Die Reste eines alten Krieges

Die Reste des alten Krieges sind noch nicht ganz verschwunden. Einige Jahrzehnte Ruhe, mehr ist es nicht. Es ist noch nicht so lange her, nur wenige Generationen, da sahen die Straßen von Hamburg ebenso aus wie die von Mariupol, Bakhmut oder Cherson heute. Klaffende Lücken zwischen den Ruinen. Traurige Trümmer*. Überall Steinhaufen, zerrissene Stoffe. Scherben und Blut. Keine Orte für Menschen.
Eine alte Oma aus dem ukrainischen Tschassiv Jar sagte kürzlich einem Reporter gegenüber, sie fühle sich wie in der Hölle.


Wie lange wird es diesmal dauern, bis die sichtbaren Wunden geschlossen sind. Von den unsichtbaren ganz zu schweigen. Wie lange wird dieser vom Kreml immer wieder als militärische Operation bezeichnete Angriff nachwirken? Eine Operation, die Wunden schafft in Städten, Körpern und Seelen der Menschen. Die Auswirkungen werden lange spürbar bleiben, nicht nur in der Ukraine, nicht nur in dem Land, dass der russische Präsident überfallen hat, sondern auch in seinem eigenen.

Legen sich die neuen Wunden über die anderen, älteren? Oder werden die alten Wunden dadurch erst aufgerissen? Das Trauma bei denen, die schon den letzten Krieg erlebt hatten, wird reaktiviert.
Den Alten geht es nicht gut. Die Alpträume sind wieder da.

Doch, solange die Bombenkrater rauchen, ist das eine nebensächliche Frage. Der Krieg muss beendet werden. Darin sind sich alle einig. Dennoch dauert er an. Dauert die Zerstörung an. Die Flucht. Der Tod.

Ich werde nach meiner Meinung gefragt. Meine persönliche Meinung. Als ob das von Bedeutung wäre. Ich werde als etwas zu Russland Gehöriges erkannt und soll Position beziehen. Als ob das am Ausgang des Krieges was ändert, wie ich denke.

Doch dieser Krieg ist nicht nur ein Gemetzel mit Waffen, sondern auch mit Informationen. Es wird versucht, in unsere Köpfe zu kriechen, um dort Stimmungen zu erzeugen. Ich benutze hier die passive Form, weil es ein vielköpfiges, virales Etwas ist, kein eindeutiger Feind, keine Person, kein Gegenüber, mehr so ein Nebel aus Falschinformationen und Gegendarstellungen. Gelenkte Information, eine allgemeine Verunsicherung, und zwar nicht die erste, die es gab.

Außerdem, eine Meinung ist vielleicht nicht wichtig, aber wenn aus vielen Tausend Meinungen eine Masse erzeugt wird, dann gewinnt sie doch Gewicht, dann wird sie zu einem kalkulierbaren Werkzeug. Denn Masse lässt sich manipulieren, Masse lässt sich vereinnahmen und bewegen, wenn auch schwer. Aber wenn sie mal in Fahrt kommt, ist sie schwer aufzuhalten.

Klar ist es nicht leicht, dem auf den Grund zu kommen, was gerade wirklich geschieht, was wahr ist, oder was nur als Mittel zum Zweck der Gefolgschaft dient.

Kann Meinung, als Meinung einer einzelnen diesem Informationsfluss was entgegensetzen? Auch wenn sie an sich nicht wichtig ist. Unterzugehen droht im lauten aufgeregten Geschrei. Leiser ist als die derjenigen, die Straßendemos organisieren, die so überzeugt ihre Meinungen hinausdröhnen und nicht merken, dass es doch nur Parolen sind, dass sie einem Fänger auf den Leim gehen. Sollen sie sich benutzen lassen. Irgendwann gibt es ein böses Erwachen. Hoffentlich.

Vor Wochen war ich bei einem Seminar mit lauter jungen Leuten aus der rd community. Sie waren verzweifelt, denn der Informationskrieg hat tiefe Breschen in ihre Familien geschlagen. Alle Familien waren betroffen. Meine Aufgabe war es, einige Erklärungen zu präsentieren, weshalb Verwandte, Freunde, nicht nur ältere, auch viele Junge sind darunter, so empfänglich für Putins Propaganda sind. Wie es zu diesem Konflikt der Generationen kommen konnte. In manchen Familien wird nicht mehr über die Ukraine gesprochen. In anderen wird noch immer heftig gestritten. Besonders zwischen der Kinder- und der Elterngeneration. Aber nicht immer sind diejenigen, die eine vom Kreml gestreute vertreten, älter. Nicht immer. Aber oft.

Ich habe nicht gesagt: kehrt der Familie den Rücken. Basta. Macht euer Ding. Das ist zwar legitim, aber nicht für alle machbar. Obwohl, wenn ich so recht drüber nachdenke. Generationenkonflikte gab es schon immer, seit den alten Griechen und noch davor. Die Jungen haben anders gedacht, die Jungen mussten in die Welt, raus aus der Sphäre der Alten. Das ist normal.

Aber wenn sich Kriegsmächte in die Familien einmischen, ist nichts mehr normal. Und in der seltsamen abgeschotteten Geschichte der RD ist der Generationenkonflikt anders. Nicht wie bei den Hiesigen und ihren Achtundsechziger-Eltern.

Zunächst ist da die Frage der Generationen. Meine These ist, bei Russlanddeutschen es nicht nicht nur der Konflikt zwischen zwei aufeinanderfolgenden Generationen. Diejenigen, die hier sozialisiert wurden oder hier geboren sind, sind mindestens drei Generationen von ihren Eltern entfernt. Mindestens.
Durch die konservierte Kultur innerhalb der zum Teil abgeschotteten deutschen Gemeinschaften vor dem Zweiten Weltkrieg, sind einige auf dem Stand von 1860 geblieben. Andere sind bei 1920. wieder andere in den 1950erjahren angekommen. Diese Siedlungen waren Konserven, die keine Luft und wenige Einflüsse hineingelassen haben. Und nach dem Krieg, in der Gefangenschaft, auch da war nichts mit Revolution. Mit freier Liebe. Mit niederreißen von Zäunen. Wie denn, wenn du hinter Stacheldraht gefangen bist. Abgeschnitten von allem.

Steile These? Vielleicht.
Aber allein der Wechsel der Systeme, die meisten der Elterngeneration sind in einem anderen System aufgewachsen, ist ein tiefer Abgrund. Und ich werte nicht. Es war einfach anders. Eine andere Welt. Aber egal, wie ich das bewerten würde, der Sowjetstaat war ebenfalls abgeschottet. Es ist wie im eigenen Saft schmoren. Nur wenige durften raus.

Konserve ist ein gar nicht so falsches Bild dafür. Es hat sich eine eigene Kultur ausgebildet, nicht schlechter, nur anders, die Verbindung, der Fluss und der Austausch mit anderen Ländern waren erschwert. Die Jugend damals war hungrig nach frischen Ideen. Alle jagten nach Platten aus dem Westen, obwohl sie verpönt war und anfangs sogar verboten. Abba im Radio, das war schon später.

Ich spreche jetzt für die zweite Generation der Russlanddeutschen hier, oder die anderthalbte. Die meisten unserer Eltern kamen als junge oder erwachsene Menschen in ein neues System. In ein fremdes Land. Das sie nicht mit offenen Armen empfangen hat. Das sie nicht anerkannt hat. So hingen sie lose im Raum. Weder dort zugehörig, noch hier.

Erst vor kurzem war im swr Fernsehen eine Doku zu sehen, wo es hieß: Die Russlanddeutschen. Sie leben unter uns, sie arbeiten bei uns, aber gehören sie wirklich dazu? So oder so ähnlich. Keine Lust, das jetzt nachzuschauen.
Wir waren, und wir sind noch immer Fremdkörper. Also ich würde mich nicht wundern, wenn sich einige dadurch nicht gerade angespornt fühlen, sich zu integrieren. Wenn sie sich dem alten, dem ursprünglichen System zuwenden. Es sind so viele Kränkungen entstanden. Und Kränkungen sind nicht zu unterschätzen.

Damals, 2016, als der Skandal um die angebliche Vergewaltigung einer Teenagerin aus Berlin unsere community erschütterte, sprach der russische Außenminister Lawrow, der nämliche wie heute, von „unserem“ Mädchen Lisa.
Was bedeutet im Klartext: Wir haben euch im Blick. Wir haben euch nicht vergessen. Ihr gehört zu uns.
Wenn das keine Drohung ist. Und ein Rattenfängertrick.

Die erfahrene Kränkung, dieses Nichtdazugehören der Neuangekommenen ist ein starkes Plus für die russischen Machthaber. Da hätte Deutschland etwas sensibler und klüger handeln müssen. Statt dessen haben als viele von uns kamen, windige Demagogen den Fremdenhass zu lenken gewusst und so Wählerstimmen für sich gewonnen. Ich denke da nicht nur an Lafontaine. Auch Norbert Blüm hat mal etwas von „deutschem Schäferhund“ gefaselt. Selber Schuld.

Es gibt noch andere Gründe für eine Zuwendung zu Russland, dem Nachfolgestaat der Sowjetunion. Nicht alle sind gleich gewichtig. Nicht alle will ich hier aufzählen.

Mittlerweile denke ich, dass einer der wichtigsten Gründe die Unwissenheit über die eigene Geschichte ist.
Woher sollen sie sie auch kennen? Man muss sich schon aktiv darum bemühen. Oder das zweifelhafte Glück haben, dass die Alten erzählen.

Die meisten Russlanddeutschen, die hier leben, kennen ihre eigene Geschichte nicht. Weil sie nicht vorkam. Dort nicht. Und hier auch nicht. Die Alten, die Erlebnisgeneration redete nicht, aus Scham, aus Schmerz, weil sie keine Worte für die Schrecknisse hatte. Weder in den Schulbüchern noch im Diskurs kommen wir groß vor. Rausgefallen aus der Gesamtgeschichte. Was ein Glück für die russische Propagandist*innen. Da haben sie ein leichtes Spiel.

So kommt es, dass diejenigen, die Stalin verherrlichen plötzlich eine Option sind. Dabei war es dieser schnurrbärtige Onkel, der alle ins Lager gesteckt hat. Auch die wolgadeutsche Oma, auch die ukrainedeutschen Großeltern auch die Vorfahren aus den deutschen Dörfern auf dem Kaukasus.
Mit denselben menschenverachtenden und entwertenden Mechanismen, wird und wurden Gründe gefunden, andere Gruppen zu diskreditieren. Unter Stalin wie unter Putin. Es ist das Gleiche in Grün. In Z. Nur dass die jetzigen zu verdammenden Gruppen das ukrainische Volk, LGBTQ-Leute oder der Westen allgemein sind.
Doch wer diese Mechanismen nicht kennt, wer für die eigene Geschichte blind ist, wird den listigen Worten glauben.

Natürlich ist die entfesselte zielgerichtete Propaganda auf allen Kanälen die die russische Regierung, trotz Sanktionen streut, ein sehr wichtiger Baustein. Sie säen Desinformation, sie säen ihre Sicht der Dinge, egal ob sie zutrifft oder erlogen ist.
Aber es muss etwas da sein, was empfänglich ist, damit diese Saat aufgeht. Und anscheinend geht sie auf. Gekränkte Identität, Unwissenheit der eigenen Geschichte. Eine Verklärung der heilen Kindheit in der Sowjetunion. Der Verdacht, dass der Westen seine eigene Wahrheit erzählt. Tut er. Es ist auch gut, alles zu hinterfragen. Aber bitte nicht, in dem man sich der nächstbesten Diktatur in den Rachen wirft.

Wie aber damit umgehen? Was tun, wenn im Freundeskreis und in der Familie die Narrative des Kreml verteidigt werden? Ihnen allen den Rücken drehen? Über seinem Teller mit Pelmeni beim nächsten runden Geburtstag den Groll runterschlucken und schweigend nicken?

Es gibt drei Wege. Trennung. Selbstverleugnung oder ewiger Streit. Nicht so schön, aber so sind nunmal die Möglichkeiten. Doch das habe ich nicht gesagt.
Das ist es nicht, was ich allen auf den Weg geben wollte. Sondern folgendes: Bildet Banden! Sucht euch Gleichgesinnte. Wenn ihr euch informiert, werdet ihr merken, dass es nur wenige sind, nicht die Mehrheit, die der Kremlpropaganda auf den Leim gehen oder die von ihm korrumpiert lauthals seine verdrehten Wahrheiten hinausschreien. Es ist nicht die große Mehrheit. Sucht die anderen, vernetzt euch mit ihnen.

Weiterer Punkt: die eigene Geschichte kennen. Dann kann dir niemand erzählen, wer und was du sein sollst. Das eigene Selbstbild stärken ist wichtig.

Es kostet außerdem viel Kraft Solange diese vorherrschende Spannung aushalten zu können. Also Kraft sammeln. Gut zu sich sein.

Es gibt genug fernöstliche oder fernwestliche Techniken, um zu lernen, den eigenen Raum einzunehmen, für sich einzustehen, im Gleichgewicht zu bleiben. Egal, ob Yoga, Kampfsport oder Haka. Von mir aus auch Tango oder Gesang oder kontemplative Meditation. Alles was die eigene Wahrnehmung stärkt, alles was den eigenen Raum festigt, ist förderlich.

Was noch? Wenn Argumente nichts fruchten? Wenn sich alle mit vermeintlichen Fakten zu überschreien versuchen?

Aushalten. Abwarten. Ausharren und versuchen, sie alle dennoch irgendwie zu lieben.
Die Zeit wird nicht alle Wunden heilen, aber auch dieser Krieg hat irgendwann ein Ende. Irgendwann können wir uns um die Ruinen kümmern. Aufräumen, sortieren und die Spuren des Krieges beseitigen, der dann seinerseits zu einem alten Krieg geworden sein wird.

Nummer zehn

In einem Varieté-Theater in einem eher heruntergekommenen Viertel der Stadt führt ein Magier allabendlich den Trick mit der verschwundenen Jungfrau vor. Nur nimmt er keine Jungfrauen sondern lieber Diktatoren.

In der zweiten Reihe sitzt eines Abends zufällig ein uns bekannter Diktator.
Er ziert sich, auf die Bühne zu steigen. Doch als sein Außenminister ihn aufmunternd, aber männlich bestimmt in die Rippen stößt, meldet er sich doch freiwillig. Er weiß ja noch nicht, für welchen Trick er da herhalten muss. Der Diktator steigt also hoch auf die Bühne, begibt sich in den roten Schrank und – Simsalabim – er ist weg für immer.

Falls der Außenminister misstrauisch werden sollte, bittet der Zauberer ihn nach der Show zum Bühnenausgang zu kommen. Und lässt ihn ebenfalls verschwinden.

Dieser Magier ist sehr tüchtig, zwei Vorstellungen am Nachmittag, eine am Abend. Einen Tag Pause pro Woche. So kommen ganz schön viele Diktatoren zusammen.

Nummer neun

Zwei Agenten der Karmapolizei manifestieren sich in der Nacht von Montag auf Dienstag um 2.33 Ortszeit im Schlafgemach des Despoten.

„Hey du, aufwachen, mitkommen“, sagt der erste Agent in einem Ton, der keinen Widerspruch duldet. Er hat eine Sonnenbrille und einen Anzug a la Blues Brothers an.

Der Tyrann blinzelt. Mit einer Hand versucht er, nach dem Alarmknopf zu tasten, doch dieser verschmort unter dem Blick des Agenten zu rotem Gelee und schwappt zu einer Pfütze auf dem Nachttisch zusammen. Erschrocken zieht der Despot seine Hand zurück.

„Mitkommen, sag ich“, wiederholt der Karmapolizist.

„Der hat noch nicht mal sein Köfferchen gepackt“, wendet der zweite Agent ein und schüttelt seine Locken. Er trägt keine Sonnenbrille, dafür einen hellen Kamelhaarmantel über einem ausgewaschenen Nirvana-T-Shirt.

„Weißt du denn nicht *Vorname, Vatersname*, dass man in einer Diktatur auf alles gefasst sein muss? Na, macht nichts. Du brauchst nichts mitzunehmen. Dort, wo wir dich hinbringen, brauchst du eh nichts. Nicht wirklich. “

„Ich komme nicht mit.“

„Als ob“, sagt der erste Agent. Er hebt seine Hand und ein Blatt Papier kommt daraus hervor, wie aus einem Drucker und auch mit dem passenden ratternden Geräusch. Aus der bloßen Hand, wohlgemerkt. Aus der anderen schiebt sich ein edler Füllfederhalter einer namhaften Schweizer Firma.

„Noch eins. Vorher musst du das hier unterschreiben.“ Der Blues Brother Typ hält ihm den Vertrag unter die Nase.

„Hier steht, dass wir dich und deine Familie verschonen und du all deine Besitztümer behalten darfst, wenn du abdankst und freiwillig mitkommst. Los, setz deinen *Vorname des Diktators im Diminutiv* darunter.“

Der Despot nimmt ihm den Stift aus der Hand und setzt zitternd seine Unterschrift auf das Blatt. Sofort geht der Vertrag in Flammen auf und ein zarter Ascheregen rieselt auf den teuren Langflorteppich.

„Scherz. Wir verhandeln doch nicht mit solchen wie dir. Our boss is a bitch, baby.“

In einer Wolke aus Glitzer und buntem Rauch verschwinden die drei Gestalten und hinterlassen einige Ascheflocken und eine rote Pfütze dort, wo früher ein Alarmknopf war. Der Diktator taucht nie wieder auf. Zumindest nicht in dieser Dimension.

Nummer zwei

In den Staatsmedien des besagten Landes kursiert immer wieder die folgende Meldung: Die *westliches Land mit drei Buchstaben* würden in *dem von unserer Diktatur angegriffenen Land* angeblich gleich mehrere Geheimlabore für Biowaffen unterhalten. Dort würden sie irgendwelche Viren züchten, die durch Zugvögel verbreitet werden. Mit der Absicht, alle Slawen auszulöschen.
Soweit das gängige Narrativ. Doch wie unterscheiden Viren zwischen Slawen und Nichtslawen? Was passiert mit Leuten, die gemischt sind und wie unterscheiden sie zwischen russischen und ukrainischen, bzw. belarusischen Wirtskörpern? Doch solch feine Nuancen der Virologie/Genealogie sollen uns hier nicht weiter beschäftigen. Hauptsache ist, die feindlichen Wissenschaftler pflanzen tödliche Viren in Wildenten, Krähen und Kraniche.

Folgendes Szenario: Unser Diktator ist unterwegs in seinem Leichtfluggerät, um einigen in Gefangenschaft geborenen Kranichen den Weg zu den besten Nistplätzen zu zeigen, er liebt Tiere, ganz besonders Kraniche. Die Jungvögel begleiten sein Flugzeug mit tapsigem Flügelschwingen, eine Feder löst sich, eine dieser kleinen, fast durchscheinenden Flaumfedern, und landet auf Wange des Tyrannen.

Der Rest ist Geschichte.

Die Geschichte von Lew

Ein Zeitzeugenbericht eingeflochten in einen Essay-Roman. Ein großes Thema sachlich dargebracht. Dieses Buch ist eine Reise zu einem sehr wichtigen und bis heute verdrängten Kapitel der russischen Geschichte.

Wir verstehen nicht, was geschieht. So heißt der neue Roman von Viktor Funk. Es ist ein Zitat aus dem Buch und könnte auch auf uns und unsere Zeit angewendet werden. Im Roman steht dieser Satz zuoberst in einem Brief, den ein GuLag-Insasse im April 1953 an seine Verlobte schreibt, keine vier Wochen bevor es mit Stalin zu Ende geht.

Lew als junger Mann. Foto von: unrecht-erinnern.info

Worum geht’s?
Alexander List, ein junger Historiker aus Deutschland bekommt über Memorial in Moskau den Kontakt zu Überlebenden des GuLag-Systems, um sie zu interviewen. Mit einem von ihnen, Lew Mischenko, begibt er sich auf die Reise nach Petschora, eine Stadt im hohen Norden. Dort war in der Stalinzeit das Lager gewesen, in dem Lew neun Jahre eingesessen hat.

Der Grund von Lews Inhaftierung ist ebenso typisch wie hanebüchen: er war Kriegsgefangener in deutschen Lagern und hat überlebt. Und ist zurück in die Sowjetunion.
Damals wurden alle, die Hitler entkommen waren, und zurückkehrten, in Lager gesteckt. Denn laut der verqueren Logik des damaligen Regimes, konnten sie nur Verräter und Kollaborateure des Nazisystems sein.

Was den jungen Wissenschaftler bei seiner Arbeit umtreibt, ist die Frage: wie war es möglich dieses System, diese Hölle zu überleben? Woraus haben die Menschen die Kraft geschöpft, weiterzumachen?

Petschorlag. Nicht am 1. Mai.

Bei Lew scheint es unter anderem der Briefkontakt nach außen gewesen zu sein, zu seiner Tante und zu seiner Cousine Swetlana, die er später sogar heiraten wird. Eine GuLag-Strafe ohne Briefkontakt war das härteste, das du bekommen konntest. Nach der Lektüre dieses Romans wir es konkret, warum das so ist. Lew jemanden von außerhalb des Lagers. Er war zwar neun Jahre im Lager, aber mit Briefrecht. Oder nein, es waren geschmuggelte Briefe über einen Freund, der dort angestellt war, der das Lager verlassen konnte. So war das!

Lew hatte viel Glück. Immer traf er auf Leute, die ihn unterstützten, hielten, deckten, wie der sudetendeutsche Aufseher im Nazilager, der ihn unter die Fittiche nimmt, ihm eine bessere Arbeit verschafft, auch hier. Eine einzelne Person und schon hast du einen Lichtblick, deine Chancen steigen, du überlebst. Ist es wirklich das? Ist es das, was das Überleben möglich macht?

Funk beschreibt die teils unmenschlichen Ereignisse auf eine sachliche Weise, zurückhaltend ohne Groll. Er lässt die Personen über ihre Erlebnisse sprechen. Oder schweigen.

Auch ich verstehe oft nicht, was geschieht. Wir leben in Zeiten, in denen Russland Organisationen wie Memorial zu unerwünschten Auslandsagenten erklärt, in denen jegliche Opposition ausgelöscht wird und Menschen wegen des Hochhaltens eines weißen Blattes Papier ins Gefängnis kommen. Da ist eine solche Geschichte wichtiger denn je.

Es gibt im gesamten Roman kaum Ausschmückungen. Wir erfahren, dass es im Hotel dunkelrote Vorhänge gibt. Wir erfahren etwas über die Stadt Petschora von einem Taxifahrer. Aber es bleibt mager.
„Warum ist die Straßenbeleuchtung ausgeschaltet?“, fragte Alexander.

„Kein Geld“, sagte der Fahrer, „die Stadt spart.“ Er fuhr langsam, wich Schlaglöchern aus und schwieg. Nach einigen Minuten bog er nach links ab, dann hielt er, stieg aus und lief einige Meter eine Straße nach rechts. Er kam zurück, stieg wieder ein und sagte: „ Das Hotel haben sie restauriert, aber die Straße ist immer noch so beschissen wie früher. Idioten.“
S64

Funk bleibt sparsam mit Beschreibungen, und auch sparsam mit Emotionen. Handlungen werden beschrieben, Gespräche. Auch die Briefe triefen nicht. Und sind dennoch. Stark. Ganz pragmatisch und sachlich beschreibt er Vorgänge, die einem sonst das Blut gefrieren lassen würden.

„Zu meiner Zeit war darin die Lagerverwaltung. Unsere Fenster hier gehen nach Osten. Da vorne war das Lager, nur ein paar hundert Meter entfernt. Der Zaun war drei Meter hoch, aus Holz, Brett an Brett, kein Blick nach draußen, kein Blick nach drinnen. Stacheldraht, Wachtürme. Irgendwo waren die Latrinen. Wir durften hin, wenn wir mussten, aber es gab bestimmte Wege, die wir nicht verlassen durften. Einmal ging Jakowlew, ein Gefangener aus der Sägebrigade nachts raus und wollte nicht zur Latrine laufen. Es war Winter, kalt. Er stellte sich irgendwo hin. Dann ein Schuss. Und Jakowlew war tot.“
S 65

So entsteht eine journalistisch angehauchte Fiktion, ein Zeitzeugenbericht in Romanform mit eingebauter Reise mit der Transsibirischen Eisenbahn. Denn Lew bittet den jungen Wissenschaftler mit ihm an die Stätte seiner Verbannung zu fahren. Funk schildert Tatsachen, man findet keinerlei überflüssigen Beschreibungen, eigentlich gar keine Beschreibungen, weder von Landschaften noch von irgendwelchen Innenansichten von Seelen. Sie sitzen im Abteil, sie trinken Tee, sie reden. Und doch wird die Wucht der Zeit vermittelt. Der Protagonist ist, genau wie der Autor ein unbeteiligter Betrachter, einer der schaut, sammelt ohne zu werten. Und vor allem, der sich selbst komplett herausnimmt. Einmal taucht bei Alexander eine Erinnerung an ein Unglück aus seiner eigenen Familie auf. Sonst zeigt er nichts von sich. Er hat einen Rucksack. Er trinkt Tee. Er hört sich die Aufzeichnungen an.

List fragt, warum Lew in seinem Notizbuch, in dem er Ende der Achtziger seine Erinnerungen festhält, nie über seine Gefühle spricht. Und lässt selbst in diesem Buch die Gefühle außen vor.
Der Stil passt irgendwie zu der Gefühlslage des Physikers Lew. Auch er lamentiert nicht, er beobachtet, sucht einen Ausweg und bringt heisenbergsche Vergleiche, wenn es um seine Gefühle von damals geht:

„Kennen Sie das Unschärfeprinzip?“

„Sie meinen Heisenberg? Ich kann entweder den Ort oder die Geschwindigkeit des Teilchens feststellen, nicht beides. Das?“

„Das ist die einfachste Erklärung, aber das genügt. Mit dem Menschen ist es nicht anders, denke ich heute. Entweder Sie leben in dem Moment, oder Sie denken über Ihre Angst, Hoffnung oder Verzweiflung nach. Und damals hatte ich keine Zeit zum Nachdenken. Ich hatte keine Zeit darüber klar zu werden, was in mir vorgeht. Nicht, dass ich nichts fühlte. Es war das Gegenteil. Die Gefühle waren so intensiv, dass ich nicht über sie nachdenken konnte“, erklärte Lew. Er atmete tief. Seine Schultern hoben und senkten sich.
S. 44

Mehr wird uns als Erklärung nicht gegeben. Ein Paradox: Lew selbst nennt die Umstände seines Lebens Glück. Aber an den entscheidenden Stellen, hatte er ja auch Glück, traf gute Menschen. Wurde nicht erschossen. Er traf die Liebe seines Lebens, blieb mehrere Jahrzehnte mit ihr zusammen, nachdem er in Freiheit war.

Obwohl das Buch stellenweise so wirkt, ist es keine Reportage, folgt einer Handlung, richtet sich nach den Gesetzmäßigkeiten eines Romans. Aber es gibt keine verschiedenen Zeitebenen. Nur das, was die Zeitzeugen im O-Ton erzählen, die Briefe, das Notizbuch. Was ich meine ist, es wird nicht gesprungen. Die Perspektive bleibt in der Gegenwart. Alles wird nur durch die Menschen und ihre Erzählungen gespiegelt.

„Was willst du mir zeigen?“, fragte Lew.
„Wir gehen morgen zum Friedhof, da hat die Stadt eine kleine Gedenktafel aufgestellt.“
„Das ist gut. Sowas sollten sie auch in Moskau machen, aber richtig. Sie müssen auf dem Platz, wo diese hässliche Dscherschinskij-Statue stand, einen Obelisken aufstellen und darauf die Namen aller Gulag-Gefangenen eingravieren. Wie hoch müsste dieser Obelisk sein? Was für eine Zukunft hat dieses Land, wenn es seine Vergangenheit leugnet?“
S88

Der Friedhof von Petschora

Auf Website von Viktor Funk gibt es auch weitere Infos über den Roman und seine Entstehung. So fügt sich alles zusammen. Lews Bildnis, die Briefe, das Foto von den Büchern der Gefangenen.

Es existiert sogar eine eigene Website mit der Lebensgeschichte des echten Lew:

Mit Bildern und Lebenslauf und einem Video, in dem er als Zeitzeuge auftritt. Wir hören seine Stimme, wir erleben, wie ruhig er aus seinem Leben erzählt. Das ist wie extra Material zu dem Roman. Ich finde es immer bereichernd, sich die Menschen hinter den Geschichten anzuschauen, besonders wenn diese Geschichten auf dem wirklichen Leben basieren. Der Autor sagt irgendwo in einem Interview, dass er einiges verändert hat, nicht nur die Namen, auch die Briefe hat er umgeschrieben. Aber er schöpft eben aus einem real existierenden Fundus.

Das Video:

Lew als Zeitzeuge berichtet über seine Erlebnisse in Deutschland.

Viktor Funk war in den Nuller Jahren und 2017 selbst in Moskau und Petschora, hat mit Überlebenden gesprochen, die Orte und Archive aufgesucht. Jetzt sind die Archive wieder geschlossen und Organisationen, die sich wie Memorial um die Aufarbeitung der tragischen Geschichte kümmern, sind die Hände gebunden.

Es ist wohl eine echte Ausnahmesituation, ein echter Glücksfall, dass dieser Briefwechsel aus dem GuLag erhalten geblieben ist, so dass sich Memorial und forschende Wissenschaftler daraus bedienen können. 2012 ist schon einmal ein Buch entstanden, das auf diesen Briefen basiert, ein wissenschaftliches. Es heißt: „Schick einen Gruß, zuweilen durch die Sterne“ von Orlando Figes.

Das Buch von Viktor Funk fokussiert sich nicht nur auf die Briefe allein. Es geht auch um die gemeinsame Reise von Lew und Alexander an den Ort unterwegs, an den Lew verbannt worden war. Mit der Trassibirischen Eisenbahn. Aber so anders ist dieser Bericht als die der üblichen Transsib-Touristen. Nicht zu vergleichen. Denn immer wieder lauscht Alexander seinen Aufzeichnungen, liest die Briefe oder bekommt von Lew Informationen aus erster Hand über sein Leben und Überleben im GuLag.

Petschora, das ist etwa zwei Tagesreisen von Moskau entfernt. Eine Stadt in der Republik Komi, 1946 als Sammelpunkt zum Verschicken von Arbeitsgefangenen an andere finstere Orte entstanden, nach Workuta zum Beispiel. Diese Stadt wurde von Häftlingen gebaut. Und heute? Schulkinder sagen patriotische Sprüche vor patriotischen Denkmälern auf. Wir sind stolz auf die Vergangenheit unserer Stadt.

Heutige Kinder am Heldenehrenmal


Heute leben hier die Nachkommen der Bewacher und der Bewachten. Auch das wird im Roman thematisiert.

Sonst höre ich eher Kritik daran, dass solche Verbannungs- und Lagergeschichten mit viel Pathos und sehr vorwurfsvoll erzählt werden.
Hier ist es nicht der Fall. Lew wurde ein großes Stück Lebenszeit gestohlen, seine Jugendjahre aber er empfindet keine Bitterkeit. Er hatte Swetlana. Siebzig Jahre kannten sie sich, betont er. Später waren da seine Kinder. Freunde fürs Leben, die er in diesen Extremsituationen gewonnen hat. Ein bescheidenes Leben in Moskau. Es ist doch einiges gut gegangen, trotz des unmenschlichen Umgangs mit den Menschen unter Stalin und danach.

Nicht nur für Russland, das sich vor seiner Vergangenheit versteckt, auch für unser Land sind solche Erzählungen von Wert. Denn es gibt ein weiteres wichtiges Thema, das in diesem Buch behandelt wird: Die Sache der Ostarbeiter und Ostarbeiterinnen. Das was im Krieg mit den slawischen Kriegsgefangenen und Zwangsarbeitern und Arbeiterinnen im nationalsozialistischen Reich geschah, bleibt bei uns noch zu sehr unter dem Radar.

Natascha Wodin hat das in ihren späteren Büchern beschrieben– sie ist selbst Kind zweier Ostarbeiter, die nach dem Krieg in Deutschland geblieben sind. Aber sonst bleibt es ein vergrabenes Stück Geschichte, ein Thema, über das wenige Bescheid wissen.

Zwischendurch erinnert sich Alexander an Gespräche mit anderen Zeitzeugen, die er früher besucht hatte. Das, was sie erzählen, wird immer wieder eingeflochten. Eine der interviewten Frauen, Katja Iwanowa, antwortet auf die Frage, warum die Gefangenen in den Untersuchungsgefängnissen ihre Namen und die Strafe in die Wände ritzten: „Damit die anderen es wissen, damit etwas von uns bleibt.“ S112
Darum sind solche Bücher wichtig. Auch ein schöner Titel übrigens… Damit etwas bleibt.

Bei aller Sachlichkeit hatte ich beim Lesen an einigen Stellen einen Kloß im Hals. Oft nicht bei den grausamen Schilderungen des Lagers, sondern wenn etwas gut ausgegangen war, wenn es Hilfe gab.

Die Organisation Memorial wurde erst letztes Jahr als feindlicher Agent eingestuft, darf faktisch nichts mehr. So geht das Land mit der eigenen Erinnerungskultur um. Um so wichtiger sind leise Bücher wie dieses, die beim Lesen ein sehr lautes Echo im Innern hervorrufen.


Viktor Funk,
Wir verstehen nicht, was g
eschieht

Verbrecher Verlag Berlin
Hardcover, 156 Seiten
Preis: 20,00 €
ISBN: 9783957325365

Wann ist die dunkle Nacht zu ende?

Wieder mal ist was passiert. Und wiedermal ist eine kleine Anzahl derer, die laut schreien am besten zu hören. Die mit den Autokorsos. Diejenigen, die die russische Trikolore schwenken, weil sie sich diskriminiert fühlen. Fehlt noch, dass sie das „Zett“ in den Farben des St. Georg-Bandes vor sich hertragen.

Es ist das System, das verurteilt werden muss. Foto: Artem Chernow, 1990

Selbst wenn sie aus Angst vor Diskriminierung mitlaufen, oder eher fahren, werden sie von außen als pro-russisch gesehen. Als diejenigen, die den Angriff gutheißen.

Ich weiß, das alles ist eher nebensächlich.
Als ob es im Moment das Wichtigste wäre, nach sechs Wochen Angriffskrieg in der Ukraine.

Als Helene Fischer sich neulich öffentlich gegen das Putin-Regime positioniert hat, war die zweite Reaktion, dass sie in deutschen Medien als Russin oder russischstämmig bezeichnet wurde und nicht als Tochter deutschstämmiger Eltern aus Sibirien. Nach der Freude, dass sie sich geäußert hatte. Auch mir war die falsche Bezeichnung aufgestoßen, aber ist es gerade wesentlich?

Noch vor wenigen Tagen habe ich in sozialen Medien kritisiert, dass russländische Soldaten in der Ukraine als Orks bezeichnet werden. Das sei ebenso entmenschlichend wie die propagandistischen Tiraden aus Moskau. Hätte ich mir lieber sparen können, denn einen Tag später kamen die Berichte aus Butscha.

Es ist wohl nicht die richtige Zeit für Zwischentöne, nicht wenn Städte zerbombt und Zivilpersonen auf brutale Weise getötet werden. Und das ist leider noch ein Euphemismus.

Es ist zwar nicht schön, dass alle, die angeblich irgendwas mit Russland zu tun haben, blöd angemacht werden. Aber Anschläge wie der auf die Lomonossow-Schule in Berlin, sind zum Glück sehr selten.

Es ist auch nicht schön, wenn mein betagter Vater, der mit seiner Familie vor 80 Jahren aus der Ukraine fliehen musste, vor der roten Armee wohlgemerkt, heute auf seinen Spaziergängen von wohlmeinenden Nachbarn angesprochen wird mit: Na, was hat DEIN Präsident sich dabei gedacht?

Dumme Menschen generalisieren und fangen an, alle undifferenziert zu mobben. Das ist eine blöde Begleiterscheinung. Aber deshalb Autokorsos durch Berlin und Frankfurt abzuhalten und russische Flaggen zu schwenken ist eine eher unangemessene Reaktion.

Allein schon aus Nachhaltigkeits-Gründen sollte man Autokorsos verbieten.

Wichtig ist, dass der Krieg irgendwie gestoppt wird, dass das Gemetzel und die Vertreibungen aufhören.

Übrigens wenn euch wirkliche Diskriminierung passiert: es gibt hier eine Meldestelle für antislavische Diskriminierung im Netz. Bitte wendet euch in solchen Fällen nicht an die russische Botschaft, denn die nutzen das nur für ihre Propaganda.
Ich würde diese Demos zwar nicht als Korsos der Schande zu bezeichnen, wie einige Kolleginnen, aber ich würde mir wünschen, meine Leute würden sich nicht von dubiosen Hintermännern für Propaganda ausnutzen lassen. Aber es passiert.
Solche Demos sind momentan so notwendig wie ein Kropf. Ebenso wie die Influencerinnen und Vlogger, die sich vor den Karren der russländischen Propaganda spannen lassen. zunächst wollte ich sie ja nicht namentlich nennen, um ihnen nicht auch noch eine Plattform zu geben. Aber über eine hat Volksverpetzer einen Faktencheck-Bericht veröffentlicht. Darin werden die Mechanismen und die Absurdität bestimmter Behauptungen der emsigen PR-Arbeiterin deutlich.

In der Einladung wird davor gewarnt, das Z zu präsentieren. Immerhin.

Zum Glück ist nur ein kleiner Teil der Menschen aus den postsowjetischen Communities bei solchen Aktionen dabei. Ein nicht zu vernachlässigender Teil engagiert sich für die Ukraine, organisiert Konvois mit Medikamenten in die Kriegsgebiete, bleibt auf Abruf, um für Geflüchtete vor Ort oder per Telefon zu übersetzen oder schreibt Artikel gegen den Krieg und über diejenigen, die sich von der Sichtweise des Kreml einnehmen lassen.

Ich hoffe, dass unsere Demokratie standhaft bleibt, und in Zukunft solche seltsamen Auswüchse wie die Autokorsos unterbindet. Besonders im Hinblick auf ein bestimmtes Datum. Ich habe Sorge, was am 9. Mai passieren wird. Ob es in deutschen Städten noch mehr prorussische Paraden zum Tag des Sieges geben wird. Hatten wir in den letzten Jahren auch, aber dieses Jahr werden sie sicher noch excessiver geführt. Die gegenwärtige Lage verbietet eigentlich solche Aufmärsche, aber wem sage ich das.

Die Demo am kommenden Sonntag in Frankfurt ist übrigens nicht verboten, darf aber nur unter strengen Auflagen stattfinden. Ohne Autos, ohne die Zeichen Z und V und ohne Verunglimpfungen des Staates Ukraine.
Und es sind große Gegendemos zu erwarten. Mit vielen Teilnehmenden aus den ehemaligen Sowjetrepubliken, darunter auch vielen Deutschen aus Russland. Aber werden sie im Gedächtnis bleiben oder die wenigen Putinisten?

All das bleibt an uns hängen. Wie auch das Klischee vom erbarmungslosen Killer. Dafür sorgt das chauvinistische Regime aus Moskau gerade zu genüge. Es wird mehrere Generationen brauchen, um das wieder aufzuarbeiten, das wieder geradezurücken. Wie soll sich Russland nach diesem Debakel wieder aufrappeln?
Ab jetzt wird alles Russländische und Russland selbst nur durch einen Filter des gnadenlosen barbarischen Angreifers betrachtet. Ist das etwa das Bild der Stärke, das uns Putin vermitteln will?

Die Ideologen des Regimes bezeichnen sich selbst als Kämpfer gegen den Faschismus und als Retter der Zivilisation (nur nicht als Retter der westlichen, versteht sich). Aber mit welchen Mitteln? In diesem Artikel von Dekoder werden die Ideen solcher Vordenker wie Alexander Dugin und die anderen Bausteine des Putinismus vorgestellt. Sie gaben sich schon früh zu erkennen.

Haben wir nicht die Alarmglocken läuten gehört?
Anna Politkowskaja wurde getötet, nachdem sie während der Tschetschenienkrieges über genau solche unmenschlichen Gräuel berichtet hat, wie sie jetzt in den Vororten ukrainischer Städte passieren. Was brauchen wir noch, um aufzuwachen?


Es gibt keinen guten Abschluss für diesen Post. Denn eigentlich möchte ich von ganzem Herzen schreiben, dass dieser elende Krieg aufhört. Leider kann ich mir das im Moment selbst nicht glauben.
Und wie gesagt, alles worüber ich hier berichte, sind nur Nebenschauplätze. Der wirkliche Krieg tobt woanders.

Rikki Tikki Tavi reloaded

Korrektur. In einem Post von 2015, ist mir ein grober Fehler unterlaufen. Damals hatte ich geschrieben, dass Alfred Schnittke der Komponist zu einem Multfilm über Rikki Tikki Tavi sei. Schnittke hat schon zu einem Rikki Tikki Tavi Filmmusik komponiert, nur nicht zu diesem Multik. Das war ein ganz anderer, nämlich Witalij Gewiksmann (dessen Sohn Viktor heute als Rapper „Sadist“ bekannt ist, aber das nur am Rande.)

Gestern kam ein Kommentar von einem Leser oder einer Leserin mit den Initialen HB, der oder die mich auf diesen Patzer aufmerksam gemacht hat.

Ganz deutlich im Vorspann: W. Gewiksmann

Wie konnte ich nur. Verblendet, habe den Zeichentrick erkannt und gedacht, es gibt einen einzigen Rikki Tikki Tavi Film auf der Welt, nämlich diesen, weil ich ihn als Kind gesehen habe.

Schnittke hat für einen anderen Film aus Jahre 1975 die Musik geschrieben. Einen mit echten Menschen. Vom ersten Ton hätte mir auffallen müssen, dass die Multik Musik nicht von einem stammt, der moderne Musik komponiert. Ist es aber nicht.

Der Realfilm von 1975 ist nur nach Motiven von Rudyard Kipling entstanden. Es wird eine ganz andere Geschichte erzählt. Und ich vermute mal, dass sich der in Indien geborene, britische Autor 1975 ein paar Mal im Grab umgedreht hat. Denn dieser Streifen, obwohl als Kooperation zwischen Indien und der Sowjetunion entstanden, strotzt nur so von kolonialistischen Klischees und ist sogar eine ziemliche kulturelle Aneignung. Nur aus heutiger Sicht natürlich. Hätte ich ihn als Kind gesehen, wäre mir nichts dergleichen aufgefallen.

Statt der ursprünglichen Story, haben die Filmemacher*innen die Geschichte umgestaltet. Die Hauptrollen werden mit Weißen besetzt. Der Sinn umgedeutet. Wohl auch, damit sich die russischen Kinder, die den Film sehen, besser damit identifizieren können? Aber heute wirkt das nur schräg. Vor allem, wenn du die Originalgeschichte kennst.
Weißer Junge, weiße Mutter und ein weißer Vater mit Safarihut im indischen Dschungel. Das Haus wirkt wie das von Lew Tolstoj in Jasnaja Poljana. Die Inder und Inderinnen sind nur untergeordnete Statisten, Diener, Bauarbeiter, ein indischer Freund des Jungen, der plötzlich einfach nicht mehr auftaucht. Sie laufen mit, oder eher hinterher, den meisten Text haben die Weißen, wie dder britische Kolonialistensohn Teddy. Die anderen sagen wenig, erfüllen Befehle, hören zu, schweigen.
Nur ein Freund der Familie, Mister Chebna, der sich länger mit der viktorianisch gekleideten Lady unterhält, macht da eine Ausnahme.


Aber halt?
Ist das nicht die Verherrlichung des Imperialismus? Sind das nicht genau die Sturkturen, die im Kommunismus bekämpft werden sollten? Und das 1975. Warum wurde der Film nicht wegzensiert? Das ist wieder sehr interessant.

Heute jedenfalls wirkt dieser Film auf mich befremdlich. Wie eine kulturelle Aneignung in doppelter Weise. Nicht nur Indien und Kipling gegenüber, sondern sogar der Kolonialmacht Großbritannien gegenüber. Denn die eigentlichen Briten werden jetzt von russischen Schauspieler*innen verkörpert. Auf eine naive, fast schon melancholisch dostojewskijsche Art. Falls das überhaupt existiert. Immerhin wurden die indischen Darsteller nicht mit dunkelangemalten Russen ersetzt.

Aber gut, normalerweise, werden Russen, besonders böse Russen im Film von anderen dargestellt. Und zwar schlecht. Mit immergleichem, schiefem Akzent, falschen Kostümen und aufgesetzter Brutaloattitüde. Nun ist es eben andersrum. Aber hier durchaus nicht respektlos. Das ist ein Plus des Films.

Es ist ein literarischer Stoff und der wird umgesetzt. Besetzt, umgedeutet. Das ist wohl künstlerische Freiheit. Der Plot hat was von Heidi, von Johanna Spyri. Der Junge erinnert an Clara, die im Rollstuhl sitzt. Sehr melodramatisch alles.

Aber die Musik ist wirklich gut!
2007 wurde Schnittkes Musik zu dem Märchen der Wanderungen und Rikki Tikki Tavi vom Label Capriccio vertont, weiß ich ebenfalls aus dem Kommentar des Lesers (oder Leserin).

Alfred Schnittke, Rundfunk-Sinfonieorchester Berlin, Frank Strobel
Rikki-Tikki-Tavi / Das Märchen Der Wanderungen


Hier der Link zum Film, den mir HB gesendet hat, eine indisch synchronisierte Fassung was noch mal sehr viel schräger klingt:
https://www.dailymotion.com/video/x4e4utr


und hier die russische Originalversion auf Youtube:
https://www.youtube.com/watch?v=DKJ1LpbVBLg

Danke für das Feedback, das war sicher ein wirklich grober Schnitzer. Aber ich habe wieder was gelernt!




Doppelglasfenster

Ich höre öfter, wir Russlanddeutsche seien defensiv, klängen verbittert und fühlten und leicht gekränkt. Auch in der zweiten Generation. Oder der Anderthalbten. Erst kürzlich ist das wieder geschehen.
Nun, schön ist es nicht, aber es hat Gründe. Und wenn es keine gibt, finden wir eben welche. Zum Beispiel etwas, das harmlos klingt. Im Aachener Dom wird es anlässlich der Flutkatastrophe eine Gedenkfeier geben. Mit Frau Merkel und Herrn Steinmeier und anderen wichtigen Personen. Das ist gut, dagegen ist nichts zu sagen. Der Opfer der Flutkatastrophe sollte unbedingt gedacht werden.

Was mich stutzig macht, ist das Datum. Es fällt genau auf den Tag, an dem wir der russlanddeutschen Opfer der Deportation gedenken. Für Deutsche aus Russland gibt es wenn überhaupt, diesen 28.8.1941, einen Tag, der jetzt sich zum 80. Mal jährt und an dem sie ihrer Opfer gedenken können.

Dass dieser Aspekt bei der Terminwahl im Aachener Dom keine Rolle gespielt hat, ist ziemlich bezeichnend. Ich will, um Gottes Willen, nicht die eine Opfergruppe gegen eine andere ausspielen. Ich will nicht andeuten, dass ich lieber hätte, dass Merkel und Steinmeier im Aachener Dom der russlanddeutschen Opfer gedenken – das ist illusorisch. Bitte nicht falsch verstehen. Ich hier will nicht in ein Mimimi verfallen. Nur aufzeigen, was so läuft, den Status Quo benennen sozusagen. Den Grund dafür, warum DaR manchmal schmallippig werden und sich zurückziehen. Es ist schwer, Bitterkeit und Gekränktsein abzulegen, wenn dir, auch von offizieller Seite, ständig eine gewisse Ignoranz entgegenweht. Dir aufgezeigt wird, du kommst nicht vor. Du spielst keine Rolle.

Gut, die hatten es nicht auf dem Zettel. Ja, kann ich ihnen nicht verdenken. Es ist schlicht und einfach nicht bekannt, bleibt unter dem Radar, nur den Eingeweihten und denjenigen, die schon seit Wochen an zahlreichen Projekten zu diesem Thema arbeiten, ist der 28. August ein Begriff. Als Schlussfolgerung bedeutet das aber, die Öffnung ist noch nicht vollzogen. Die Integration, die ja eine beiderseitige ist, noch nicht erreicht. Das ist ein wenig so wie eine gläserne Decke.

Anderes Beispiel: Eine schreckliche Tat, in Würzburg begangen von einem Amokläufer, der mehrere Menschen tötet, viele verletzt. Einige Passanten haben sich ihm entgegengeworfen, haben versucht, ihn aufzuhalten. Mit Stühlen und anderen Dingen nach ihm geworfen. Die beiden Männer aus Syrien und dem Irak wurden von der Presse regelrecht gefeiert. Die drei jungen Russlanddeutschen, die das auch gemacht haben, nur einmal kurz erwähnt. Nicht wichtig. Nicht betonenswert genug, dass auch Aussiedler, nicht nur Asylanten, solche Heldentaten vollbringen. Vielleicht passen sie nicht ins Schema. Vielleicht kann aus ihnen keine Story gestrickt werden. Wenn sie in eine Schublade passen, dann in ihre eigene. Abgeschlossene, mit einem Schlüssel, der in einen See geworfen wurde.
Es gibt einige solcher Beispiele. Zum Beispiel wurden Russlanddeutsche vermehrt Opfer rassistischer Angriffe und sind nicht immer nur Angreifende. Doch das bleibt ebenfalls unter dem Radar.

Auch hier will ich niemanden gegeneinander ausspielen, sondern nur zeigen, dass Aussiedler noch immer ein weißer Fleck sind. Dabei ist Anerkennung und Gesehenwerden so wichtig für alle Menschen. Das verleiht ihnen Würde. Auch als Gruppe.

Neulich sagte jemand, aus unseren Texten auf der Schweigeminutenseite spricht Bitterkeit. Ja, es ist nicht leicht, diese abzulegen. Zumal in der Bevölkerung die einzige Ansprache eine gefühlt negative ist. So schrieb jemand neulich: „Nicht Russlanddeutsche, Rucksackdeutsche sind es.“
Noch immer nicht angekommen. Dass dieser Begriff aus der Zeit nach 1945 stammt und damals für die deutschen Flüchtlinge aus dem Osten gebraucht wurde, macht das Ganze nicht unbedingt besser. Wir sind also im besten Fall Reisende, oder eben Fremdkörper. Dabei hatten unsere Leute in den späten 1980ern und frühen 1990ern durchaus keine Rucksäcke mit, sondern diese unseligen karierten Plastiktaschen XXL mit Reißverschluss, die mit nicht besonders politisch korrekten Begriffen benannt wurden. Will ich hier nicht wiederholen. Die Hamburger Autorin Tina Übel nennt sie in ihrem Reiseblog: „Nachbarnationendisstasche“.

Ich weiß, dass so etwas niemals einseitig ist. Unsere Leute, unsere Instanzen sperren sich auch, verschließen sich selbst. Lassen junge Leute, die was ändern wollen, nicht ans Ruder. Zeigen ein Bild von uns in der Öffentlichkeit, das weder die Homogenität abbildet noch in die Gesellschaft zu passen scheint. Auch bei den meisten Feierlichkeiten anlässlich des schrecklichen Jahrestages 1941 bleiben wir scheinbar unter uns. Nein, nicht ganz. Nicht mehr. Ich übertreibe. Zum Beispiel wird es Ende des Monats eine Veranstaltung in Berlin geben, bei der nicht nur DaR dabei sind.

Dennoch. Noch immer haben wir dieses Image, das eigenbrötlerisch wirkt, deutschtümlerisch, nicht zeitgemäß. Aber ist es verwunderlich, wenn unsere größte Vertretung diesen Namen trägt: Landsmannschaft. Das klingt schon nach Burschenschaft und Blut-und-Boden-Ideologie. Nach zackigen Männern mit Waffe und Uniform. Seit Jahren weigert sich der Verein, den Namen zu ändern. Ist es ein Wunder, dass uns die Leute, besonders in linksgerichteten Kreisen nicht mit der Zange anfassen wollen? Wir sind selbst schuld. Keine gute und vor allem keine schnelle PR, das Image entweder vernachlässigt oder in die falsche Richtung gelenkt.

Es gibt durchaus Bestrebungen, das zu ändern. Die Podcasts „Steppenkinder“ vom Kulturreferat für Russlanddeutsche, der Podcast „X3“ – übrigens von der Landsmannschaft in NRW unterstützt, da ist doch schon eine Öffnung! – dann der Ableger von LibMod mit dem Namen ost[k]lick oder das „Russlanddeutsche Diarama“ von Dekoder sind große Schritte in die richtige Richtung. Es passiert hier eine Öffnung nicht nur zur Gesellschaft hin, sondern auch zu einer jüngeren Zielgruppe.

Aber die Landsmannschaft bleibt dennoch Landsmannschaft. Seit Ihrer Gründung Anfang der 1950er bis heute. Dieses antiquierte Bild dadurch zu kaschieren, dass man die sperrige Abkürzung LmDR benutzt, ist doch nur ein Feigenblatt.

Wie gesagt, die Öffnung ist nicht nur Sache der Aufnahmegesellschaft. Ich gebe zu, auch von Seiten unserer Gremien, Vertretungen, Instanzen wurden Barrieren errichtet und nicht nur Brücken gebaut oder Hände gereicht. Das ist die zweite Schicht der gläsernen Decke. So sitzen wir also in einem hübschen Raum mit Doppelglasfenster.
Ich hoffe stark, das ändert sich noch.

Laut Autorin Tina Übel eine „Nachbarnationendisstasche“

Einige Projekte und eine Veranstaltung anlässlich des Gedenktages der Deportation am 28.8. 1941:

https://www.erinnerungsnaht.de/

https://idrh-hessen.de/80-jahre-deportation/

https://www.bkge.de/Veranstaltungen/Kalender/3806-deportation-und-erinnerung-80.-jahrestag-der-zwangsumsiedlung-.html


Weitere Links:

Dekoder russlanddeutsches Diarama: https://nemcy.dekoder.org/de

Russlanddeutsche für Demokratie im Netz: https://www.ost-klick.de/

Der Podcast Steppenkinder: https://www.russlanddeutsche.de/de/kulturreferat/projekte/steppenkinder-der-aussiedler-podcast.html

Der Podcast X3: https://www.x3podcas

Ein Klavier, ein Klavier!

Was assoziieren wir, wenn wir über Sibirien sprechen? Schnee? Gulags? Weite? Transsib? Ja. Jain. Es gibt da noch etwas, das mir in Zukunft unauslöschlich in den Sinn kommen wird, wenn es um Sibirien geht: Tasten, die auf ein Holzbrett gemalt sind, Körper von Klavieren, durch die Unkraut wuchert, mit Wasserflecken verunzierte Deckel von Konzertflügeln, Pianinos, Klavichorde und Pianos. Und der Klang klassischer Musik.

Die britische Journalistin Sophy Roberts reist im Auftrag einer mongolischen Spitzenmusikerin mehrere Jahre lang immer wieder durch die Russische Föderation (und angrenzende Staaten), um ein passendes Instrument zu finden, ein Klavier oder ein Flügel mit Geschichte und einem besonderen Klang.

In ihrem Buch versammelt sie die Abenteuer dieser Reise und eröffnet mir zumindest eine ganz neue Perspektive, nicht nur auf das Land, sondern auch auf seine Geschichte. Auf Nebenwegen sozusagen.

Screenshot aus einem Clip von Micheal Turek

Sibirien ist schwer festzumachen, seine losen Grenzen erlauben es allen Besuchern, ihm jegliche Gestalt zu geben. […] Mein Sibirien umfasst das gesamte Territorium östlich des Uralgebirges bis hin zum Pazifik; das ist das „Sibirien“, wie es auf den kaiserlich-russischen Landkarten bis in die Sowjetzeit definiert war. Es ist eine äußerst weit gefasst Interpretation Sibiriens, die auch den Hohen Norden und den Fernen Osten Russlands und zudem Gebiete einschließt, die im 18. und 19. Jahrhundert gewonnen und wieder verloren wurden. Ich entschuldige mich deshalb im Voraus in dem Wissen, dass ich mich nicht an die modernen Verwaltungsgrenzen oder an die vorherrschende politische Korrektheit gehalten habe, wer oder was sibirisch ist. Statt dessen folge ich Anton Tschechows Erklärung: „Die sibirische Ebene beginnt, so scheint es, direkt hinter Ekaterinburg und endet der Teufel weiß wo …“
S. 14

Screenshot von einem Film von Michael Turek


Im 18. Jahrhundert kam die Begeisterung für das Klavier auf den Zarenhof, Ehefrauen von Dekabristen und polnische Verbannte brachten einige wertvolle Instrumente in die Tiefen des Landes.
Die Präsenz von Musik und diesem nicht sehr mobilen, eher etwas sperrigen Instrument in Russland und Sibirien berührt die verschiedenen Etappen der russischen und sowjetischen Geschichte. Ist eng an Zaren und deren Untergang geknüpft, fördert aber auch zahllose neue Erzählstränge, Nebengeschichten und unbekannte Anekdoten zutage. Oder wussten alle vor mir, dass die chinesische Stadt Harbin in den 30ger Jahren ein sowjetisches Zentrum für Jazzmusik gewesen war?

Dieses verbale Kaleidoskop zeichnet die Lebenswege von Klavierstimmern und Musikern und Musikerinnen nach. Namen wie Steinweg, Becker, Röhrich und andere deuten auf Spuren deutscher Klavierbauer in Russland hin. Eine Ära der europäischen Musik in fernen, uns zu unrecht unzivilisiert erscheinenden Weiten. Es ist ein Reisebericht und eine Zeitreise-Skizze zugleich. Selbst wenn ich jetzt verrate, dass die Suche natürlich von einem Erfolgserlebnis gekrönt ist, lohnt sich dieser mäandernde, immer wieder auf besondere Momente hinweisende Weg ja doch. Wie gesagt, die Pianistin Odgorel Sampilnorow erhält ihr wundervolles Instrument, was nicht weniger scheint als ein Wunder, wenn man die zerstörerischen Zeit in einer Gegend betrachtet, die nicht nur Klavieren und Konzertflügeln zugesetzt hat. Und ja, Schnee, Gulags und die Transsib kommen auch darin vor.

Hier ein kleiner Vorgeschmack darauf, wie der Tripp war. In eindrucksvollen Bildern stimmungsvoll festgehalten vom, ein Film des Fotografen Michael Turek, der Roberts begleitet hat:


Nicht entgehen lassen sollte man sich auch diese Website, die nicht nur Werbung zum Buch ist, sondern weitere Filmklips und Fotos der Reise versammelt. Gleichzeitig sehr amüsant und ergreifend.

https://www.lostpianosofsiberia.com/





Sophy Roberts, Sibiriens vergessene Klaviere
Aus dem Englischen von Brigitte Hilzensauer,
Hanser, 400 Seiten, € 26,-

Volga German Research

Volga German Genealogy & More

Yupedia

Fußnoten zur Geschichte

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