Die Reste eines alten Krieges

Die Reste des alten Krieges sind noch nicht ganz verschwunden. Einige Jahrzehnte Ruhe, mehr ist es nicht. Es ist noch nicht so lange her, nur wenige Generationen, da sahen die Straßen von Hamburg ebenso aus wie die von Mariupol, Bakhmut oder Cherson heute. Klaffende Lücken zwischen den Ruinen. Traurige Trümmer*. Überall Steinhaufen, zerrissene Stoffe. Scherben und Blut. Keine Orte für Menschen.
Eine alte Oma aus dem ukrainischen Tschassiv Jar sagte kürzlich einem Reporter gegenüber, sie fühle sich wie in der Hölle.


Wie lange wird es diesmal dauern, bis die sichtbaren Wunden geschlossen sind. Von den unsichtbaren ganz zu schweigen. Wie lange wird dieser vom Kreml immer wieder als militärische Operation bezeichnete Angriff nachwirken? Eine Operation, die Wunden schafft in Städten, Körpern und Seelen der Menschen. Die Auswirkungen werden lange spürbar bleiben, nicht nur in der Ukraine, nicht nur in dem Land, dass der russische Präsident überfallen hat, sondern auch in seinem eigenen.

Legen sich die neuen Wunden über die anderen, älteren? Oder werden die alten Wunden dadurch erst aufgerissen? Das Trauma bei denen, die schon den letzten Krieg erlebt hatten, wird reaktiviert.
Den Alten geht es nicht gut. Die Alpträume sind wieder da.

Doch, solange die Bombenkrater rauchen, ist das eine nebensächliche Frage. Der Krieg muss beendet werden. Darin sind sich alle einig. Dennoch dauert er an. Dauert die Zerstörung an. Die Flucht. Der Tod.

Ich werde nach meiner Meinung gefragt. Meine persönliche Meinung. Als ob das von Bedeutung wäre. Ich werde als etwas zu Russland Gehöriges erkannt und soll Position beziehen. Als ob das am Ausgang des Krieges was ändert, wie ich denke.

Doch dieser Krieg ist nicht nur ein Gemetzel mit Waffen, sondern auch mit Informationen. Es wird versucht, in unsere Köpfe zu kriechen, um dort Stimmungen zu erzeugen. Ich benutze hier die passive Form, weil es ein vielköpfiges, virales Etwas ist, kein eindeutiger Feind, keine Person, kein Gegenüber, mehr so ein Nebel aus Falschinformationen und Gegendarstellungen. Gelenkte Information, eine allgemeine Verunsicherung, und zwar nicht die erste, die es gab.

Außerdem, eine Meinung ist vielleicht nicht wichtig, aber wenn aus vielen Tausend Meinungen eine Masse erzeugt wird, dann gewinnt sie doch Gewicht, dann wird sie zu einem kalkulierbaren Werkzeug. Denn Masse lässt sich manipulieren, Masse lässt sich vereinnahmen und bewegen, wenn auch schwer. Aber wenn sie mal in Fahrt kommt, ist sie schwer aufzuhalten.

Klar ist es nicht leicht, dem auf den Grund zu kommen, was gerade wirklich geschieht, was wahr ist, oder was nur als Mittel zum Zweck der Gefolgschaft dient.

Kann Meinung, als Meinung einer einzelnen diesem Informationsfluss was entgegensetzen? Auch wenn sie an sich nicht wichtig ist. Unterzugehen droht im lauten aufgeregten Geschrei. Leiser ist als die derjenigen, die Straßendemos organisieren, die so überzeugt ihre Meinungen hinausdröhnen und nicht merken, dass es doch nur Parolen sind, dass sie einem Fänger auf den Leim gehen. Sollen sie sich benutzen lassen. Irgendwann gibt es ein böses Erwachen. Hoffentlich.

Vor Wochen war ich bei einem Seminar mit lauter jungen Leuten aus der rd community. Sie waren verzweifelt, denn der Informationskrieg hat tiefe Breschen in ihre Familien geschlagen. Alle Familien waren betroffen. Meine Aufgabe war es, einige Erklärungen zu präsentieren, weshalb Verwandte, Freunde, nicht nur ältere, auch viele Junge sind darunter, so empfänglich für Putins Propaganda sind. Wie es zu diesem Konflikt der Generationen kommen konnte. In manchen Familien wird nicht mehr über die Ukraine gesprochen. In anderen wird noch immer heftig gestritten. Besonders zwischen der Kinder- und der Elterngeneration. Aber nicht immer sind diejenigen, die eine vom Kreml gestreute vertreten, älter. Nicht immer. Aber oft.

Ich habe nicht gesagt: kehrt der Familie den Rücken. Basta. Macht euer Ding. Das ist zwar legitim, aber nicht für alle machbar. Obwohl, wenn ich so recht drüber nachdenke. Generationenkonflikte gab es schon immer, seit den alten Griechen und noch davor. Die Jungen haben anders gedacht, die Jungen mussten in die Welt, raus aus der Sphäre der Alten. Das ist normal.

Aber wenn sich Kriegsmächte in die Familien einmischen, ist nichts mehr normal. Und in der seltsamen abgeschotteten Geschichte der RD ist der Generationenkonflikt anders. Nicht wie bei den Hiesigen und ihren Achtundsechziger-Eltern.

Zunächst ist da die Frage der Generationen. Meine These ist, bei Russlanddeutschen es nicht nicht nur der Konflikt zwischen zwei aufeinanderfolgenden Generationen. Diejenigen, die hier sozialisiert wurden oder hier geboren sind, sind mindestens drei Generationen von ihren Eltern entfernt. Mindestens.
Durch die konservierte Kultur innerhalb der zum Teil abgeschotteten deutschen Gemeinschaften vor dem Zweiten Weltkrieg, sind einige auf dem Stand von 1860 geblieben. Andere sind bei 1920. wieder andere in den 1950erjahren angekommen. Diese Siedlungen waren Konserven, die keine Luft und wenige Einflüsse hineingelassen haben. Und nach dem Krieg, in der Gefangenschaft, auch da war nichts mit Revolution. Mit freier Liebe. Mit niederreißen von Zäunen. Wie denn, wenn du hinter Stacheldraht gefangen bist. Abgeschnitten von allem.

Steile These? Vielleicht.
Aber allein der Wechsel der Systeme, die meisten der Elterngeneration sind in einem anderen System aufgewachsen, ist ein tiefer Abgrund. Und ich werte nicht. Es war einfach anders. Eine andere Welt. Aber egal, wie ich das bewerten würde, der Sowjetstaat war ebenfalls abgeschottet. Es ist wie im eigenen Saft schmoren. Nur wenige durften raus.

Konserve ist ein gar nicht so falsches Bild dafür. Es hat sich eine eigene Kultur ausgebildet, nicht schlechter, nur anders, die Verbindung, der Fluss und der Austausch mit anderen Ländern waren erschwert. Die Jugend damals war hungrig nach frischen Ideen. Alle jagten nach Platten aus dem Westen, obwohl sie verpönt war und anfangs sogar verboten. Abba im Radio, das war schon später.

Ich spreche jetzt für die zweite Generation der Russlanddeutschen hier, oder die anderthalbte. Die meisten unserer Eltern kamen als junge oder erwachsene Menschen in ein neues System. In ein fremdes Land. Das sie nicht mit offenen Armen empfangen hat. Das sie nicht anerkannt hat. So hingen sie lose im Raum. Weder dort zugehörig, noch hier.

Erst vor kurzem war im swr Fernsehen eine Doku zu sehen, wo es hieß: Die Russlanddeutschen. Sie leben unter uns, sie arbeiten bei uns, aber gehören sie wirklich dazu? So oder so ähnlich. Keine Lust, das jetzt nachzuschauen.
Wir waren, und wir sind noch immer Fremdkörper. Also ich würde mich nicht wundern, wenn sich einige dadurch nicht gerade angespornt fühlen, sich zu integrieren. Wenn sie sich dem alten, dem ursprünglichen System zuwenden. Es sind so viele Kränkungen entstanden. Und Kränkungen sind nicht zu unterschätzen.

Damals, 2016, als der Skandal um die angebliche Vergewaltigung einer Teenagerin aus Berlin unsere community erschütterte, sprach der russische Außenminister Lawrow, der nämliche wie heute, von „unserem“ Mädchen Lisa.
Was bedeutet im Klartext: Wir haben euch im Blick. Wir haben euch nicht vergessen. Ihr gehört zu uns.
Wenn das keine Drohung ist. Und ein Rattenfängertrick.

Die erfahrene Kränkung, dieses Nichtdazugehören der Neuangekommenen ist ein starkes Plus für die russischen Machthaber. Da hätte Deutschland etwas sensibler und klüger handeln müssen. Statt dessen haben als viele von uns kamen, windige Demagogen den Fremdenhass zu lenken gewusst und so Wählerstimmen für sich gewonnen. Ich denke da nicht nur an Lafontaine. Auch Norbert Blüm hat mal etwas von „deutschem Schäferhund“ gefaselt. Selber Schuld.

Es gibt noch andere Gründe für eine Zuwendung zu Russland, dem Nachfolgestaat der Sowjetunion. Nicht alle sind gleich gewichtig. Nicht alle will ich hier aufzählen.

Mittlerweile denke ich, dass einer der wichtigsten Gründe die Unwissenheit über die eigene Geschichte ist.
Woher sollen sie sie auch kennen? Man muss sich schon aktiv darum bemühen. Oder das zweifelhafte Glück haben, dass die Alten erzählen.

Die meisten Russlanddeutschen, die hier leben, kennen ihre eigene Geschichte nicht. Weil sie nicht vorkam. Dort nicht. Und hier auch nicht. Die Alten, die Erlebnisgeneration redete nicht, aus Scham, aus Schmerz, weil sie keine Worte für die Schrecknisse hatte. Weder in den Schulbüchern noch im Diskurs kommen wir groß vor. Rausgefallen aus der Gesamtgeschichte. Was ein Glück für die russische Propagandist*innen. Da haben sie ein leichtes Spiel.

So kommt es, dass diejenigen, die Stalin verherrlichen plötzlich eine Option sind. Dabei war es dieser schnurrbärtige Onkel, der alle ins Lager gesteckt hat. Auch die wolgadeutsche Oma, auch die ukrainedeutschen Großeltern auch die Vorfahren aus den deutschen Dörfern auf dem Kaukasus.
Mit denselben menschenverachtenden und entwertenden Mechanismen, wird und wurden Gründe gefunden, andere Gruppen zu diskreditieren. Unter Stalin wie unter Putin. Es ist das Gleiche in Grün. In Z. Nur dass die jetzigen zu verdammenden Gruppen das ukrainische Volk, LGBTQ-Leute oder der Westen allgemein sind.
Doch wer diese Mechanismen nicht kennt, wer für die eigene Geschichte blind ist, wird den listigen Worten glauben.

Natürlich ist die entfesselte zielgerichtete Propaganda auf allen Kanälen die die russische Regierung, trotz Sanktionen streut, ein sehr wichtiger Baustein. Sie säen Desinformation, sie säen ihre Sicht der Dinge, egal ob sie zutrifft oder erlogen ist.
Aber es muss etwas da sein, was empfänglich ist, damit diese Saat aufgeht. Und anscheinend geht sie auf. Gekränkte Identität, Unwissenheit der eigenen Geschichte. Eine Verklärung der heilen Kindheit in der Sowjetunion. Der Verdacht, dass der Westen seine eigene Wahrheit erzählt. Tut er. Es ist auch gut, alles zu hinterfragen. Aber bitte nicht, in dem man sich der nächstbesten Diktatur in den Rachen wirft.

Wie aber damit umgehen? Was tun, wenn im Freundeskreis und in der Familie die Narrative des Kreml verteidigt werden? Ihnen allen den Rücken drehen? Über seinem Teller mit Pelmeni beim nächsten runden Geburtstag den Groll runterschlucken und schweigend nicken?

Es gibt drei Wege. Trennung. Selbstverleugnung oder ewiger Streit. Nicht so schön, aber so sind nunmal die Möglichkeiten. Doch das habe ich nicht gesagt.
Das ist es nicht, was ich allen auf den Weg geben wollte. Sondern folgendes: Bildet Banden! Sucht euch Gleichgesinnte. Wenn ihr euch informiert, werdet ihr merken, dass es nur wenige sind, nicht die Mehrheit, die der Kremlpropaganda auf den Leim gehen oder die von ihm korrumpiert lauthals seine verdrehten Wahrheiten hinausschreien. Es ist nicht die große Mehrheit. Sucht die anderen, vernetzt euch mit ihnen.

Weiterer Punkt: die eigene Geschichte kennen. Dann kann dir niemand erzählen, wer und was du sein sollst. Das eigene Selbstbild stärken ist wichtig.

Es kostet außerdem viel Kraft Solange diese vorherrschende Spannung aushalten zu können. Also Kraft sammeln. Gut zu sich sein.

Es gibt genug fernöstliche oder fernwestliche Techniken, um zu lernen, den eigenen Raum einzunehmen, für sich einzustehen, im Gleichgewicht zu bleiben. Egal, ob Yoga, Kampfsport oder Haka. Von mir aus auch Tango oder Gesang oder kontemplative Meditation. Alles was die eigene Wahrnehmung stärkt, alles was den eigenen Raum festigt, ist förderlich.

Was noch? Wenn Argumente nichts fruchten? Wenn sich alle mit vermeintlichen Fakten zu überschreien versuchen?

Aushalten. Abwarten. Ausharren und versuchen, sie alle dennoch irgendwie zu lieben.
Die Zeit wird nicht alle Wunden heilen, aber auch dieser Krieg hat irgendwann ein Ende. Irgendwann können wir uns um die Ruinen kümmern. Aufräumen, sortieren und die Spuren des Krieges beseitigen, der dann seinerseits zu einem alten Krieg geworden sein wird.

Deckname Ramsay

Er war der Spion, der den zweiten Weltkrieg hätte verhindern können. In der Russischen Föderation ehrt man ihn mit Denkmälern und benennt Straßen nach ihm. Hier ist er fast völlig in der Verdeckung verschwunden: Dr. Richard Sorge, Stalins Spion in Tokio.

R_SorgeEs gibt eine Richard-Sorge-Straße in Berlin, ganz in der Nähe der Karl-Marx-Allee. Ein kleines Programmkino befindet sich dort. Aber es ist fraglich, ob da jemals ein Film über diesen Spion und ausgezeichneten Journalisten, diesen Querkopf und Frauenhelden gelaufen ist. Die Sache mit Sorge ist in unserem Land eher unbekannt.

Ab 1961 bleiben die Tilsiter Lichtspiele, so heißt das kleine Programmkino sogar für mehrere Jahrzehnte geschlossen. Genau in diesem Jahr erschien der Streifen: Qui etes vous, Monsieur Sorge? des französischen Regisseurs Yves Ciampi mit Mario Adorf in der Rolle des Max Clausen, eines der Mitarbeiter des Tokioter Spionagerings. Damals wurde die Straße noch als Tilsiter Straße geführt.

Dieser Film Noir war es aber, der den damaligen Vorsitzenden Nikita Chrustschew 1964 auf diese schillernde und historisch so bedeutende Persönlichkeit aufmerksam gemacht hat, er rief nach der geschlossenen Ausstrahlung vor einem illustren Kreis der KP sogar aus: Aber, Leute, das war doch ein Held!

Seit dem wird Sorge in der Sowjetunion mit anderen Augen gesehen. In den letzten Jahrzehnten wurden nicht nur Straßen nach ihm benannt, sogar diverse Denkmäler für diesen spät erkannten Helden der Sowjetunion werden einer nach dem anderen eingeweiht.

Dabei reicht die Persönlichkeit und das Leben Sorges für mindestens 5 Blockbuster:

Er war der erste Europäer, der in Japan hingerichtet wurde.
Er war Sohn einer Russin und eines Deutschen, geboren in Baku, aufgewachsen in Berlin.
Er war Kommunist, als Soldat im Ersten Weltkrieg auf deutscher Seite verwundet. Im Lazarett mit den Lehren Marx‘ und Engels‘ in Berührung gekommen. Dort wurde er radikalisiert, wie man heute so schön sagt.
Er ging nach Moskau, wurde Mitglied des Komintern und glühender Atheist.
Er baute in Tokio einen Spionagering auf.
Er war bester deutscher Journalist des Jahres 1941.
Er war Vertrauter des Botschafters in Tokio.
Er war ein starker Raucher und Trinker, fuhr wie ein Berserker Motorrad und Automobil. Ein Arbeitstier.
Er war ein Draufgänger und Casanova und hat sich nie den Mund verbieten lassen.
Er war Doppelagent. Für Russland und für Deutschland, aber für die Deutschen nur zum Schein, um an strategische Informationen zu kommen.
Er war derjenige, der den Genossen Stalin 1940 davor gewarnt hat, dass Hitler die Sowjetunion angreifen wird.

Leider hat Stalin eher an den Nichtangriffspakt geglaubt als seinem Abgesandten in Tokio. Das war ein folgereicher Fehler und deshalb musste Sorge, als unliebsamer Zeuge des Stalinschen Unvermögens, 1944 sterben.

Sorges Presseausweis
Sorges Presseausweis gültig bis 1946, da war sein Inhaber schon tot.

Die Japaner wollten ihn gegen einen japanischen Agenten austauschen, aber Stalin hat geantwortet: Sorge? Kennen wir nicht. Es gibt keinen Genossen dieses Namens in der Sowjetunion.

Und damit war sein Ende besiegelt.

Schon Ende der Dreißiger war Stalin dieser Geheimdienstmitarbeiter in Tokio ein Dorn im Auge. Viele der anderen Agenten, die in Moskau geblieben sind, wurden im Zuge der großßen Terror-Säuberungen liquidiert. Auch Sorge hat die Weisung erhalten, in die Hauptstadt zurückzukehren. Aber er antwortete frech, er hätte zu viel zu tun, wäre unabkömmlich. Eine Antwort, die den Generalissimus in Rage versetzt haben mag.

Anfang der Vierziger befindet sich Japan in einer regelrechten Spionage-Paranoia. Filme und Berichte heizen das Misstrauen weiter an. In den Schaufenstern hängen Portraits von vermeintlichen Agenten mit europäischem Aussehen. Trotz dieser Stimmung war Richard Sorge recht rege und erfolgreich, er hat ein eigenes Kodierungssystem entwickelt. Als Schlüssel benutzte er das STATISTISCHE JAHRBUCH für das Dritte Reich von 1935. Damit konnte er die Chiffrierung bis in die Unendlichkeit variieren. Die sensiblen Informationen wurden auf Mikrofilm aufgenommen. Bis zu einem winzigen Punkt reduziert, konnten sie nun auf einfache Briefe geklebt werden. Als Interpunktionszeichen.

Doch Sorge hat nicht nur bloße Informationen weitergegeben, wie von ihm verlangt wurde, sondern sie ausgewertet und seine Analyse der Lage mitgeliefert, das hat Stalin auch nicht besonders gefallen.

Seine zweite wichtige Botschaft, dass die japanischen Truppen nicht vorhatten, Russland von Osten aus anzugreifen, wurde im Kreml ernst genommen und führte dazu, dass die rote Armee sich auf die Westfront konzentrieren konnte. Was den Verlauf des Krieges erheblich beeinflusst hat.

Dokumentationen über Sorge gibt es einige (viele in russischer und eine sehr kurze in deutscher Sprache) und auch weitere Filme, zum Beispiel die deutsch-japanische Produktion Ein Spion aus Leidenschaft von 2003/2003 des Regisseurs Masahiro Shinoda, die hierzulande genauso sang und klanglos in den Wogen der Geschichte verschwunden ist wie ihr Protagonist.

Was schade ist, ich würde diesen Film gern selbst und in längerer Version als der eines Trailers sehen. Die DVD ist leider vergriffen und lediglich für einen Preis von 66,- Euro online zu erwerben. Der Schotte Ian Glenn verkörpert hier den Meisterspion und Ulrich Mühe ist in der Rolle des Botschafters Ott zu sehen.

Die Meinung eines amerikanischen online-Kritikers zu diesem Film:

Dieser historische Film ist eher politisch als historisch motiviert. Weil es an ein deutsches Publikum adressiert ist, überschattet seine anti-kommunistische Botschaft Dr. Sorges Spionage-Erfolge, seine Warnung an Stalin, dass Nazi-Deutschland die Sowjetunion am 20. Juni 1940 attackieren würde, und dass Japan die Sowjetunion in der Mandschurei nicht angreifen würde, sondern seine Streitkräfte auf Pearl Harbor richten würde, scheint den Regisseur Masahiro Shinoda wenig zu interessieren. Es wäre spannend zu wissen, wie die deutschen Zuschauer auf die Botschaft dieses Films reagiert hätten, in dem ein Mann der Hitlers Niederlage im Osten beteiligt war, das nur getan hat weil er ein verwirrter Idealist gewesen ist.

Der Trailer, auf japanisch mit englischen Untertiteln, wirkt denn auch sehr militaristisch und Japan-zentristisch…:

https://www.youtube.com/watch?v=YLctuvKRK9Y

Das Buch des britischen Journalisten Robert Whymant ‚Richard Sorge: Der Mann mit den drei Gesichtern‘ von 1999 kann dagegen neu oder antiquarisch erworben werden und gehört sogar zu den Bild-Bestsellern. Was immer das heißen mag. Ich bin gespannt ob auch das politisch gefärbt ist und in welche Richtung…

Außerdem ist 2008 im Carlsen Verlag eine wundervolle Graphic Novel erschienen, entwickelt und gezeichnet von der in Hamburg lebenden Künstlerin Isabel Kreitz: Die Sache mit Sorge – Stalins Spion in Tokio

Da erzählt sie die Geschichte Richard Sorges aus der Sicht von mehreren Zeitgenossen, seinem Vertrauten Max Clausen, seiner Geliebten, der der Pianistin Eta Margarethe Harich-Schneider und einigen anderen Mitstreitern oder Gegenspielern des Spions. Komprimiert auf einige wenige Monate vor seiner Verhaftung. So entsteht ein facettenreiches Bild, und die Geschichte kristallisiert sich nach und nach heraus.

Vom Fischkorb im Hafen, die Oberleitungen und alten Straßen, die Gebäude und ihre Inneneinrichtung oder auch die Kleidung der Menschen, egal ob auf den Straßen der Kaiserstadt oder in den Botschaftsräumen – alles wirkt authentisch und scheint einen förmlich zurück ins Tokio der frühen 40iger Jahre zu führen.

Hier ein Trailer zur Graphic Novel Die Sache mit Sorge auf youtube

Cover Sache_Sorge

Der blogger comicneurotiker dazu (comicneurotiker.blogger.de):

‚…die Thomas-Mann-Verehrerin Kreitz (…) erforscht die Luxus-Enklave der deutschen Botschaft in Tokio und zeichnet sie als eine Art Nazi-„Zauberberg“. Dessen hell- bis dunkelbraune Herren befassen sich – fern von Berlin – lieber mit Klatsch und Konzerten als mit Krieg und Politik. Als Spötter und Spion irrlichtert Richard Sorge am Rande dieser Welt herum. Seiner Romanze mit der zur Botschafts-Menagerie gehörigen Musikerin Eta Harich-Schneider räumt Kreitz dabei ebenso viel Raum ein wie seiner Agententätigkeit.

Kreitz‘ Hirohito-Tokio und all seine Bewohner wirken auf den ersten Blick fast fotorealistisch, stecken aber voll fiebrig flirrender Schraffuren – so wie Historie großenteils aus trügerischen Erinnerungen besteht. Ebenso fügt sich aus den Schilderungen der Zeitzeugen bis zuletzt kein klares Bild des Reporters, Idealisten, Säufers und Schürzenjägers Richard Sorge zusammen: Jeder Beteiligte erzählt nur seine Geschichte.‘

Ein Detail erwähnt Isabel Kreitz in ihrem Buch knapp auf den letzten Seiten, wo Sorges Kurzbiografie und einige Zeilen über die anderen Beteiligten und deren weiteres Leben stehen, eine Sache, die in einem Hollywoodstreifen viel mehr ausgereizt werden würde:

Fünf Jahre nach seinem Tod erreicht Sorges letzte japanische Geliebte Hanako Ishii, dass seine Überreste aus einem Massengrab in eine eigene Grabstätte überführt werden können. Sie hat sein Skelett an den für einen Europäer typischen riesigen Schuhen und einigen anderen Details, wie der Uhr und den Goldkronen erkannt. Aus den letzteren lässt sie sich einen Ring als Erinnerungsstück machen. Hanako überlebt ihren deutsch-russischer Geliebten um 56 Jahre. Sie hat nie geheiratet oder Kinder bekommen und starb in Tokio im Jahre 2000.

Also wenn neben dem Spionagethriller nicht noch mindestens eine glühende Liebesgeschichte darin verborgen ist, dann weiß ich auch nicht. Leider hat Hollywood nie wirkliches Interesse an diesem Stoff gezeigt.

Die Gründe für die mangelnde Anteilnahme an diesem für den Verlauf des Krieges so wichtigen Agenten lassen sich einfach subsummieren: er war Kommunist. Er stand auf der anderen Seite. Und er war ein Hybrid, weder russisch noch deutsch. Beziehungsweise ein Deutscher mit russischen Wurzeln, der Sache der Bolschewisten verschrieben. Ein Held mit falschem Vorzeichen. Die Russen mögen über seine nationale Zugehörigkeit mittlerweile großzügig hinwegsehen. Aber die USA und Deutschland können nicht so locker mit seiner politischen Einstellung Umgehen. Also Schwamm drüber.

Dr_Richard_Sorge
Held der Sowjetunion – Marke von 1965

1951, in der Ära McCarthys, wurde die Angelegenheit Richard Sorge übrigens im Kongress der USA behandelt, er stand posthum unter dem Vorwurf, er habe die Japaner dahin beeinflusst, die Sowjetunion nicht anzugreifen, sondern statt dessen den Angriff auf Pearl Harbour zu führen.

Die Rezeption des Films von 1961 war in der BRD jedenfalls eher dürftig.

Ein Kommentar im Spiegel: Da die Autoren sich zwischen Fiktion und Dokumentation nicht entscheiden konnten, fehlt ihrem Produkt sowohl die Dramaturgie als auch die Authentizität. Oberste tragen Generalsbiesen, BDMMaiden das Goldene Parteiabzeichen, und das Milieu ist auch nicht glaubwürdiger. Das echteste sind die weiten Hosen von Sorges Funker (Mario Adorf).

Die geschichtliche Aufarbeitung war 16 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges wohl noch nicht so weit gediegen. Oder der Film kommt wirklich so unentschlossen daher. Zugegeben, die Kostüme scheinen aus dem Jahre 1955 zu stammen, waren eher der Mode der echten Drehzeit angepasst als genau recherchiert. Aber das sind doch nur Randerscheinungen. Über den Inhalt, nada.

Aber sind wir nicht inzwischen entspannt genug, um geschichtliche Ereignisse über ideologische und nationale Grenzen hinweg zu betrachten? Wie wärs mit einer filmischen russisch-japanisch-deutschen Neuauflage dieses Falls? Ohne Hollywood.

Dann hätte die Sache Dr. Sorge doch noch die Chance in den Tilsiter Lichtspielen in der Richard-Sorge-Straße zu laufen. Und das wäre doch eine Reise nach Berlin wert!

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