Die Reste eines alten Krieges

Die Reste des alten Krieges sind noch nicht ganz verschwunden. Einige Jahrzehnte Ruhe, mehr ist es nicht. Es ist noch nicht so lange her, nur wenige Generationen, da sahen die Straßen von Hamburg ebenso aus wie die von Mariupol, Bakhmut oder Cherson heute. Klaffende Lücken zwischen den Ruinen. Traurige Trümmer*. Überall Steinhaufen, zerrissene Stoffe. Scherben und Blut. Keine Orte für Menschen.
Eine alte Oma aus dem ukrainischen Tschassiv Jar sagte kürzlich einem Reporter gegenüber, sie fühle sich wie in der Hölle.


Wie lange wird es diesmal dauern, bis die sichtbaren Wunden geschlossen sind. Von den unsichtbaren ganz zu schweigen. Wie lange wird dieser vom Kreml immer wieder als militärische Operation bezeichnete Angriff nachwirken? Eine Operation, die Wunden schafft in Städten, Körpern und Seelen der Menschen. Die Auswirkungen werden lange spürbar bleiben, nicht nur in der Ukraine, nicht nur in dem Land, dass der russische Präsident überfallen hat, sondern auch in seinem eigenen.

Legen sich die neuen Wunden über die anderen, älteren? Oder werden die alten Wunden dadurch erst aufgerissen? Das Trauma bei denen, die schon den letzten Krieg erlebt hatten, wird reaktiviert.
Den Alten geht es nicht gut. Die Alpträume sind wieder da.

Doch, solange die Bombenkrater rauchen, ist das eine nebensächliche Frage. Der Krieg muss beendet werden. Darin sind sich alle einig. Dennoch dauert er an. Dauert die Zerstörung an. Die Flucht. Der Tod.

Ich werde nach meiner Meinung gefragt. Meine persönliche Meinung. Als ob das von Bedeutung wäre. Ich werde als etwas zu Russland Gehöriges erkannt und soll Position beziehen. Als ob das am Ausgang des Krieges was ändert, wie ich denke.

Doch dieser Krieg ist nicht nur ein Gemetzel mit Waffen, sondern auch mit Informationen. Es wird versucht, in unsere Köpfe zu kriechen, um dort Stimmungen zu erzeugen. Ich benutze hier die passive Form, weil es ein vielköpfiges, virales Etwas ist, kein eindeutiger Feind, keine Person, kein Gegenüber, mehr so ein Nebel aus Falschinformationen und Gegendarstellungen. Gelenkte Information, eine allgemeine Verunsicherung, und zwar nicht die erste, die es gab.

Außerdem, eine Meinung ist vielleicht nicht wichtig, aber wenn aus vielen Tausend Meinungen eine Masse erzeugt wird, dann gewinnt sie doch Gewicht, dann wird sie zu einem kalkulierbaren Werkzeug. Denn Masse lässt sich manipulieren, Masse lässt sich vereinnahmen und bewegen, wenn auch schwer. Aber wenn sie mal in Fahrt kommt, ist sie schwer aufzuhalten.

Klar ist es nicht leicht, dem auf den Grund zu kommen, was gerade wirklich geschieht, was wahr ist, oder was nur als Mittel zum Zweck der Gefolgschaft dient.

Kann Meinung, als Meinung einer einzelnen diesem Informationsfluss was entgegensetzen? Auch wenn sie an sich nicht wichtig ist. Unterzugehen droht im lauten aufgeregten Geschrei. Leiser ist als die derjenigen, die Straßendemos organisieren, die so überzeugt ihre Meinungen hinausdröhnen und nicht merken, dass es doch nur Parolen sind, dass sie einem Fänger auf den Leim gehen. Sollen sie sich benutzen lassen. Irgendwann gibt es ein böses Erwachen. Hoffentlich.

Vor Wochen war ich bei einem Seminar mit lauter jungen Leuten aus der rd community. Sie waren verzweifelt, denn der Informationskrieg hat tiefe Breschen in ihre Familien geschlagen. Alle Familien waren betroffen. Meine Aufgabe war es, einige Erklärungen zu präsentieren, weshalb Verwandte, Freunde, nicht nur ältere, auch viele Junge sind darunter, so empfänglich für Putins Propaganda sind. Wie es zu diesem Konflikt der Generationen kommen konnte. In manchen Familien wird nicht mehr über die Ukraine gesprochen. In anderen wird noch immer heftig gestritten. Besonders zwischen der Kinder- und der Elterngeneration. Aber nicht immer sind diejenigen, die eine vom Kreml gestreute vertreten, älter. Nicht immer. Aber oft.

Ich habe nicht gesagt: kehrt der Familie den Rücken. Basta. Macht euer Ding. Das ist zwar legitim, aber nicht für alle machbar. Obwohl, wenn ich so recht drüber nachdenke. Generationenkonflikte gab es schon immer, seit den alten Griechen und noch davor. Die Jungen haben anders gedacht, die Jungen mussten in die Welt, raus aus der Sphäre der Alten. Das ist normal.

Aber wenn sich Kriegsmächte in die Familien einmischen, ist nichts mehr normal. Und in der seltsamen abgeschotteten Geschichte der RD ist der Generationenkonflikt anders. Nicht wie bei den Hiesigen und ihren Achtundsechziger-Eltern.

Zunächst ist da die Frage der Generationen. Meine These ist, bei Russlanddeutschen es nicht nicht nur der Konflikt zwischen zwei aufeinanderfolgenden Generationen. Diejenigen, die hier sozialisiert wurden oder hier geboren sind, sind mindestens drei Generationen von ihren Eltern entfernt. Mindestens.
Durch die konservierte Kultur innerhalb der zum Teil abgeschotteten deutschen Gemeinschaften vor dem Zweiten Weltkrieg, sind einige auf dem Stand von 1860 geblieben. Andere sind bei 1920. wieder andere in den 1950erjahren angekommen. Diese Siedlungen waren Konserven, die keine Luft und wenige Einflüsse hineingelassen haben. Und nach dem Krieg, in der Gefangenschaft, auch da war nichts mit Revolution. Mit freier Liebe. Mit niederreißen von Zäunen. Wie denn, wenn du hinter Stacheldraht gefangen bist. Abgeschnitten von allem.

Steile These? Vielleicht.
Aber allein der Wechsel der Systeme, die meisten der Elterngeneration sind in einem anderen System aufgewachsen, ist ein tiefer Abgrund. Und ich werte nicht. Es war einfach anders. Eine andere Welt. Aber egal, wie ich das bewerten würde, der Sowjetstaat war ebenfalls abgeschottet. Es ist wie im eigenen Saft schmoren. Nur wenige durften raus.

Konserve ist ein gar nicht so falsches Bild dafür. Es hat sich eine eigene Kultur ausgebildet, nicht schlechter, nur anders, die Verbindung, der Fluss und der Austausch mit anderen Ländern waren erschwert. Die Jugend damals war hungrig nach frischen Ideen. Alle jagten nach Platten aus dem Westen, obwohl sie verpönt war und anfangs sogar verboten. Abba im Radio, das war schon später.

Ich spreche jetzt für die zweite Generation der Russlanddeutschen hier, oder die anderthalbte. Die meisten unserer Eltern kamen als junge oder erwachsene Menschen in ein neues System. In ein fremdes Land. Das sie nicht mit offenen Armen empfangen hat. Das sie nicht anerkannt hat. So hingen sie lose im Raum. Weder dort zugehörig, noch hier.

Erst vor kurzem war im swr Fernsehen eine Doku zu sehen, wo es hieß: Die Russlanddeutschen. Sie leben unter uns, sie arbeiten bei uns, aber gehören sie wirklich dazu? So oder so ähnlich. Keine Lust, das jetzt nachzuschauen.
Wir waren, und wir sind noch immer Fremdkörper. Also ich würde mich nicht wundern, wenn sich einige dadurch nicht gerade angespornt fühlen, sich zu integrieren. Wenn sie sich dem alten, dem ursprünglichen System zuwenden. Es sind so viele Kränkungen entstanden. Und Kränkungen sind nicht zu unterschätzen.

Damals, 2016, als der Skandal um die angebliche Vergewaltigung einer Teenagerin aus Berlin unsere community erschütterte, sprach der russische Außenminister Lawrow, der nämliche wie heute, von „unserem“ Mädchen Lisa.
Was bedeutet im Klartext: Wir haben euch im Blick. Wir haben euch nicht vergessen. Ihr gehört zu uns.
Wenn das keine Drohung ist. Und ein Rattenfängertrick.

Die erfahrene Kränkung, dieses Nichtdazugehören der Neuangekommenen ist ein starkes Plus für die russischen Machthaber. Da hätte Deutschland etwas sensibler und klüger handeln müssen. Statt dessen haben als viele von uns kamen, windige Demagogen den Fremdenhass zu lenken gewusst und so Wählerstimmen für sich gewonnen. Ich denke da nicht nur an Lafontaine. Auch Norbert Blüm hat mal etwas von „deutschem Schäferhund“ gefaselt. Selber Schuld.

Es gibt noch andere Gründe für eine Zuwendung zu Russland, dem Nachfolgestaat der Sowjetunion. Nicht alle sind gleich gewichtig. Nicht alle will ich hier aufzählen.

Mittlerweile denke ich, dass einer der wichtigsten Gründe die Unwissenheit über die eigene Geschichte ist.
Woher sollen sie sie auch kennen? Man muss sich schon aktiv darum bemühen. Oder das zweifelhafte Glück haben, dass die Alten erzählen.

Die meisten Russlanddeutschen, die hier leben, kennen ihre eigene Geschichte nicht. Weil sie nicht vorkam. Dort nicht. Und hier auch nicht. Die Alten, die Erlebnisgeneration redete nicht, aus Scham, aus Schmerz, weil sie keine Worte für die Schrecknisse hatte. Weder in den Schulbüchern noch im Diskurs kommen wir groß vor. Rausgefallen aus der Gesamtgeschichte. Was ein Glück für die russische Propagandist*innen. Da haben sie ein leichtes Spiel.

So kommt es, dass diejenigen, die Stalin verherrlichen plötzlich eine Option sind. Dabei war es dieser schnurrbärtige Onkel, der alle ins Lager gesteckt hat. Auch die wolgadeutsche Oma, auch die ukrainedeutschen Großeltern auch die Vorfahren aus den deutschen Dörfern auf dem Kaukasus.
Mit denselben menschenverachtenden und entwertenden Mechanismen, wird und wurden Gründe gefunden, andere Gruppen zu diskreditieren. Unter Stalin wie unter Putin. Es ist das Gleiche in Grün. In Z. Nur dass die jetzigen zu verdammenden Gruppen das ukrainische Volk, LGBTQ-Leute oder der Westen allgemein sind.
Doch wer diese Mechanismen nicht kennt, wer für die eigene Geschichte blind ist, wird den listigen Worten glauben.

Natürlich ist die entfesselte zielgerichtete Propaganda auf allen Kanälen die die russische Regierung, trotz Sanktionen streut, ein sehr wichtiger Baustein. Sie säen Desinformation, sie säen ihre Sicht der Dinge, egal ob sie zutrifft oder erlogen ist.
Aber es muss etwas da sein, was empfänglich ist, damit diese Saat aufgeht. Und anscheinend geht sie auf. Gekränkte Identität, Unwissenheit der eigenen Geschichte. Eine Verklärung der heilen Kindheit in der Sowjetunion. Der Verdacht, dass der Westen seine eigene Wahrheit erzählt. Tut er. Es ist auch gut, alles zu hinterfragen. Aber bitte nicht, in dem man sich der nächstbesten Diktatur in den Rachen wirft.

Wie aber damit umgehen? Was tun, wenn im Freundeskreis und in der Familie die Narrative des Kreml verteidigt werden? Ihnen allen den Rücken drehen? Über seinem Teller mit Pelmeni beim nächsten runden Geburtstag den Groll runterschlucken und schweigend nicken?

Es gibt drei Wege. Trennung. Selbstverleugnung oder ewiger Streit. Nicht so schön, aber so sind nunmal die Möglichkeiten. Doch das habe ich nicht gesagt.
Das ist es nicht, was ich allen auf den Weg geben wollte. Sondern folgendes: Bildet Banden! Sucht euch Gleichgesinnte. Wenn ihr euch informiert, werdet ihr merken, dass es nur wenige sind, nicht die Mehrheit, die der Kremlpropaganda auf den Leim gehen oder die von ihm korrumpiert lauthals seine verdrehten Wahrheiten hinausschreien. Es ist nicht die große Mehrheit. Sucht die anderen, vernetzt euch mit ihnen.

Weiterer Punkt: die eigene Geschichte kennen. Dann kann dir niemand erzählen, wer und was du sein sollst. Das eigene Selbstbild stärken ist wichtig.

Es kostet außerdem viel Kraft Solange diese vorherrschende Spannung aushalten zu können. Also Kraft sammeln. Gut zu sich sein.

Es gibt genug fernöstliche oder fernwestliche Techniken, um zu lernen, den eigenen Raum einzunehmen, für sich einzustehen, im Gleichgewicht zu bleiben. Egal, ob Yoga, Kampfsport oder Haka. Von mir aus auch Tango oder Gesang oder kontemplative Meditation. Alles was die eigene Wahrnehmung stärkt, alles was den eigenen Raum festigt, ist förderlich.

Was noch? Wenn Argumente nichts fruchten? Wenn sich alle mit vermeintlichen Fakten zu überschreien versuchen?

Aushalten. Abwarten. Ausharren und versuchen, sie alle dennoch irgendwie zu lieben.
Die Zeit wird nicht alle Wunden heilen, aber auch dieser Krieg hat irgendwann ein Ende. Irgendwann können wir uns um die Ruinen kümmern. Aufräumen, sortieren und die Spuren des Krieges beseitigen, der dann seinerseits zu einem alten Krieg geworden sein wird.

Die Geschichte von Lew

Ein Zeitzeugenbericht eingeflochten in einen Essay-Roman. Ein großes Thema sachlich dargebracht. Dieses Buch ist eine Reise zu einem sehr wichtigen und bis heute verdrängten Kapitel der russischen Geschichte.

Wir verstehen nicht, was geschieht. So heißt der neue Roman von Viktor Funk. Es ist ein Zitat aus dem Buch und könnte auch auf uns und unsere Zeit angewendet werden. Im Roman steht dieser Satz zuoberst in einem Brief, den ein GuLag-Insasse im April 1953 an seine Verlobte schreibt, keine vier Wochen bevor es mit Stalin zu Ende geht.

Lew als junger Mann. Foto von: unrecht-erinnern.info

Worum geht’s?
Alexander List, ein junger Historiker aus Deutschland bekommt über Memorial in Moskau den Kontakt zu Überlebenden des GuLag-Systems, um sie zu interviewen. Mit einem von ihnen, Lew Mischenko, begibt er sich auf die Reise nach Petschora, eine Stadt im hohen Norden. Dort war in der Stalinzeit das Lager gewesen, in dem Lew neun Jahre eingesessen hat.

Der Grund von Lews Inhaftierung ist ebenso typisch wie hanebüchen: er war Kriegsgefangener in deutschen Lagern und hat überlebt. Und ist zurück in die Sowjetunion.
Damals wurden alle, die Hitler entkommen waren, und zurückkehrten, in Lager gesteckt. Denn laut der verqueren Logik des damaligen Regimes, konnten sie nur Verräter und Kollaborateure des Nazisystems sein.

Was den jungen Wissenschaftler bei seiner Arbeit umtreibt, ist die Frage: wie war es möglich dieses System, diese Hölle zu überleben? Woraus haben die Menschen die Kraft geschöpft, weiterzumachen?

Petschorlag. Nicht am 1. Mai.

Bei Lew scheint es unter anderem der Briefkontakt nach außen gewesen zu sein, zu seiner Tante und zu seiner Cousine Swetlana, die er später sogar heiraten wird. Eine GuLag-Strafe ohne Briefkontakt war das härteste, das du bekommen konntest. Nach der Lektüre dieses Romans wir es konkret, warum das so ist. Lew jemanden von außerhalb des Lagers. Er war zwar neun Jahre im Lager, aber mit Briefrecht. Oder nein, es waren geschmuggelte Briefe über einen Freund, der dort angestellt war, der das Lager verlassen konnte. So war das!

Lew hatte viel Glück. Immer traf er auf Leute, die ihn unterstützten, hielten, deckten, wie der sudetendeutsche Aufseher im Nazilager, der ihn unter die Fittiche nimmt, ihm eine bessere Arbeit verschafft, auch hier. Eine einzelne Person und schon hast du einen Lichtblick, deine Chancen steigen, du überlebst. Ist es wirklich das? Ist es das, was das Überleben möglich macht?

Funk beschreibt die teils unmenschlichen Ereignisse auf eine sachliche Weise, zurückhaltend ohne Groll. Er lässt die Personen über ihre Erlebnisse sprechen. Oder schweigen.

Auch ich verstehe oft nicht, was geschieht. Wir leben in Zeiten, in denen Russland Organisationen wie Memorial zu unerwünschten Auslandsagenten erklärt, in denen jegliche Opposition ausgelöscht wird und Menschen wegen des Hochhaltens eines weißen Blattes Papier ins Gefängnis kommen. Da ist eine solche Geschichte wichtiger denn je.

Es gibt im gesamten Roman kaum Ausschmückungen. Wir erfahren, dass es im Hotel dunkelrote Vorhänge gibt. Wir erfahren etwas über die Stadt Petschora von einem Taxifahrer. Aber es bleibt mager.
„Warum ist die Straßenbeleuchtung ausgeschaltet?“, fragte Alexander.

„Kein Geld“, sagte der Fahrer, „die Stadt spart.“ Er fuhr langsam, wich Schlaglöchern aus und schwieg. Nach einigen Minuten bog er nach links ab, dann hielt er, stieg aus und lief einige Meter eine Straße nach rechts. Er kam zurück, stieg wieder ein und sagte: „ Das Hotel haben sie restauriert, aber die Straße ist immer noch so beschissen wie früher. Idioten.“
S64

Funk bleibt sparsam mit Beschreibungen, und auch sparsam mit Emotionen. Handlungen werden beschrieben, Gespräche. Auch die Briefe triefen nicht. Und sind dennoch. Stark. Ganz pragmatisch und sachlich beschreibt er Vorgänge, die einem sonst das Blut gefrieren lassen würden.

„Zu meiner Zeit war darin die Lagerverwaltung. Unsere Fenster hier gehen nach Osten. Da vorne war das Lager, nur ein paar hundert Meter entfernt. Der Zaun war drei Meter hoch, aus Holz, Brett an Brett, kein Blick nach draußen, kein Blick nach drinnen. Stacheldraht, Wachtürme. Irgendwo waren die Latrinen. Wir durften hin, wenn wir mussten, aber es gab bestimmte Wege, die wir nicht verlassen durften. Einmal ging Jakowlew, ein Gefangener aus der Sägebrigade nachts raus und wollte nicht zur Latrine laufen. Es war Winter, kalt. Er stellte sich irgendwo hin. Dann ein Schuss. Und Jakowlew war tot.“
S 65

So entsteht eine journalistisch angehauchte Fiktion, ein Zeitzeugenbericht in Romanform mit eingebauter Reise mit der Transsibirischen Eisenbahn. Denn Lew bittet den jungen Wissenschaftler mit ihm an die Stätte seiner Verbannung zu fahren. Funk schildert Tatsachen, man findet keinerlei überflüssigen Beschreibungen, eigentlich gar keine Beschreibungen, weder von Landschaften noch von irgendwelchen Innenansichten von Seelen. Sie sitzen im Abteil, sie trinken Tee, sie reden. Und doch wird die Wucht der Zeit vermittelt. Der Protagonist ist, genau wie der Autor ein unbeteiligter Betrachter, einer der schaut, sammelt ohne zu werten. Und vor allem, der sich selbst komplett herausnimmt. Einmal taucht bei Alexander eine Erinnerung an ein Unglück aus seiner eigenen Familie auf. Sonst zeigt er nichts von sich. Er hat einen Rucksack. Er trinkt Tee. Er hört sich die Aufzeichnungen an.

List fragt, warum Lew in seinem Notizbuch, in dem er Ende der Achtziger seine Erinnerungen festhält, nie über seine Gefühle spricht. Und lässt selbst in diesem Buch die Gefühle außen vor.
Der Stil passt irgendwie zu der Gefühlslage des Physikers Lew. Auch er lamentiert nicht, er beobachtet, sucht einen Ausweg und bringt heisenbergsche Vergleiche, wenn es um seine Gefühle von damals geht:

„Kennen Sie das Unschärfeprinzip?“

„Sie meinen Heisenberg? Ich kann entweder den Ort oder die Geschwindigkeit des Teilchens feststellen, nicht beides. Das?“

„Das ist die einfachste Erklärung, aber das genügt. Mit dem Menschen ist es nicht anders, denke ich heute. Entweder Sie leben in dem Moment, oder Sie denken über Ihre Angst, Hoffnung oder Verzweiflung nach. Und damals hatte ich keine Zeit zum Nachdenken. Ich hatte keine Zeit darüber klar zu werden, was in mir vorgeht. Nicht, dass ich nichts fühlte. Es war das Gegenteil. Die Gefühle waren so intensiv, dass ich nicht über sie nachdenken konnte“, erklärte Lew. Er atmete tief. Seine Schultern hoben und senkten sich.
S. 44

Mehr wird uns als Erklärung nicht gegeben. Ein Paradox: Lew selbst nennt die Umstände seines Lebens Glück. Aber an den entscheidenden Stellen, hatte er ja auch Glück, traf gute Menschen. Wurde nicht erschossen. Er traf die Liebe seines Lebens, blieb mehrere Jahrzehnte mit ihr zusammen, nachdem er in Freiheit war.

Obwohl das Buch stellenweise so wirkt, ist es keine Reportage, folgt einer Handlung, richtet sich nach den Gesetzmäßigkeiten eines Romans. Aber es gibt keine verschiedenen Zeitebenen. Nur das, was die Zeitzeugen im O-Ton erzählen, die Briefe, das Notizbuch. Was ich meine ist, es wird nicht gesprungen. Die Perspektive bleibt in der Gegenwart. Alles wird nur durch die Menschen und ihre Erzählungen gespiegelt.

„Was willst du mir zeigen?“, fragte Lew.
„Wir gehen morgen zum Friedhof, da hat die Stadt eine kleine Gedenktafel aufgestellt.“
„Das ist gut. Sowas sollten sie auch in Moskau machen, aber richtig. Sie müssen auf dem Platz, wo diese hässliche Dscherschinskij-Statue stand, einen Obelisken aufstellen und darauf die Namen aller Gulag-Gefangenen eingravieren. Wie hoch müsste dieser Obelisk sein? Was für eine Zukunft hat dieses Land, wenn es seine Vergangenheit leugnet?“
S88

Der Friedhof von Petschora

Auf Website von Viktor Funk gibt es auch weitere Infos über den Roman und seine Entstehung. So fügt sich alles zusammen. Lews Bildnis, die Briefe, das Foto von den Büchern der Gefangenen.

Es existiert sogar eine eigene Website mit der Lebensgeschichte des echten Lew:

Mit Bildern und Lebenslauf und einem Video, in dem er als Zeitzeuge auftritt. Wir hören seine Stimme, wir erleben, wie ruhig er aus seinem Leben erzählt. Das ist wie extra Material zu dem Roman. Ich finde es immer bereichernd, sich die Menschen hinter den Geschichten anzuschauen, besonders wenn diese Geschichten auf dem wirklichen Leben basieren. Der Autor sagt irgendwo in einem Interview, dass er einiges verändert hat, nicht nur die Namen, auch die Briefe hat er umgeschrieben. Aber er schöpft eben aus einem real existierenden Fundus.

Das Video:

Lew als Zeitzeuge berichtet über seine Erlebnisse in Deutschland.

Viktor Funk war in den Nuller Jahren und 2017 selbst in Moskau und Petschora, hat mit Überlebenden gesprochen, die Orte und Archive aufgesucht. Jetzt sind die Archive wieder geschlossen und Organisationen, die sich wie Memorial um die Aufarbeitung der tragischen Geschichte kümmern, sind die Hände gebunden.

Es ist wohl eine echte Ausnahmesituation, ein echter Glücksfall, dass dieser Briefwechsel aus dem GuLag erhalten geblieben ist, so dass sich Memorial und forschende Wissenschaftler daraus bedienen können. 2012 ist schon einmal ein Buch entstanden, das auf diesen Briefen basiert, ein wissenschaftliches. Es heißt: „Schick einen Gruß, zuweilen durch die Sterne“ von Orlando Figes.

Das Buch von Viktor Funk fokussiert sich nicht nur auf die Briefe allein. Es geht auch um die gemeinsame Reise von Lew und Alexander an den Ort unterwegs, an den Lew verbannt worden war. Mit der Trassibirischen Eisenbahn. Aber so anders ist dieser Bericht als die der üblichen Transsib-Touristen. Nicht zu vergleichen. Denn immer wieder lauscht Alexander seinen Aufzeichnungen, liest die Briefe oder bekommt von Lew Informationen aus erster Hand über sein Leben und Überleben im GuLag.

Petschora, das ist etwa zwei Tagesreisen von Moskau entfernt. Eine Stadt in der Republik Komi, 1946 als Sammelpunkt zum Verschicken von Arbeitsgefangenen an andere finstere Orte entstanden, nach Workuta zum Beispiel. Diese Stadt wurde von Häftlingen gebaut. Und heute? Schulkinder sagen patriotische Sprüche vor patriotischen Denkmälern auf. Wir sind stolz auf die Vergangenheit unserer Stadt.

Heutige Kinder am Heldenehrenmal


Heute leben hier die Nachkommen der Bewacher und der Bewachten. Auch das wird im Roman thematisiert.

Sonst höre ich eher Kritik daran, dass solche Verbannungs- und Lagergeschichten mit viel Pathos und sehr vorwurfsvoll erzählt werden.
Hier ist es nicht der Fall. Lew wurde ein großes Stück Lebenszeit gestohlen, seine Jugendjahre aber er empfindet keine Bitterkeit. Er hatte Swetlana. Siebzig Jahre kannten sie sich, betont er. Später waren da seine Kinder. Freunde fürs Leben, die er in diesen Extremsituationen gewonnen hat. Ein bescheidenes Leben in Moskau. Es ist doch einiges gut gegangen, trotz des unmenschlichen Umgangs mit den Menschen unter Stalin und danach.

Nicht nur für Russland, das sich vor seiner Vergangenheit versteckt, auch für unser Land sind solche Erzählungen von Wert. Denn es gibt ein weiteres wichtiges Thema, das in diesem Buch behandelt wird: Die Sache der Ostarbeiter und Ostarbeiterinnen. Das was im Krieg mit den slawischen Kriegsgefangenen und Zwangsarbeitern und Arbeiterinnen im nationalsozialistischen Reich geschah, bleibt bei uns noch zu sehr unter dem Radar.

Natascha Wodin hat das in ihren späteren Büchern beschrieben– sie ist selbst Kind zweier Ostarbeiter, die nach dem Krieg in Deutschland geblieben sind. Aber sonst bleibt es ein vergrabenes Stück Geschichte, ein Thema, über das wenige Bescheid wissen.

Zwischendurch erinnert sich Alexander an Gespräche mit anderen Zeitzeugen, die er früher besucht hatte. Das, was sie erzählen, wird immer wieder eingeflochten. Eine der interviewten Frauen, Katja Iwanowa, antwortet auf die Frage, warum die Gefangenen in den Untersuchungsgefängnissen ihre Namen und die Strafe in die Wände ritzten: „Damit die anderen es wissen, damit etwas von uns bleibt.“ S112
Darum sind solche Bücher wichtig. Auch ein schöner Titel übrigens… Damit etwas bleibt.

Bei aller Sachlichkeit hatte ich beim Lesen an einigen Stellen einen Kloß im Hals. Oft nicht bei den grausamen Schilderungen des Lagers, sondern wenn etwas gut ausgegangen war, wenn es Hilfe gab.

Die Organisation Memorial wurde erst letztes Jahr als feindlicher Agent eingestuft, darf faktisch nichts mehr. So geht das Land mit der eigenen Erinnerungskultur um. Um so wichtiger sind leise Bücher wie dieses, die beim Lesen ein sehr lautes Echo im Innern hervorrufen.


Viktor Funk,
Wir verstehen nicht, was g
eschieht

Verbrecher Verlag Berlin
Hardcover, 156 Seiten
Preis: 20,00 €
ISBN: 9783957325365

Bibliothek der vergessenen Bücher: Ein Weckglas voller Zettel

Wieder ein Buch mit einer ziemlichen Odyssee. Richtig vergessen war es eigentlich nie, ging nur für längere Zeit verloren. Aber zunächst macht die Autorin selbst eine nicht so angenehme Reise, als Verbannte an den arktischen Rand der Welt. Als Hitler und Stalin sich in einem Pakt Europa aufteilen, werden die baltischen Länder von der SU kurzerhand annektiert, rund 50.000 Menschen werden verhaftet und in einer großangelegten Aktion ab dem 14. Juni 1941 in sibirische Lager verfrachtet. Unter anderem Dalia Grinkevičiūtė und ihre Familie. Zu diesem Zeitpunkt ist sie 14 Jahre alt.


Später schreibt Dalia ihre Erinnerungen an die ersten zwei Jahre Verbannung nieder, da ist sie bereits 23 und befindet sich auf der Flucht vor dem KGB in Litauen. Sie schafft es gerade noch, die losen Blätter in einem Einweckglas im Garten zu vergraben. Dann wird sie wieder verhaftet. Jahre später, nach einer Ausbildung zur Ärztin und ihrer Rehabilitierung sucht sie nach diesen Aufzeichnungen, findet sie aber nicht mehr. Aus der Erinnerung verfasst sie eine kürzere Version ihrer Erinnerungen, die in dissidentischen Schriften in Russland und Litauen und als Roman in den USA erscheint. Erst vier Jahre nach Dalias Tod 1991 wird zufällig ein Wildrosenbusch in dem besagten Garten in Kaunas verpflanzt und das Weckglas mit den 229 eng beschriebenen Seiten kommt ans Licht. Danach erscheinen die Aufzeichnungen als Buch in Litauen und werden in den Schulunterricht integriert. Im Jahre 2014 kommt mit dem lakonischen Titel „Aber der Himmel – grandios“ im Mathes&Seitz Verlag in Berlin heraus. Etwa 64 Jahre nachdem die Autorin das Manuskript verfasst hat.

Eine Seite aus dem Manuskript.

Statt ihre Teenagerjahre zu genießen, muss Dalia unter den unmenschlichsten Bedingungen im Altai Gebiet und in der Arktis Zwangsarbeit leisten. Aber sie ist eine, die überlebt. Insofern sind die Notizen auch eine Bekundung der Stärke und Lebensmut. Das Manuskript beginnt ohne Kapiteleinteilungen, und es endet auch sehr abrupt. Dalia hat es in größter Eile geschrieben, mit der Angst im Nacken, entdeckt zu werden. Dennoch ist es ihr gelungen, das Unmenschliche in einer kühlen aber kraftvollen Sprache festzuhalten.


Es will nur schwer in den Kopf, dass unser leitendes Personal auf Trofimowsk – jeder von ihnen – eine warme 2-Zimmer-Wohnung in einem Blockhaus hat. Wir haben diese Häuser gebaut. Sie haben genügend Kerzen, um ihre Wohnungen zu erleuchten, sie können essen was sie wollen. Ich dachte, in Kriegszeiten müsste jeder Entbehrungen auf sich nehmen, aber sie entbehren nichts. Nach dem Krieg werden sie erzählen: Wir haben die Kriegslast auf uns genommen, wir haben zum Wohle des Vaterlands die Massen für den Kapf motiviert. Sie werden Auszeichnungen bekommen und die mit litauischen und finnischen Leichen gefüllte Grube wird ein Zeugnis ihrer Mühen sein.
S 110

Grinkevičiūtė beschreibt auch Menschen, die trotz der unmenschlichen Verhältnisse und der Vernachlässigung ihre Würde nicht verloren haben. Wie die ehemalige Krankenschwester Lidia, die sich scheinbar aufgegeben hat, mit dem Nebeneffekt, dass sie überhaupt keine Angst mehr kennt, und somit von niemanden unter Druck gesetzt werden oder zu etwas gezwungen werden kann, auch nicht zum Dienst.

Dalia mit elf Jahren in ihrer Schuluniform. Drei Jahre vor der Deportation.


Alltägliches kommt in dieser Hölle auch vor. Dalias Freude ist groß, als sie mit anderen Jugendlichen in einer geheizten Stube Schulunterricht erhält, ihre Enttäuschung, als dieses Privileg aufhören soll, ebenso.

Ich stehe mit meinen eingerissenen Filzstiefeln in schmutzigen Arbeitshosen aus Watte vor der Tafel, Kreide in der Hand und wundere mich – wie ich hier landen konnte. Das ist ein Traum, hier ist es warm, hier brennen Kerzen, hier ist es hell, hier spricht man mit mir wie mit einem echten Menschen. […] Ich höre nichts, reagiere auf nichts. Dalia, du gehst wieder zur Schule meine Güte, wach auf, du Trottel. Langsam komme ich wieder zu mir, ich fühle mich in dieser Situation nicht mehr so verloren und fremd. In den Pausen setzen wir uns alle sechs um den Ofen und erzählen uns unser Leben. Meine guten lieben Klassenfreunde, sie bedauern mich, so wie ich sie bedauere. Sie sind hungrig wie Hunde, so wie ich, über ihren Rücken krabbeln in der Wärme erwachte Läuse, wie über meinen.
S 56

Unterscheiden sich diese Aufzeichnungen von Erfahrungen, die wir von anderen Zeitzeug*innen und Chronisten der stalinistischen Lager kennen? Ich denke schon, denn sie sind von einer sehr jungen Frau aufgeschrieben worden. Fast noch einem Kind. Und sie hat sie wenige Jahre nach den Erlebnissen notiert, hastig, ungeformt, aber sicher nicht ungefiltert. Es ist anders als bei Schalamow, als bei Solschenitzin, eine weibliche Sicht der Umstände. Trotz allem. Die Zeitzeugin beschreibt, ohne es zu werten, wie manche Frauen, um zu überleben, zu Geliebten der russischen Kommandanten werden.

So erzählt eine Mitgefangene:

Es ist nicht einfach zu flirten, Dalia, du lächelst und versuchst jemandem den Kopf zu verdrehen, bist aber ohne Rock, in einer zerrissenen Wattehose, von der dir die Wattestücke am Hintern kleben. Du versuchst die Löcher mit einem Tuch zu verdecken, während die Läuse, die in der guten warmen Stube aufgewacht sind, dir den Rücken entlangkrabbeln. Am liebsten würdest du dich kratzen, dich an eine Wand lehnen und sie zerdrücken, aber du musst lächeln. Obwohl der Magen knurrt… glaub mir, es ist schwer, Dalia, hinter dem Polarkreis zu flirten.
S 103

Es ist ein harter Überlebenskampf. Um zu überleben, gehen die Gefangenen bis an ihre Grenzen und auch darüber hinaus. Das kennen wir auch aus den Aufzeichnungen russlanddeutscher Zeitzeuginnen und Zeitzeugen.

Warum ich gerade dieses Buch ausgewählt habe? Bei all der Beschäftigung mit dem russlanddeutschen Schicksal darf nicht vergessen werden, dass unsere Volksgruppe die Erinnerungen an die Verbannung und die Schikanen des Stalinismus nicht für sich allein gepachtet hat. Diese Erfahrung verbindet uns mit vielen anderen, die Aufgrund ihrer Ethnie oder der Lage ihrer Länder willkürlich verbannt wurden. Dazu gehören auch die drei baltischen Staaten und einige andere Länder des Warschauer Paktes aber auch die Krimtataren, Koreaner*innen, Menschen aus Tschetschenien oder die kommunistischen Griechen und Griechinnen, die vor ihrem eigenen rechten Regime in die Sowjetunion geflohen waren, um sich in Sondersiedlungen wiederzufinden.

Es gab Unterschiede, natürlich. Zum Beispiel konnten die Überlebenden aus dem Baltikum nach Stalins Tod, spätestens Ende der 1950, in ihre Heimat zurückkehren. Aber die Schrecken der sibirischen Kälte, die Folgen der Zwangsarbeit nahmen sie natürlich mit. Wir sind also nicht allein damit, wir haben dieses Leid nicht als einzige erfahren. Das ist gut zu wissen. Das Gulagsystem ist ein großer Gleichmacher. Lässt alle Geschichten zu einer verschmelzen. Und dennoch. Es gibt diese Unterschiede. Bemerkenswert ist zum Beispiel, wie unterschiedlich die Rezeption dieser Erlebnisse und Aufzeichnungen in den verschiedenen Ländern ist. Der 14. Juni, also der Beginn der stalinistischen Deportationen aus Estland, Lettland und Litauen ist in diesen Ländern seit dem Untergang der Sowjetunion ein offizieller Gedenktag. Die Tagebuch-Aufzeichnungen von Dalia Grinkevičiūtė gehören heute zum Nationalerbe des Landes. Eine Freundin von ihr hat in ihrem eigenen Wohnhaus in Kaunas ein privates Museum zu Ehren von Dalia Grinkevičiūtė eingerichtet.

Dalia wurde aus ihrer angestammten Heimat entführt und kehrte dahin zurück. Es war von Anfang an klar, dass Litauen das Opfer und die Sowjets unter Stalin der Agressor sind. Obwohl es auch da Graustufen und Ambivalenzen gegeben haben muss. Nicht alles ist schwarzweiß, nicht alles liegt auf der Hand. Aber die Hauptzweige der Erzählung sind klarer als es mit dem schwierigen Verhältnis zwischen Deutschland und Russland sein kann. Mit den DaR irgendwo dazwischen hängend. Ich merke an dieser Stelle, dass ich mich längst mal mit der Wahrnehmung der Rückkehrer*innen nach Südkorea befassen wollte. Ob es hier ähnliche Erfahrungen mit der Rückkehr in ein Land gibt, von dem man solange abgespalten war? Wurden sie dort willkommen geheißen oder mussten sie sich ganz hinten anstellen? Heißen die dort auch Spätaussiedler? Und wie war es in Tschetschenien? Gibt es dort eigentlich eine Aufarbeitung der Ereignisse, jetzt, wo Kadyrow der beste Kumpel des russischen Machthabers ist?


Dalia Grinkevičiūtė
Aber der Himmel – grandios
Hrsg. Vytenė Muschick
Matthes und Seitz Verlag, 2014

Zu dem deutschen Buch existiert auch eine Website mit Hintergrundinfos und Terminen für Lesungen, die sicher bald wieder stattfinden können:

Gemeinsam mit dem Saxophonisten Martin Muschick und der Geräuschemacherin Friederike Kenneweg hat die Verlegerin Vytenė Muschick ein Lesungskonzept entwickelt, bei dem sich Textpassagen und Musik gegenseitig durchdringen und im Klang dem Zuhörer den erforderlichen Raum lassen. Die Musiktracks heißen u.a. „Dalia 1 Atem“ Oder „Dalia 3 Polarkreis“.
Wer mag, kann sie hier, ganz unten auf der Seite anhören:

Bibliothek der vergessenen Bücher: Die sieben Leben der Angelina Rohr

Es gibt eine Schriftstellerin, die als junge Frau nach Moskau gegangen ist, die Strapazen des GULag und der Verbannung überlebte und noch immer in Russland lebend, diese Erlebnisse in Prosa verarbeitet hat. Sie hat keinen russlanddeutschen Hintergrund, das nicht, hat aber auf ihrem Lebensweg DaR getroffen und auch über sie geschrieben, aber nur am Rande. Und nicht immer sehr vorteilhaft.

Doch zunächst möchte ich auf ihre Vita eingehen, nicht nur um einen Kontext für ihre schriftstellerische und journalistische Arbeit zu schaffen, sondern weil sie sich selbst wie das Drehbuch zu einem Film anhört.

1890 wird sie als Angela Müllner in Mähren geboren, begibt sich in die Dada und Surrealisten-Szene, lebt mit ihrem Ehemann vor dem ersten Weltkrieg mittellos in Paris, schreibt, und erwirbt Kenntnisse in Medizin und Psychologie, ohne einen akademischen Abschluss zu machen. Sie trifft Rilke, freundet sich mit ihm an. Er lobt ihre Prosa und ihren starken Ausdruck.

Mitte der Zwanziger Jahre folgt sie ihrem dritten Mann Wilhelm Rohr nach Moskau, heißt nun Angela (Angelina) Rohr und erhält die russische Staatsbürgerschaft. Sie arbeitet bis zur Schließung am dortigen Institut für Psychoanalyse mit und später in der russischen psychoanalytischen Vereinigung.
Als Korrespondentin schreibt sie Artikel und Reportagen für deutschsprachige Zeitungen in Österreich und Deutschland und der Schweiz. Als Bertholt Brecht in Moskau weilt und krank wird, ist sie seine behandelnde Ärztin. Er ist dabei ein Empfehlungsschreiben an den russischen Schriftsteller Konstantin Fedin zu schreiben und möchte sich für Angela einsetzen. Doch dann überschlagen sich die Ereignisse.
Nach dem Überfall der deutschen Wehrmacht auf die Sowjetunion wird Angela Rohr verhaftet und zu fünf Jahren Lager verurteilt. Danach ereilt sie das gleiche Schicksal wie alle Deutschen in der UdSSR. Sie bleibt bis Stalins Tod in Tawda, wo sie im Lager einsaß. Danach noch Jahre im Verbannungsgebiet. Erst nach ihrer Rehabilitierung Ende der Fünfziger darf sie nach Moskau zurückkehren.

Angela Rohr vor einer Forschungsreise nach Sibirien um 1927. PrivatarchivHans Marte, Wien

Insofern teilt sie das Schicksal, das alle deutschstämmigen in den Jahren nach 1941 ereilt: Verhaftung,Verbannung, Verbot an den Ort zurückzukehren, wo sie früher gelebt hat, später dann die Rehabilitierung. Ihr auf unkonventionellen Wegen erworbenes Medizinwissen erlaubt ihr im Lager als Hilfsärztin zu arbeiten. Wahrscheinlich rettet ihr diese kleine Lüge das Leben. Als Lagerärztin entdeckt die einen Heilmittel gegen Vergiftungen mit Schierlingspflanzen, was ihr ein Rennommée in wissenschaftlichen Kreisen einbringt.

Ihre Freunde im Westen glauben, sie sei 29-jährig verstorben. Sie hat aber bis ins hohe Alter in Moskau gelebt. Mit 67 Jahren fängt sie wieder an zu schreiben, Kurzprosa und einen Roman über das Lager. Ihre Manuskripte gehen unter, werden auch in der DDR abgelehnt, erst ein nach Wien geschmuggeltes Exemplar des Romans wird Mitte der Achtziger verlegt, unter einem Pseudonym. Leider erst ein Jahr nach ihrem Tod. Die Publizistin Gesine Bey aus Berlin entdeckt die Schriften Rohrs, die unter vielen Pseudonymen erschienen sind und gibt sie ab 2010 in Deutschland heraus. Der Roman „Lager“ erschien 2015 im Aufbau Verlag.

Das Besondere ist, dass wir über Angela Rohrs Werk und ihr sehr wechselvolles, langes Leben so wenig wissen. Und das obwohl ihre Geschichten mit einer unnachahmlichen, kraftvollen und dennoch eingänglichen Art eine hohe literarische Qualität aufweisen. Insofern passt sie in die Reihe der Bibliothek der vergessenen Bücher, die ich in unregelmäßigen Abständen vorstellen möchte.

Und nun zum Eigentlichen, zu ihrer Prosa:
Die Sammlungen enthalten auch frühere Essays, aus der Zeit als sie durch die Sowjetunion gereist ist. Begeistert für das neue Land, das neue System. Nichts ahnend von den Lagern im Hinterland. Was für ein Kontrast, die Analyse von Stalins Rede von 1933 und die Erzählung „Der Vogel“ knapp dreißig Jahre später. Viel ist dazwischen passiert.

Passierschein für Angelina Karlowna Ror 1948


Rilke, mit dem sie ja einmal befreundet war, hat über sie geschrieben: “… Angela hat beides, die Kraft, Einzelheiten festzuhalten und doch auch im Bewußtsein des Ganzen zu sein.“

Auch ich bin beeindruckt. Sie kommt mir vor wie eine Chirurgin der Wirklichkeit, als würde sie ihre Erlebnisse destillieren, klassifizieren und in kleine gläserne Kästchen packen, um sie später zu ettiketieren. Sie seziert das Grauen, beschreibt es so detailliert, so genau, dass es zum aufgespießten Insekt wird und an Schrecken verliert. Ihr gelingt es, Dinge einzufangen und auszudrücken, die außerhalb des menschlichen Horizonts, fast außerhalb der Sprache liegen.

Zum Beispiel die Beschreibung einer Untersuchung einer Gruppe weiblicher Gefangener durch ebenfalls weibliches Personal:

Das erste, was sie danach taten, war, daß sie uns mit aller Wucht in die Haare fuhren, so daß wir wankten. Auf ihren weiteren Befehl rissen wir den Mund auf, hoben die Zunge zum Gaumen und streckten sie dann in ihrer ganzen Länge aus. Wir mußten zeigen, daß wir nichts Verborgenes im Munde hielten. Wir hoben die Arme, deren Achselhöhlen sie kaum mit dem Blicke streiften, schon lange waren sie anscheinend als Versteck verpönt. Wir mußten uns dann, wie in der Gymnastikstunde, hinhocken, breitbeinig, um unser Inneres darzubieten, mit dem sie sich eingehend beschäftigten.
Leider waren auch sehr alte Frauen unter uns, die nach dieser Untersuchung nicht aufstehen konnten, die weiter hockten, mit verwirrten, verständnislosen Blicken um sich sahen und auf Hilfe hofften. Einige von uns, ruhigeren Charakters, legten dann nicht nur ihre, sondern auch die Sachen derer zu dieser Arbeit nun Unfähigen zusammen. Danach stand jeder mit seinem Bündel an Ort und Stelle, so als ob nicht geschehen wäre.

aus „Der Vogel“ (1959), S. 15

Irgendwo habe ich über Ihre Prosa gelesen, sie extrahiert das Absurde aus den Situationen. Kein Wunder, hing sie doch viel mit Dadaisten und Surrealisten ab in ihrer Jugend, vieles ist aber eher lakonisch bis sarkastisch:

Der Abend der Abfahrt war endlich da. Ich stand auf dem Bahnsteig, auf dem sich außer uns noch viele Fahrgäste befanden. Ich glaubte, den Ort nun für alle ewigen Zeiten verlassen zu können, hatte aber nicht mit der fürsorglichen Regierung dieses Landes gerechnet.
aus „Lager“, S. 132

oder:

Waren wir früher alle Spione gewesen, so hatte man uns schon längst zu Landesverrätern erhöht, obwohl ich den Unterschied zu diesen nie recht begreifen konnte.
Erzählung „Die Zeit“, aus dem Sammelband „Der Vogel“, S. 58


Es beeindruckt mich und ich denke, wer weiß, vielleicht hat diese kleine schmale Person diese Hölle bloß überlebt, weil sie sich gezwungen hat, zu beobachten. Von außen die Schrecknisse zu betrachten, um später darüber zu schreiben. Auf jedes Detail, jeden Satz achtend. Die Stimmung, die Szenerie, die Dialoge, die Personen genau einfangend. Zum Beispiel den Gesichtsausdruck einer Frau, die vom Verhör zurückkommt. Damit du es Wort für Wort, Buchstabe für Buchstabe später notieren kannst:

Die Frauen, die in jener Nacht verschwunden waren, gehörten nun für uns schon fast zu den Vergessenen. Nach ungefähr zehn Tagen kamen einige davon zurück, die anderen aber sahen wir nicht wieder. Das waren nun traurige Geschöpfe, die wir umringten. Sie hatten eine so merkwürdig fernen Ausdruck in ihren Gesichtern, ihre Arme gehorchten ihnen nicht ganz. Sie klagten, daß sie unsäglich müde seien, und so sahen sie auch aus. Das, was sie uns dann allmählich erzählten, das, was sie erlebt haben wollten, war schwer zu glauben und wir lehnten es auch ganz und gar ab. Wenn es die Wahrheit gewesen sein sollte, das, was sie uns mitteilten, hätte es uns doch auch treffen können. Es war besser und ganz richtig, daß wir diese Dinge nicht an uns herankommen ließen.
aus „Der Vogel“ S. 47

Hat sie deswegen überlebt? Weil sie sich vorgenommen hat, später zu berichten? Nein, das sind nur meine Spekulationen. Fragen kann ich sie nicht mehr, sie starb in Moskau im Jahr 1986, da lebte sie von einer Minirente in einer mit Büchern vollgestopften Wohnung. Und Tagebücher hatte sie meines Wissens nach nicht hinterlassen, nur ihre Prosa.
Möglicherweise hat sie das Arbeitslager überlebt, weil sie zäh war, weil sie Glück hatte, mehr als einmal. Ganz sicher, weil sie mutig war. Sie beschreibt ihre Zeit als Ärztin bei den Schwerverbrechern. Da kannst du dir nicht erlauben, auch nur die kleinsteSchwäche zu zeigen. Sie hat es geschafft, sich bei diesen Kriminellen Respekt zu verschaffen. Aber sie hätte niemals Ärztin von sich gesagt, immer nur Arzt.

Brot war natürlich das Wichtigste für uns, wenn auch jeder seine bestimmte Einstellung dazu hatte. Es war Nahrung, und auch wieder nicht, es war der Maßstab zu einem Charakter. Hier gab es Leute, die ihr Brot morgens, zusammen mit einem Viertelliter heißen Wassers, sofort und ohne zu schwanken aßen. Das waren die einen, die anderen aber zögerten aber damit und lebten in einer beständigen Angst, daß man es ihnen stehlen könnte, was auch ohne weiteres möglich war.
S. 20 „Der Vogel“

Hier haben wir keine Übertragung, keine Übersetzung aus dem Russischen oder dem Litauischen oder einem anderen Idiom. Es ist ein Zeitzeugenbericht in deutscher Sprache und von einer Qualität, die sich vor den Granddames und Grandmessieurs der Lagerliteratur nicht zu verstecken braucht.

Vereinzelt kommen auch Russlanddeutsche in ihren Geschichten vor. In den Erzählbänden taucht ein Artikel mit dem Titel „Deutsche Bauern in Russland“ auf, der 1930 in der Frankfurter Zeitung erschienen ist. Darin schildert sie die Eindrücke von einem Besuch eines deutschen Dorfes im nördlichen Kaukasus. Für mich ist es total spannend, das aus dieser Perspektive zu lesen, weder aus russischer noch von russlanddeutscher, sondern mit den Augen einer österreichischen Kommunistin.
Nicht immer schneiden die DaR bei Angela Rohr gut ab, sie zeigt sie mit all ihren Facetten. In ihrem Roman „Lager“ taucht eine eher grobe Wolgadeutsche auf, die sie, also die Protagonistin, bei den Wachhabenden anschwärzt, weil sie Angst hat, dass sie ihr den Platz als Sanitäterin streitig macht. Ein anderes Mal feiert sie Weihnachten mit drei wolgadeutschen Frauen, die in der Baracke „Stille Nacht, heilige Nacht“ singen. Doch sie kommen nur am Rande vor, wenn überhaupt. Wie der Tod Stalins in einem deutschen Dorf aufgenommen wird, beschreibt sie so:

Der Tag seines Todes war für die Bewohner des Dorfes eine Zeit der Trauer. Ich traf weinende Frauen auf der Straße, die gleich mir und ebenfalls als Deutsche ewige Verbannung erhalten hatten. Verstehe das wer will!
aus „Lager“, S. 287

Das muss Angela Rohr irgendwann in den Achtzigern sein.

Ich bin dankbar für den Fund, durch Zufall habe ich den Roman letztes Jahr in einem Antiquariat gesichtet. Ich weiß nicht, woher Angela Rohrs kristalline Klarheit kommt, diese kalte, über allem schwebende Sprache, die Abstand schafft, die konkret ist, Gefühle weglässt und dennoch so unter die Haut geht. Jedenfalls ist es eine Bereicherung und verschafft Einblicke in ein Leben, von dem wir uns sonst gerne abwenden. Weil es schwer ist, hinzusehen.

Veröffentlichungen von Angela Rohr, herausgegeben von Gesine Bey:

Der Vogel. Gesammelte Erzählungen und Reportagen. Basisdruck Verlag Berlin 2010.

Lager. Autobiographischer Roman. Aufbau Verlag, Berlin 2015. – Übersetzungen ins Niederländische, Tschechische und Italienische.

Zehn Frauen am Amur. Feuilletons für die Frankfurter Zeitung. Reportagen und Erzählungen aus der Sowjetunion (1928 – 1936). Mit Fotografien von Margarete Steffin und anderen. BasisDruck Verlag Berlin 2018.

Begegnung. In: Sinn und Form, Heft 3, Berlin 2016. S. 359-371

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