Spruch der Woche – Schultikulti

‚Ihr seid nicht schuld an dem, was war, aber verantwortlich dafür, dass es nicht mehr geschieht.‘

       Max Mannheimer, Zeitzeuge und Holocaust-Überlebender, der letztes Jahr mit 96 Jahren verstorben ist.

Der Diskurs um Erinnerungskultur vs Schuldkult ist letzte Woche an den Äußerungen des AfD Vorsitzenden aus Thüringen Björn Höcke heftig entbrannt.

In seiner Rede in Dresden vor zwölf Tagen nannte er die bisherige Erinnerungskultur in der Bundesrepublik ‚dämlich‘ und versprach eine Wende um 180°. Über das Holocaustdenkmal in Berlin sagte er:

Wir Deutschen, also unser Volk, sind das einzige Volk der Welt, das sich ein Denkmal der Schande in das Herz seiner Hauptstadt gepflanzt hat.

Wen wundert‘s, dass er nach solchen Worten weder bei einer Gedenkstunde im Thüringer Landtag noch bei einer Veranstaltung in Buchenwald anlässlich des Holocaust-Gedenktages am Freitag eingelassen wurde.

Bei Russia Today ein darob entsetzter Höcke. Plötzlich spricht er wieder vom ‚dunkelsten Kapitel deutscher Geschichte‘. Und von einem anderen Sender aufgenommen, der gezischelte Satz vor seiner Ansprache: Ablauf, wie geprobt. Selbstinszenierung eines Empörten.

Die Reaktionen zu seinen Statements in Dresden sind kontovers. Die einen führen seine Behauptung ad absurdum, bei uns würde Geschichte nur auf Deutschlands Schuld reduziert und die Errungenschaften unserer großen Söhne würden untern Teppich gekehrt. Journalist Rayk Anders zählt in seinem Beitrag die vielen Kunststätten und Denkmäler auf, die in Berlin aufgestellt wurden. Andere regen sich auf, dass wir in einem Land leben, in dem nicht alles gesagt werden darf.

Hier die Reaktion vom Journalisten und Videoblogger Rayk Anders:

Beispiele von andersgepolten User-Kommentaren:

Jetzt versucht man ihn und andere mit falscher Meinung auszugrenzen.
Andere Meinung sollte man in einer Demokratie aushalten können.

Und:

Dass hier viele Linke so getriggert sind und quasi ausrasten, weil Höcke ihnen ihre allergrößte Leistung, ja ihre Religion, wegnehmen will, zeigt ja, wie recht er hat. Es ist eine Religion der Schuld, ganz wie früher, als hier noch die Kirchen herrschten: Die Erbschuld! Dabei bin natürlich ich genauso wenig oder viel dafür verantwortlich, was vor 70 Jahren in Deutschland geschah, wie ein Chinese. Nämlich gar nicht. Aber die Linken wollen die Besten sein. Früher die besten im Menschen ermorden (das haben sie geschafft!), heute die Besten im sich selbst fertig machen und im „Mea Culpa!“ schreien. Und sie sind wieder dabei, zu krakelen: „Am Deutschen Wesen soll die Welt genesen!“ wenn sie fordern, dass alle anderen Nationen es der deutschen Nation nachmachen sollen.

Beispiel aus dem Artikel der Deutschen Welle vom 27. Januar:

AfD-Kreissprecher Bleeker berichtet vom Geigenlehrer seines Sohnes. Der habe als Russlanddeutscher in den 60er und 70er Jahren in Russland gelebt und sich dort nur von den Nachrichten der Deutschen Welle frei informieren können. „Der war überrascht über die Situation hier und sagt heute, jetzt gebe es wieder diese ‚Nur-in-der-Küche-Gespräche‘, wie es damals bei ihm war.“ Über bestimmte Dinge könnte man wohl in Deutschland nicht mehr offen nachdenken.
(Hier der ganze Artikel)

So als gäbe es Unsagbares. So als hätte Höcke ein Tabu gebrochen und würde jetzt mundtot gemacht werden.


Schande. Schuld. Sippenhaft.

Nun, darum geht es nicht bei dem Umgang mit ‚dem dunkelsten Kapitel unserer Geschichte‘, Herr Höcke. Ich glaube, Sie missverstehen da einiges. Aber wahrscheinlich ist Ihnen das egal. Eine gute Publicity ist das allemal, alles läuft nach Plan. Ablauf, wie geprobt.

Da werden allerdings Ebenen verwechselt. Es geht aber bei dieser Sache nicht um ein Eingeständnis der Schuld über Generationen hinweg. Es geht nicht darum, voller Scham, die Köpfe zu senken.

Menschen, die sich mit der Täterschaft in der eigenen Familie auseinandersetzen, sprechen nicht von Schuld – sie haben etwas ganz anderes im Sinn.

Auch die Begegnungen zwischen Nachkommen von Opfern mit den Nachkommen von Tätern dienen nicht einem Eingeständnis von Schuld. Sie dienen einem Prozess der Heilung. Es geht um Versöhnung nicht um Vergebung. Das ist ein kleiner aber feiner Unterschied.

Daher ist der Begriff Schuldkult hier unzutreffend. Es gibt keine Sippenhaft. Aber es kann eine Blindheit gegenüber den historischen Begebenheiten geben. Und daraus resultiert nichts Gutes.

Eine anonyme Stimme in diesem Diskurs fordert auf Youtube, andere Nationen sollten sich auf die dunklen Seiten ihrer Geschichte besinnen:
Vielleicht sollten sich andere Nationen wie USA, Russland, Türkei, Japan, China, Spanien, Großbritannien, usw. ein Beispiel an uns nehmen und ebenfalls Denkmäler für ihre historischen Schandtaten und Massenmorde errichten. Dann gedenken wir weltweit unserer historischen, kollektiven Geistesgestörtheit und erschaffen zusammen eine bessere Welt.

Bekommt die nationale Identität durch diese Form von Gedenken wirklich einen Schaden? Oder wird das Selbstverständnis um einige Schattierungen erweitert?  Staaten können sich entziehen. Aber die Opfer können nicht vergessen. Ihre Alpträume reißen sie aus dem Trott. Ist Vergessen das Privileg der Sieger?

Fast jede Nation hat Leichen im Keller. Millionenfach. Fast jedes Volk hat ein anderes auf dem Gewissen. Die Türkei hat sich dem Genozid an den Armeniern noch immer nicht offiziell gestellt. Russland erfährt einen neuen Stalinkult und weder Australien noch die USA haben das, was sie mit den ursprünglichen Bewohnern ihrer Länder getan haben, offen und öffentlich behandelt.

Sollen wir sie als Vorbilder nehmen? Diejenigen, die sich der Vergangenheit nicht stellen, sondern aus schlecht verstandenem Stolz die Geschichte als blinde Hurra-Wir-sind-die-Größten-Paraden betreiben. Siegreiche Helden. Jede Seite hat Täter und Taten, die sie zu verantworten hat. Es gibt nicht die gute Seite in einem Krieg.

Wenn das Vergessen und Verschweigen ein Privileg der Sieger ist, so ist das aufrechterhalten der Erinnerung vielleicht eine Chance der Besiegten. Die Chance, die all die Gewinner und Hurra-Schreier nicht ergreifen werden, weil sie es schlicht nicht müssen.

Auch wenn ich mich wiederhole wie ein Tukan: Es handelt sich hier nicht um einen Schuldkult der Multikulti-Gesellschaft. Es handelt sich nicht um dämliche Schuldzuweisungen. Das ist nicht Kindergarten hier. Was unser Part ist nach alldem: Versöhnung. Und vielleicht noch Mahnen. Die Erinnerung soll wach gehalten werden, damit das Grauen sich nicht wiederholt. Warum nicht gleich im Herzen der Hauptstadt. Eine Schande ist es nicht. Dies ist ein alter, überkommener Begriff. Finsteres Mittelalter.

Und dass ein Geschichtslehrer das nicht verinnerlicht hat, wundert mich etwas.

Aber vielleicht hat Björn Höcke ja persönlich eine ganz andere Geschichte aufzuarbeiten. Als Nachkomme von Vertriebenen. Und das wissen wir, dass das Hinschauen schon mal wehtun kann. Dann lieber gegen irgendeine nicht vorhandene Schuld anschreien. Und vor allem, anderen Schuld zuweisen. Hat ja auch schon früher wunderbar funktioniert.

Richard-Sorge-Gedenktafel als Werbeträger für den Kreml?

Richard Sorge Gedenktafel, Einweihung, russische Soldaten.
Foto:  Eva Brüggmann 6.11.69 Berlin

Die RIA Novosti aus Russland berichteten gestern, dass am 7. November diesen Jahres in Berlin eine Gedenktafel für den Journalisten und Agenten Dr. Richard Sorge feierlich eingeweiht wurde. Bei der Zeremonie waren ca. 100 Menschen anwesend, unter anderem Veteranen der Geheimdienste und ehemalige Militärs beider Staaten, Russlands und Deutschlands.

Bis sie 1990 entwendet wurde, hing bereits eine Gedenkplakette an der Wand der Richard-Sorge-Straße/Ecke Weidenweg im Osten der Hauptstadt. Seltsam, aber Anfang der Neunziger sind in Friedrichshain wohl so einige Gedenktafeln von antifaschistischen Kämpfern verschwunden. Ob es dem US-Wahlkampf geschuldet ist oder an sich eine unwichtige Nachricht ist, in den deutschen Medien finde ich online heute kaum was über die erneute Einweihung dieser Tafel.

Wer Dr. Sorge war, lässt sich hier im Blog nachlesen, ich habe schon Anfang des Jahres über ihn geschrieben.

Zentralbild Brüggmann 6.11.69 Berlin: Die Tilsiterstraße im traditionsreichen Berliner Arbeiterbezirk Friedrichshain wurde am 6.11.69 feierlich in Richard-Sorge-Straße umbenannt. Hier enthüllt Max Christiansen-Clausen, der Funker des mutigen Kundschafters, mit seiner Frau Anna eine Gedenktafel. Sie erinnert an den Helden der internationalen Arbeiterbewegung, der am 7. November 1944 von der japanischen Reaktion ermordet worden war.
Foto: Eva Brüggmann. Hier enthüllt Max Christiansen-Clausen, der Funker des mutigen Kundschafters, mit seiner Frau Anna eine Gedenktafel.

Die ehemalige Tilsiter Straße wurde im November 1969 nach ihm benannt, mit einem feierlichen Akt. Am 7. November ist er in einem japanischen Gefängnis hingerichtet worden. Daher ist dieses Datum dem Gedenken an ihn gewidmet. Die neue Tafel wurde unter anderem von der Botschaft der russischen Föderation gesponsert.

In den Berichten aus Deutschland bleibt es bei den knappen Fakten. Aber in dem RIA-Bericht, das auf auf russischer Sprache erscheint, werden die Aussagen der Redner zitiert und kommen mir vor wie ein PR-Papier des Kreml. So sagt Generalleutnant a.D. Manfred Folland (Ko-Vorsitzender der Initiativgemeinschaft zum Schutz der sozialen Rechte ehemaliger Angehöriger der deutschen Volksarmee und der Grenztruppen der DDR) Dinge wie: Wir sollten aus der Geschichte lernen und unsere Kräfte vereinen, um gegen einen Krieg einzutreten. Und gemeinsam verhindern, dass ein Schüren (sorry, ich schreibe hier ein ins Russische zurückübersetzte Deutsch, weil ich ja leider nicht vor Ort war) des Krieges auf dem Hintergrund der Führungsansprüche der BRD geschieht, was mit dem erweiterten Einsatz der Bundeswehr im Ausland und der Ausweitung der NATO in den Osten, nah an die russischen Grenzen zusammenhängt. Das erfüllt die Menschen mit Angst und Sorge.

Manfred Folland (Folland – > Volland – Bulgakow lässt grüßen?) spricht noch mehr über die Verantwortung, die Deutschland gegenüber anderen Ländern hätte aus einer alten Schuld heraus. Ihm zufolge braucht unser Land Friedenspolitik und kein Säbelrasseln.

Und ein Fjodor Ladyrin, ein Oberst-General der GRU sagt auch noch, dass es schön ist, dass in Deutschland nationalsozialistische Propaganda gesetzlich verboten ist. Anders als in einigen Ländern, die an die Russische Föderation angrenzen. Wen er da wohl meint? Hat er die rechtsradikalen Gruppierungen im eigenen Land vollkommen vergessen?

Armer Sorge. Dass über diesen Kämpfer für die Gerechtigkeit gesprochen wird, ist mehr als opportun. Vor den Propaganda-Karren des Kreml gespannt zu werden, hat er jedoch nicht verdient. Ausgerechnet er, der Eigensinnige, der Freigeist, der Stalin nonchalant eine ablehnende Antwort schickte, als dieser ihn aus Japan heim nach Moskau befahl.

Wie dem auch sei, hoffentlich bleibt seine Plakette diesmal länger da hängen.

Immerhin ist ein User-Kommentar zu diesem Text bei RIS Novosti erfrischend offen. Ein gewisser Konstantin schreibt, dass er erst kürzlich Flugzeuge der Luftwaffe an der russischen Grenze gesichtet hätte: Schaut ihr Deutschen, wenn was passiert, werden wir die Großväter nicht beschämen. Den Weg nach Berlin kennen wir. (Вот только самолеты Люфтваффе опять у российских границ летают. Смотрите, немцы, если что, мы дедов не посрамим. Дорогу на Берлин знаем. )

Das ist mal eine friedliebende Ansage.

Spruch der Woche – Monokularsehen

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Кто старое вспомянет, тому глаз вон – Diesen russischen Spruch habe ich mit folgender Übersetzung gefunden: Wer Vergangenes aufrührt, dem sollte ein Auge ausgeschlagen werden.

Soviel zur Erinnerungskultur. Aber es gibt noch einen zweiten Teil dieser Pogoworka, dieses Sprichwortes und der lautet:

Кто старое помянет, тому глаз вон, а кто забудет тому оба.

Ich übersetze das lieber etwas ergebnosoffener mit:

Wer das Alte erinnert, dem das Auge futsch, und wer vergisst, dem beide!

In diesem Sinne, geh ich geh schon mal eine Augenklappe kaufen…wäre damit übrigens nicht in schlechter Gesellschaft, siehe unten.

James Joyce and his glorious eyepatch
James Joyce and his glorious eyepatch

Der angebrochene Tag

Heute hat ihr Traum dort aufgehört, wo er am spannendsten war. Bevor er ganz entschwindet, schmeckt Olga ihn noch einmal nach, holt die letzten Bilder hervor, versucht den Nebelschleier niederzureißen, um sich zu erinnern. Da war doch. Aber er greift nicht, der Traum, kommt nicht an gegen diese Mauer aus schwerer Schlacke, durch die sie durchwaten muss.

Halb fünf Uhr morgens, die Wolfsstunde ist eigentlich schon vorbei. Seit Tagen, seit Wochen ist das die übliche Zeit. Da wacht sie immer auf. Manchmal schafft sie es nach einer Stunde wieder einzuschlafen, doch oft wird das Kopfkino sofort wieder angeknipst und sie liegt da, bis zum Weckerklingeln und ihre Gedanken kreisen, ziehen sie herab in die Tiefe. Auch heute ist das Grundgefühl ein dunkles, als hätte sie etwas versäumt, etwas unerledigt gelassen, das aber wichtig wäre. Elementar. Und sie weiß nicht was. Sie kommt nicht drauf. Schuld, Schuld, Schuld, die sich einhämmert in ihren Kopf. Bis sie kaum noch atmen kann, ganz in sich zusammengezogen, verzogen vor lauter schlechtem Gefühl, falsch klingend. Stumm. Was hat sie unterlassen? Was verbrochen? Woher kommt diese Schuld?

Sie kann nicht vor und nicht zurück, wird von Stimmungen niedergedrückt, aufgespießt, wie ein Insekt, das von einem Universalgenie des achtzehnten Jahrhunderts zwecks Artbestimmung in einen kleinen Schaukasten gesteckt wird. Doch sie kann sich nicht unter die Lupe nehmen, kann ihre Angst und ihr feiges Lebensgefühl nicht anschauen, nichts analysieren. Jetzt nicht. Sie muss sich dieser Gefühlsschlacke entledigen, sie abstreifen, um aufzustehen, den Alltag zu mimen. Mit fahrigen Bewegungen durch die Küche wanken wie durch Sirup. Und wehe heute sagt jemand etwas Falsches. Alles ist zuviel, zuviel, zuviel. Der Geist ist noch befasst mit dem Tragen des Nachtalbs, der sich ihr in die Brust krallt. Und ihr die letzte Kraft aussaugt. Schuldig, schuldig, schuldig. Aber worin besteht ihre Schuld? Was hat sie unterlassen, was getan, dass diese Schwere sie so in Beschlag nimmt?

Neulich hat Olga geträumt, sie hätte im Zimmer Mehl verschüttet. Im Traum schnappt sie sich einen Besen und fegt es auf, versucht es, erreicht aber nur, dass es aufsteigt und sich überall verteilt, eine weiße Wolke, wie besessen fegt sie, kehrt den feinen Staub zusammen, die Leute kommen doch gleich, sie muss fertig sein. Aber anstatt dass der Boden sauber wird, verwischt sie alles nur. Immer noch Traum, ihre Mutter kommt zur Tür, sagt etwas auf Russisch, sie versteht nur das Wort „мука“ (muka) also Mehl. Mehl, was sonst. Als Olga aufwacht wird ihr bewusst, dass das Wort noch eine andere Bedeutung hat: „му́ка“, auf der ersten statt auf der letzten Silbe betont, heißt Leiden, Qual im Sinne von мучения (mutschenjia). Und мучить (mutschitj) bedeutet leiden, sich selber quälen oder andere. Die Syntax der Träume ist schon seltsam, und dass diese beiden in ihrem Traum ein Wortpaar bilden, einen fast eineiigen Zwilling; мукá – му́ка, unglaublich, geradezu freudianisch.

Was wollte die Mutter in ihrem Traum sagen? Hör auf, dich zu quälen? Feg die Qual einfach beiseite. Einfach aufhören damit. Das wärs. Wenn sie es schaffen könnte, ihre Aufmerksamkeit von den Dingen abzuziehen, die sie niederdrücken. Aber das ist eine Kunst. Und wer schon den Weg der Selbstzerfleischung eingeschlagen hat, kommt davon nicht so leicht los. Erkenne dich selbst, steht auf einer Stehle in Delphi eingraviert. Da steht nicht seit tausenden von Jahren, zermarter dein Hirn, finde raus, warum dich etwas fertig macht. Aber vielleicht muss sie erst durch Tonnen von Mehl-Qual waten, um zur Leichtigkeit zu gelangen, zu dem guten Leben? In ihrem Traum verschwimmt beides ineinander. Mehl – Qual. Sie quält sich. Oder sie kehrt das Leid zusammen wie verschüttetes Mehl. Das eigene oder das anderer Leute. Sie will den Raum von all der Qual befreien. Aber wie?

Halb fünf, wie immer. Tagesanbruch. Und was soll sie mit dem angebrochenen Tag anfangen? Nicht mehr heil und geheimnisvoll, nicht glänzend verpackt in Alufolie, sondern an der einen Ecke angebissen. So liegt sie wach und hat Angst, das Falsche zu tun. Stets das Falsche getan zu haben. Aber was wäre denn das Richtige? Nach drüben fahren in ein ihr unbekanntes Land, tausende von Kilometer entfernt und das Grab der Großmutter öffnen lassen? Nach der kleinen flachen Metallkiste suchen, die in der Erde versteckt ist. Die Großmutter vor ihrem Tod bestimmt, dass alles mit ihr begraben wird. Alle Fotos, die Briefe, die Erinnerung. Das war ihr letzter Wille. Wovor hatte sie so große Angst gehabt? Wollte sie nicht, dass bestimmte Dinge durchsickern, die der Familie schaden? Was würde sie finden in dem luftdicht verpackten Kasten? Fotos mit SS-Abzeichen am Hemd? Ein Brief aus dem Westen? Verhängnisvolle Klagen gegen die Sowjetregierung? Eine Schimpftirade gegen Stalin? Wohl kaum. Die Großmutter ahnte ja nicht, dass das alles einmal ungefährlich werden sollte, nur eine Gefahr für die Seele nicht für den Leib. Aber warum hat sie nicht alles einfach verbrannt? Wie der Großvater, der Jahre später, vor seiner Ausreise, alles vom Dachboden in den Garten hat bringen lassen und alles dem Feuer übergeben hat. Hefte, Zeichnungen, Bilder, Fotos. Vielleicht sogar noch verbliebene Dokumente. Und auch der Koffer musste dran glauben, der große Pappkoffer mit den Metallecken, mitgebracht aus dem großdeutschen Reich, ein Opfer der Flammen. Der Koffer. Als der Krieg vorbei war und die russische Armee vorrückte, haben Olgas Vater und sein achtjähriger Bruder Heiner beobachtet, wie das Volk die Geschäfte plündert. Alle sind in die Läden gerannt, um schnell noch das, was noch brauchbar war, an sich zu reißen. Der Mai 1945 war eine Zeit, als alle Gesetze außer Kraft gehoben waren. Auch in Dahme, dem kleinen Städtchen irgendwo im Osten der Republik, in dem sie kurze Monate verbracht haben. Und der kleine Georg und sein Bruder Heiner stürmen also ein Kleidergeschäft, schnappen sich einen Riesenkoffer und füllen ihn mit Hüten und Socken, mit Kleidern und Röcken, mit Hosen und Jacken. Mit diesen typischen Ledershorts, die in Russland niemand trug. Nur die Deutschen. Während der Vertreibung in den Osten, in den Ural und später in der sibirischen Sondersiedlung am Salzsee hat sie dieser Koffer, haben diese Klamotten sie gerettet, davor bewahrt, zu verhungern. Ein Filzhut mit Feder eingetauscht gegen ein Ei. Ein luftiges Sommerkleid gegen einen Leib Brot oder etwas Milch. Denn der Hunger ist jetzt, aber irgendwann wird die schlimme Zeit vorbeigehen und dann braucht man wieder was Schönes, was fürs Auge. Irgendwann wird das zivile Leben weitergehen. Damit der gestohlene Koffer ihnen nicht ihrerseits gestohlen wurde, schlief ihr Vater immer darauf, die ganze Reise hindurch. Er klammerte sich an dieses Stück Deutschland wie an sein Leben. Ein fünfjähriger Knirps schlafend auf einem Koffer. Sicher nicht viel länger als ein Meter lang – das Gepäckstück wie das Kind. In schweren Zeiten werden Kinder nicht sehr groß. Nur ihre Knie werden knubbelig und die Bäuche aufgedunsen.

Sollte sie wirklich noch diesen Monat nach Duschanbe fliegen? Und versuchen, an diese Metallkiste zu kommen? Oder bleibt sie für immer die Frau, die keine Fahrkarte kauft? Die nachts wach liegt und stumm leidet? Als ob eine kleine flache Kiste den Teufelskreis durchbrechen könnte. Lächerlich.

70 Jahre danach – Erinnerungskultur

In diesen Tagen sind sieben Jahrzehnte vergangen, seit die deutsche Wehrmacht kapituliert hat und damit die Schrecken des zweiten Weltkriegs offiziell vergangen sind. Es häufen sich die Beiträge und Meldungen, die Thementage und Gedenkreden im Radio, in den Zeitungen im Fernsehen. Die Gedenkmaschinerie ist angelaufen.

‚Es ist alles gesagt, oder?‘ fragt Oliver von Wrochem provokativ, einer der Leiter des Seminars Täter, Mitläufer, Zuschauer in der Familie, das ich im April diesen Jahres besucht habe.

‚Medial ist das Thema präsent‘, führt er weiter aus, ‚die Gedenkveranstaltungen sind ritualisiert. Aber es gibt immer noch eine mangelnde Auseinandersetzung in den Familien. Man sieht nicht genau hin.‘

Es gäbe zwar ein großes Wissen über die Verbrechen, aber es werde nicht mit der eigenen Familiengeschichte verbunden. Doch die Teilnehmer des Seminars wollen genau das. Hingucken, weil die vorherigen Generationen nicht hingucken konnten. Um zu überleben? Vielleicht.

Nun trafen sich die Nachkommen von möglichen und tatsächlichen Tätern und Mitläufern schon zum 14. Mal auf dem Gelände des ehemaligen KZs Neuengamme. Die Teilnehmerzahlen sind steigend. Diese Veranstaltung ist im Moment noch einmalig in ganz Deutschland und wird zwei Mal jährlich, im Frühjahr und im Herbst angeboten. Das nächste Mal Anfang Oktober.

Ich war im April dort, weil ich hoffe herauszufinden, was mein deutscher Großvater im Krieg (das heißt in der Zeit nachdem er aus der Ukraine nach Deutschland geholt wurde bis zu seiner Auslieferung durch die Alliierten und der Inhaftierung in einem sowjetischen Gefangenenlager), erlebt, gesehen und getan hat. Ich habe allerdings nicht viel Hoffnung, dass ich viel in den Archiven finden werde. Es gibtzwar einige Familienerzählungen, aber, so habe ich in diesem Seminar auch mitbekommen, auf die ist nicht immer Verlass.

Ich war auch dort, weil ich gehofft habe, zu lernen wie ich mit dem, was ich rausfinden könnte, umgehen kann. Es geht mir nicht um Schuld. Es ist eh die Frage, wie viel Handlungsspielraum die einzelnen Beteiligten in solchen diktatorischen Regimes hatten. Die Frage, so lerne ich in dem Vortrag von Dr. von Wrochem, ist nicht ob, sondern warum? Leider ist es sehr wahrscheinlich, dass ich keinerlei persönliche Aufzeichnungen finde, nichts, woraus ich schließen kann, wie mein Opa damals gedacht hat.

Nochmals.

Es geht nicht um Schuldzuweisung. Obwohl ich, seit ich halbwegs erwachsen bin, ein diffuses Gefühl von Schuld mit mir trage, das ich nicht näher einordnen kann. Vielleicht möchte ich dieses Gefühl, das sich wie ein Nebel über viele Jahre auf mich gelegt hat, näher beleuchten und ihm seinen Stachel nehmen. Aus der Distanz betrachten. Auflösen.

Hilfreich finde ich Sätze, die nach Begegnungen von Menschen aus Täterfamilien mit solchen, die von den Opfern abstammen, herausgearbeitet haben.

In Hamburg gibt es diesen speziellen Dialog wohl seit 2013, als auf dem hiesigen Kirchentag der Sohn eines Polizisten aus der NS-Zeit mit der Tochter einer KZ-Insassin zusammentrafen. Aber ich meine, es gibt solche ähnlichen Treffen auch weltweit.

Im Mai letzten Jahres wurden jedenfalls bei einer solchen Zusammenkunft in Neuengamme jedenfalls Ergebnissätze formuliert, die, wie ich finde die Frage nach Schuld oder Verantwortung bündig beantworten:

Die Kinder von Tätern und die Kinder von KZ-Häftlingen müssen mit den Folgen einer Vergangenheit umgehen, für die sie keine Verantwortung tragen.

Sie können und sollten gemeinsam handeln, damit die Verbrechen, die ihre Eltern verübt haben oder erleiden mussten, sich nicht wiederholen.

Seminare wie das im April und auch Veranstaltungen wie Forum Zukunft Erinnerung, das heute und morgen auf dem Gelände von Neuengamme stattfinden, ebnen den Weg zu einer verantwortungsvollen, persönlichen Erinnerungskultur jenseits der offiziellen Verkündigungen.

Klingt pathetisch. Sorry. Ich meine einfach, es tut gut, sich mit anderen in einem geschützten Raum mit Tabu-Themen zu befassen und auszutauschen. Ich habe viel gelernt an diesem Wochenende auch wenn ich noch immer nichts Konkretes zu meiner eigenen Spurensuche gefunden habe.

Ich habe versprochen, keinerlei Details aus den sehr persönlichen Gesprächen öffentlich zu machen. Das Thema ist sensibel. Ich weiß ehrlich gesagt auch nicht, wie ich in diesem blog, der ja auch öffentlich ist, mit meiner eigenen Geschichte umgehen kann. Wie viel gebe ich preis? Es gibt Scherben, die wehtun, ihre Kanten sind scharf.
Wir werden sehen.

Mehr Infos zu den Seminaren der Gedenkstätte Neuengamme hier und hier.

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