ISBN: 9783957325365

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Fußnoten zur Geschichte

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